Im Dialog mit der Vergangenheit
Zu Ralph Vaughan Williams’ »Five Mystical Songs«. Von Anna Vogt
Entstehung des Werks: 1910/1911. Uraufführung: September 1911 beim Three Choirs Festival in Worcester unter der Leitung des Komponisten. Lebensdaten des Komponisten: * 12. Oktober 1872 in Down Ampney (England), † 26. August 1958 in London.
In England herrschte nach Henry Purcell lange Zeit eine kompositorische Flaute, zumindest was einheimische Komponisten anging. Denn mit Georg Friedrich Händel feierte ab 1711 ein Deutscher die größten Erfolge auf der Insel. Erst an der Wende zum 20. Jahrhundert erlebte England mit Edward Elgar, Gustav Holst und Ralph Vaughan Williams eine fulminante musikalische Renaissance und fand zu einer eigenen, opulenten Klangsprache, die auch international beachtet wurde. Vaughan Williams’ Five Mystical Songs entstanden in den Jahren 1910/1911 für das traditionsreiche Three Choirs Festival, nachdem dort seine Orchester-Fantasie Theme by Thomas Tallis begeistert aufgenommen worden war. Der Komponist selbst dirigierte die Uraufführung der fünf Lieder für Bariton, Chor und Orchester am 14. September 1911 beim Festival in Worcester.
Der Liederzyklus basiert auf geistlichen Gedichten aus George Herberts Sammlung The Temple – Sacred Poems, die der anglikanische Priester und Poet in seinem Todesjahr 1633 veröffentlicht hatte. Herbert stammte aus einer musikalischen Familie und lernte früh, Laute und Violine zu spielen. Die Liebe zur Musik begleitete ihn sein Leben lang, auch als er – nach einem Studium in Cambridge – längst im Kirchendienst stand. Vaughan Williams war der feste Glaube, wie Herbert ihn verkörperte, zwar fremd, doch dessen subtile und kunstvolle Poetik inspirierte ihn. Dass er den Titel Sacred Poems für seinen Liederzyklus in Mystical Songs änderte, macht deutlich, dass es Vaughan Williams in seinen Vertonungen eher um eine mystische als eine geistliche Erfahrung ging (zu Vaughan Williams’ ambivalentem Verhältnis zur Religion siehe unten). Zeit seines Lebens war der Komponist fasziniert von alten englischen Volksliedern und weit zurückliegenden Epochen wie der Renaissance, und beides floss auch hörbar in seine Werke ein. In seinen »mystischen Liedern« setzte er auf Einfachheit und Erhabenheit und rückte sie immer wieder mit ungewöhnlichen Ganzton-Skalen, die an alte Kirchentonarten erinnern, in die Nähe von liturgischem Gesang. Diese Erkundung der Vergangenheit verband er mit einem spätromantischen Orchesterklang und einer flexibel erweiterten Tonalität.
Während die ersten vier der Mystical Songs sich eher introvertiert als persönliche Meditationen des solistischen Baritons entspinnen, ist die abschließende Antiphon eine Hymne des Chors. Im ersten Lied, einem Lobgesang auf den Herrn, dient die Musik als Sinnbild für die freudige Glaubensgewissheit des lyrischen Ichs an Ostern. Indem Herbert die Musik hier als »sweet art« in Analogie zu Jesus bringt, betont er auch deren faszinierende Qualität, zur Vermittlerin von Botschaften und Emotionen zu werden: Denn die Musik, verkörpert durch die Laute, vermag die Gefühle aus dem Innersten des Herzens nach außen zu tragen. Zugleich fungieren die aufgespannten Saiten der Laute in Herberts Gedicht auch als Metapher für Christus, wie er am Kreuze leidet. Vaughan Williams erzählt diese Ambivalenz der Gefühle in Form eines Musikschauspiels, das mit einfachen, aber präzise kalkulierten Mitteln den Worten durch die Musik zu einer neuen, sinnlichen, höheren Essenz verhilft: Jeder Taktart- und jeder Tonartwechsel – etwa in der ersten Strophe zum Tode Jesu – interpretiert den Gehalt der Worte, jedes Melisma ist bewusst platziert, um besonders Bedeutsames ins Rampenlicht zu rücken. Der Chor wiederholt sanft die wichtigsten Botschaften der Solostimme wie ein Echo.
Auch die folgenden Lieder sind dieser feinen Verschmelzungskunst verpflichtet. In I got me flowers wird in drei liedhaften Strophen mit sehr regelmäßigen Versen vom Palmsonntag erzählt, wenn die Menschen in Jerusalem in freudiger Erwartung der Ankunft Jesu den Weg mit Blumen und Zweigen schmücken. Die Sonne und das Licht, die in Herberts Gedicht heraufbeschworen werden, sind nicht nur Sinnbild für den Frühling mit seiner lebensspendenden Kraft, sondern zugleich auch Metapher für die Auferstehung Jesu Christi und die damit verbundene Heilsbotschaft. Vaughan Williams bricht die regelmäßige Architektur der Strophen durch Melismen und Tonartwechsel immer wieder auf und malt mit feinem, impressionistischem Strich die hoffnungsvolle Stimmung an diesem besonderen Tag: mit mal ruhig fließenden, dann wieder wellenartig aufschäumenden Begleitmustern und weichen Klängen wie denen der Harfe. Gut möglich, dass sich hier die Erfahrungen mit der Musik der französischen Impressionisten spiegeln, hatte Vaughan Williams doch wenige Jahre vor der Komposition im Jahr 1908 drei Monate bei Maurice Ravel studiert.
Über den genauen Inhalt des dritten Liedes, Love bade me welcome, lässt sich lange philosophieren. Hier scheinen zum einen inhaltliche Bezüge zur Feier der Eucharistie zu bestehen, doch viel grundsätzlicher ist Herberts Gedicht als eine Parabel auf das Ringen um den Glauben zu verstehen, als eine Konversionserzählung. Ein Dialog entspinnt sich zwischen der Liebe, die zu einem Essen lädt und sich bald als Jesus zu erkennen gibt, und einem Menschen, der sich dieser Einladung, des Zugangs letztlich zum himmlischen Königreich, unwürdig fühlt. So begleitet dieses Lied einen Weg hin zum Glauben, der spätestens dann vollendet scheint, wenn der Chor gegen Ende eine textlose Choralmelodie zum traditionsreichen Antiphon O sacrum convivium über das Geheimnis der Eucharistie anstimmt.
Auch im vierten Lied, The call, wird die ruhige Innenschau beibehalten, die durch eine dunkel gefärbte, zwischen Dur und Moll changierende Tonalität besonderen Ernst erhält. Dieser Song mutet wie ein kunstvolles Gebet an, mit dem der Herr in vielerlei Gestalt in das Leben eingeladen wird: etwa als Wahrheit, Stärke, Liebe. Auch hier lässt Vaughan Williams Schlüsselwörter mit besonderen melodischen Einfällen herausstechen, und obwohl die Musik formal der strengen Form des Gebets folgt, sorgt der Komponist mit kleinen Variationen, etwa in der Ausgestaltung der Begleitstimmen, dafür, dass das Stück stets in Bewegung bleibt.
In der abschließenden Antiphon, mit der Vaughan Williams auf einen traditionellen Wechselgesang im Gottesdienst Bezug nimmt, kommt der Chor als selbstbewusstes Kollektiv zum Einsatz. Nach einigen einleitenden glockenartigen Klängen darf auch das Orchester mit prunkvollen Blechbläser-Klängen und bewegten Tutti-Passagen seine Zurückhaltung der vorangegangenen Lieder aufgeben. So überwältigt dieses letzte Lied mit seiner musikalischen Kraft und ist ein triumphaler Abschluss der Five Mystical Songs.