Veni creator spiritus
Konzerteinführung: 19.00 Uhr
mit Richard van Schoor und Michael Hofstetter
Moderation: Julia Schölzel
Programm
Vorspiele, Überleitungen und Zwischenspiele in der Art von liturgischen Intonationen sowie von Richard van Schoor (keine Pause)
Chor-Soli
Simona Brüninghaus, Theresa Blank, Q-Won Han, Christof Hartkopf
Favorit-Chor I
Simona Brüninghaus, Merit Ostermann, Nikolaus Pfannkuch, Andreas Burkhart
Favorit-Chor II
Roswitha Schmelzl-Baur, Veronika Sammer, Moon Yung Oh, Timo Janzen
für Instrumentalensemble eingerichtet von Thomas Leininger
Favorit-Chor I
Diana Fischer, Jutta Neumann, Bernhard Schneider, Nikolaus Pfannkuch, Matthias Ettmayr
Favorit-Chor II
Masako Goda, Veronika Sammer, Moon Yung Oh, Andreas Hirtreiter, Benedikt Weiß
Sopran-Soli
Diana Fischer, Masako Goda
Uraufführung, Kompositionsauftrag des Chores des Bayerischen Rundfunks
Uraufführung, Kompositionsauftrag des Chores des Bayerischen Rundfunks
Lorenz Fehenberger, Wolfgang Klose
Mitwirkende
»Komm herab, heiliger Geist« – die Worte des christlichen Pfingsthymnus verweisen auf Traditionen der kulturellen und sprachlichen Vielfalt. Auch in den mehrchörigen Werken des Programms herrscht Vielstimmigkeit, von Dirigent Michael Hofstetter mehrdimensional in den Raum inszeniert. Das Thema »Heiliger Geist« in unsere Zeit weitergedacht hat der südafrikanische Komponist Richard van Schoor in seiner neuen Motette The World Is Wept auf Verse von Bischof Desmond Tutu. Sie verdeutlichen, dass »durch gegenseitige Vergebung ein heilender Geist wirksam ist«. Außerdem entstehen musikalische Verbindungen unter den Chorwerken von Lasso, Gabrieli, Schütz und Praetorius, die den Bogen spannen bis zu einem schließenden Zitat von Nelson Mandela.
Erstmals beim BR-Chor: der Dirigent Michael Hofstetter, der sich durch zahlreiche Aufnahmen und Produktionen in historischer Aufführungspraxis einen Namen gemacht hat.
Gesangstexte
Die Interpreten
Orlando di Lasso
* 1532 in Mons (Hennegau, heute: Belgien)
† 14. Juni 1594 in München
Veni creator spiritus
Motette zu sechs Stimmen, LV 337
Druck: »Selectissimae cantiones«, Nürnberg 1568
Widmung: Georg Friedrich I., Markgraf von Brandenburg-Ansbach
Michael Praetorius
* 1571 oder 1572 in Creuzburg bei Eisenach
† 15. Februar 1621 in Wolfenbüttel
Nun bitten wir den Heiligen Geist
für zwei vierstimmige Chöre
Aus tiefer Not schrei ich zu dir
für zwei vierstimmige Chöre
Druck: »Musae Sioniae I«, Regensburg 1605
Widmung: Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg
Giovanni Gabrieli
* 1554 oder 1557 in Venedig
† 12. August 1612 in Venedig
Hodie completi sunt
für zwei vierstimmige Chöre
Druck: »Symphoniae sacrae II«, Venedig 1615
Widmung: Johannes Merck, Abt des Benediktinerklosters St. Ulrich und Afra in Augsburg
Heinrich Schütz
* 8. Oktober 1585 in Köstritz
† 6. November 1672 in Dresden
Also hat Gott die Welt geliebt
Motette zu fünf Stimmen, SWV 380
Verleih uns Frieden
Motette zu fünf Stimmen, SWV 372
Druck: »Geistliche Chor-Music«, Dresden 1648
Widmung: Bürgermeister und Rat der Stadt Leipzig
Erlesenste Gesangsstücke
Geistliche Chormusik aus Renaissance und Frühbarock
Von Barbara Eichner
Die sechsstimmige Motette Veni creator spiritus von Orlando di Lasso erschien 1568 in den Selectissimae cantiones (»Erlesenste Gesangsstücke«) beim Nürnberger Drucker Theodor Gerlach. Die umfangreiche Sammlung von 96 Motetten machte sowohl neu komponierte wie bereits in Italien und Frankreich gedruckte Werke zum ersten Mal einem deutschen Publikum zugänglich. Seit Lasso 1556 seine Stelle am bayerischen Herzogshof angetreten hatte, war er als Komponist rastlos tätig gewesen: Zwischen 1556 und 1568 entstanden 150 Motetten, dazu zahlreiche Chansons, Madrigale und Lieder für den internationalen Musikmarkt, Magnificats für den gottesdienstlichen Gebrauch sowie die Zyklen der Prophetiae Sibyllarum und der Bußpsalmen für die herzogliche Privatkapelle. Auch bei den Hochzeitsfeierlichkeiten für Herzog Wilhelm V. und Renata von Lothringen, die sich im Februar 1568 über achtzehn Tage erstreckten, war Lasso als Komponist, Dirigent und sogar als Schauspieler in einer italienischen Stegreifkomödie gefragt.
In diese Zeit fallen auch mehrere großformatige Hymnenkompositionen. Der Text »Veni creator spiritus« stammt möglicherweise von Rabanus Maurus aus dem 9. Jahrhundert und ruft den Beistand des Heiligen Geistes an, weswegen er nicht nur im Vespergottesdienst, sondern auch bei Synoden und Reichstagen, Wahlen von Äbten und Äbtissinnen oder bei Bischofsweihen gesungen wurde. Für praktische liturgische Zwecke wechselte allerdings der Vortrag meist von Strophe zu Strophe zwischen einstimmigem Choral und mehrstimmigem Gesang. Lasso vertont dagegen den gesamten Text, gliedert die Motette aber in drei Teile: Die ersten beiden Strophen werden vom sechsstimmigen Chor vorgetragen, der mit verdoppelten Alt- und Bassstimmen relativ tief besetzt ist. In der dritten und vierten Strophe reduziert Lasso das Ensemble auf die vier hohen Stimmen, während die letzten drei Strophen zur Vollstimmigkeit zurückkehren. Lasso bildet dabei aus den sechs Stimmen immer neue Gruppierungen und erzielt so doppelchörige Effekte, besonders im ersten Teil, der gleich mit der Gegenüberstellung von Hoch- und Tiefchor beginnt. Die bei Lasso sonst so beliebten Tonmalereien fehlen weitgehend, ausgenommen den Wechsel zu einem beschwingten Dreiertakt bei der Anrufung der Dreifaltigkeit in der letzten Strophe (»Gloria Patri Domino«). Insgesamt dominiert eine festliche Stimmung durch die Verankerung in einer heiteren G-Dur-Klanglichkeit, zu der fast jede Textzeile an ihrem Ende zurückkehrt.
Michael Praetorius wirkte seit 1594 als Organist am Hof des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel; 1604 wurde er dort zum herzoglichen Hofkapellmeister ernannt und begann im folgenden Jahr, seine Kompositionen in der Reihe Musae Sioniae herauszugeben. Der Titel des ersten Bandes verspricht, »dass die Geistlichen Concert Gesänge […] zugleich auff der Orgel und Chor, mit lebendiger Stimm und allerhand Instrumenten in der Kirchen zu gebrauchen« seien. Wie die Vokal- und Instrumentalstimmen besonders effektiv eingesetzt werden konnten, erklärte Praetorius im dritten Band seines theoretischen Kompendiums Syntagma musicum, das einen Überblick der seinerzeit gebräuchlichen musikalischen Gattungen bietet und Tipps zur Ausführung bereitstellt. Schon das Titelblatt der Musae Sioniae demonstriert die Mannigfaltigkeit frühbarocker Aufführungspraxis: Im oberen Teil der Abbildung musizieren die himmlischen Heerscharen; in der weltlichen Sphäre steht auf zwei Emporen links und rechts jeweils ein Sänger mit einem Streicher- bzw. Zinken-Ensemble, und unten gruppieren sich Posaunisten und ein Dirigent um eine Orgel. Die unter Herzog Heinrich Julius begonnene Marienkirche in Wolfenbüttel weist genau solche Emporen auf, wurde allerdings erst nach Praetorius’ Tod 1624 fertiggestellt; immerhin konnte er noch die großzügig dimensionierte Orgel konzipieren. Für die vokal-instrumentale Ausführung seines doppelchörigen Werks Nun bitten wir den Heiligen Geist sind also der Fantasie keine Grenzen gesetzt, und besonders die raschen Echo-Effekte zwischen den Chören, etwa bei den Wiederholungen von »nun bitten wir« oder »aus diesem Elende«, beleben den Klangraum. Wie so viele protestantische Lieder greift Nun bitten wir tief in die Tradition zurück: Die erste Strophe ist bereits im 13. Jahrhundert belegt und wird wegen ihres Abschlusses mit »Kyrieleis« auch als »Leise« bezeichnet. Martin Luther dichtete noch drei Strophen hinzu, und in dieser Gestalt gehörte das Lied ab 1524 zum Kernbestand lutherischer Gottesdienste.
Giovanni Gabrieli hatte als junger Mann einige Jahre am Hof Albrechts V. in München verbracht und dort die Bekanntschaft Orlando di Lassos gemacht. Nach dem Tod des Herzogs kehrte er nach Italien zurück, wurde 1584 Organist an San Marco in Venedig, und ein Jahr später auch an der Scuola Grande di San Rocco (einer nach dem Pestheiligen benannten Laienbruderschaft) angestellt. Nun förderte er seinerseits junge Komponisten, die aus dem Norden nach Italien kamen, darunter auch den jungen Heinrich Schütz oder Gregor Aichinger. Nördlich der Alpen wurden seine Werke besonders geschätzt, wovon auch die Widmung des zweiten Bandes der Symphoniae sacrae von 1615 zeugt, die Gabrielis Kollege Alvise Grani posthum dem Abt des Benediktinerklosters St. Ulrich und Afra in Augsburg zueignete. Der Druck versammelt Kompositionen mit sechs bis neunzehn Stimmen, die bei den Hauptfesten des Kirchenjahres zum Einsatz kommen können, darunter auch die doppelchörige Motette Hodie completi sunt, die den Text der Magnificat-Antiphon zum Pfingstfest vertont. Die gleich besetzten Vokalchöre werden von einem »Basso per l’organo« unterstützt, welcher der jeweils tiefsten Stimme des Vokalsatzes folgt und so die Kontinuität bei den schnellen Wechseln von Chor zu Chor garantiert, etwa bei »completi sunt« oder bei »discipulis«. Im Gegensatz zu Praetorius’ stetig durchgehaltenem Metrum wechselt Gabrieli beständig die Taktart, vom feierlich-langsam vorgetragenen Eröffnungswort »Hodie« zum tänzerischen Dreiertakt bei »completi sunt« und zurück zum Vierertakt bei »dies pentecostes«. Der erste Teil wird von »Alleluja«-Rufen abgeschlossen, die auch am Ende zurückkehren und eine formale Klammer stiften, bevor eine Coda aus schnell bewegten Alleluias über einem Orgelpunkt das Stück ausklingen lässt. Dass Gabrieli mit neuen stilistischen Entwicklungen vertraut war, zeigen die ausgeschriebenen Verzierungen für die Singstimmen, die Lassos Sänger vielleicht noch improvisiert hätten: Die schnellen Wechselnoten bei »charismatum« versinnbildlichen das Wehen des Heiligen Geistes, und das vokale Flackern bei »in igne« die pfingstlichen Feuerzungen.
Heinrich Schütz war bereits sechzig Jahre alt, als er 1645 vom dänischen Königshof nach Dresden zurückkehrte und um Versetzung in den Ruhestand bat, was ihm aber nur teilweise gewährt wurde. Die nächsten Jahre verbrachte er damit, sein Lebenswerk zu sichten und die Herausgabe zahlreicher Werke im Druck vorzubereiten, darunter den zweiten und dritten Teil der Symphoniae sacrae (1647 und 1650), und dazwischen, 1648, die Musicalia ad Chorum Sacrum, Das ist: Geistliche Chor-Music. Während die Symphoniae sacrae im modernen konzertanten Stil, das heißt, mit eigenständigen Instrumentalstimmen und Vokalsolisten gehalten sind, griff Schütz für die Geistliche Chormusik auf die traditionelle Kontrapunkttechnik zurück. Damit verfolgte er, wie er im Vorwort darlegte, eine pädagogische Absicht: Zwar habe sich der moderne Stil mit Basso continuo auch in Deutschland weit verbreitet, aber er rate jedem »angehenden Deutschen Componisten […] das, ehe Sie zu dem concertirenden Style schreitten, Sie vorher diese harte Nuß (als worinnen der rechte Kern, und das rechte Fundament eines guten Contrapuncts zusuchen ist) aufbeissen, und darinnen ihre erste Proba ablegen möchten«. Schütz verweist darauf, dass auch er als junger Musiker »in Italien, als auff der rechten Musicalischen hohen Schule«, zunächst die regelrechte kontrapunktische Ausarbeitung ohne stützende Bassstimme gelernt hatte.
Der Text von Also hat Gott die Welt geliebt, des letzten fünfstimmigen Werkes innerhalb der Geistlichen Chormusik, hat kein Kirchenlied, sondern ein Zitat aus dem Johannes-Evangelium in Martin Luthers Übersetzung zur Vorlage. Schütz hat dem Stück noch die Bezeichnung »Aria« hinzugefügt – möglicherweise, weil es aus zwei in sich wiederholten Teilen zusammengesetzt ist, und weil die Oberstimme hier deutlich die Führung übernimmt. Wie in Gabrielis Hodie completi sunt wird das erste Wort »Also« betont langsam und feierlich vorgetragen. Damit kontrastieren die schnelle Wiederholung »alle, alle, alle« und die schwingenden, aufsteigenden Sequenzen im Dreiertakt bei »sondern das ewige Leben haben«. Erst die letzte Wiederholung wechselt zurück in den geraden Takt und bringt das Stück zu einem beruhigten Abschluss.
Der italienische Einfluss in Verleih uns Frieden ist besonders deutlich bei »der für uns könnte streiten« mit seinen schnellen Tonrepetitionen zu erkennen. Dieser »kämpferische« oder »aufgeregte« Stil (»stile concitato«) ist allerdings weder traditionell noch geistlich, sondern wurde von Claudio Monteverdi in seinem achten Madrigalbuch beschrieben und unter anderem für die Kampfszene zwischen Tancredi und Clorinda eingesetzt.
Im Vorwort zum ersten Band der Musae Sioniae hatte Michael Praetorius versprochen, er habe »über die fürnembsten Gesäng und Psalmen Herrn Lutheri und anderer, wie die in den Kirchen gesungen, mit acht Stimmen zu componiren angefangen und die Melodey derselben so vil müglich der gestalt in acht genommen, daß die Zuhörer nicht allein die Orgel und andere Instrument, sondern auch den Text selbst hören, mit singen und ihre Andacht darbey haben können«. Die gesangstüchtigen protestantischen Gemeinden, an die sich Praetorius’ Bearbeitungen von Kirchenliedern und Psalmen vor allem wandten, konnten sicherlich die beliebten Melodien erkennen und ihnen mit Andacht folgen. Doch dass sie selbst mitgesungen hätten, ist angesichts der kleinteiligen Wiederholungen von Text- und Melodiebausteinen doch eher unwahrscheinlich. Nun bitten wir den Heiligen Geist ist von der Choralmelodie inspiriert, die ihrerseits auf die Pfingstsequenz Veni sancte spiritus zurückgeht, aber lediglich bei der Zeile »Um den rechten Glauben allermeist« schwebt die Melodie – wie die Taube des Heiligen Geistes – in langen Notenwerten aus der Höhe herab. Der doppelchörige Satz von Aus tiefer Not schrei ich zu dir hält sich dagegen enger an die von Martin Luther selbst geschaffene Melodie zu seiner Nachdichtung von Psalm 130. Praetorius beginnt mit dem unverwechselbaren Quintfall, der das Wort »tief« illustriert, und in der Folge verwendet er die Gesangbuchmelodie Zeile für Zeile als musikalisches Material für fugierte Einsätze oder doppelchörige Kontrastwirkungen. Die traditionelle Cantus-firmus-Technik setzt er wiederum nur sparsam ein, etwa bei »dein gnädig’ Ohr neig her zu mir«, wo sie im zweiten Bass liegt. Ansonsten herrscht ein eifriger Wechsel zwischen den beiden Chorhälften vor, die aber nicht nur für die vielfarbige Klangwirkung, sondern auch zur Textausdeutung eingesetzt werden kann, wenn beispielsweise die dringliche Bitte »Herr, Gott, / erhör / mein Rufen« nach und nach von den verschiedenen Gruppen zusammengesetzt wird.
Bayern und Italien
Gregor Aichinger, der Motettenkomponist, und die Orgeltabulatur
Der in Regensburg geborene Komponist Gregor Aichinger (1564–1628) war Schüler von Orlando di Lasso in München, bevor er 1578 an die Universität Ingolstadt ging und dort über den Studienkollegen Jakob Fugger mit der bedeutenden Kaufmannsfamilie in Kontakt kam – ein Kontakt, der Aichingers Lebensweg prägen sollte. So wurde er 1584 Organist an der Augsburger Ulrich-und-Afra-Kirche sowie Hauskomponist und Leiter der Kammermusik von Jakob III. Fugger, der ihm später Italienreisen und Lehraufenthalte bei Giovanni Gabrieli in Venedig ermöglichte.
Gregor Aichingers Motette Gaudeamus et exultemus aus dem 1597 in Nürnberg erschienenen Druck Sacrae cantiones scheint zumindest in Kollegenkreisen weithin Eindruck gemacht zu haben, was sich daraus ableiten lässt, dass von ihr eine Bearbeitung für Orgel existiert. Es kommt einem »Ritterschlag« gleich, wenn Aichingers Motette 1607 in der großen Orgeltabulatur-Sammlung des Straßburger Organisten Bernhard Schmid d.J. (1567–1625) erscheint und dort neben Werken vieler bedeutender Komponisten der Epoche Platz findet, darunter Merulo, Haßler, beide Gabrielis, Rore, Striggio, Marenzio oder Vecchi. Die für heutige Ohren interessante »Zutat« aus den Händen Schmids liegt in der Art der »Diminution«, die einen Einblick in die Verzierungstechnik der Zeit bietet – eine typische Herangehensweise bei der Übertragung von Vokalmusik auf das Instrument der Orgel.
Richard van Schoor
* 1961 in Kapstadt
The World Is Wept
für gemischten Chor a cappella
sowie ausgewählte instrumentale Übergänge zwischen den einzelnen Chorwerken des Programms und ein musikalisch unterlegtes Mandela-Zitat
Entstehungszeit: Kompositionsauftrag des Chores des Bayerischen Rundfunks, im April 2024 vollendet
Uraufführung: 15. Juni 2024 im Münchner Herkulessaal mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Michael Hofstetter
Heilung durch Vergebung
Zu Richard van Schoors The World Is Wept
Von Florian Heurich
Häufig geht es bei ihm um ein Zusammenspiel zwischen Geschichte und Aktualität, sowohl musikalisch als auch gesellschaftlich. Dabei folgt der südafrikanische und in München lebende Komponist Richard van Schoor den Spuren von aktuellen Themen zurück in die Menschheitsgeschichte. Oder umgekehrt, er erforscht, wie die Historie die heutige Gesellschaft prägt. Zudem stellt er Bezüge zwischen unterschiedlichen Klangsprachen her, die sich über die Jahrhunderte entwickelt haben. In diesem Sinne schafft Richard van Schoor mit zeitgenössischen kompositorischen Mitteln Verbindungen zwischen den Werken von Orlando di Lasso, Michael Praetorius, Giovanni Gabrieli und Heinrich Schütz. Er spannt den Bogen von Renaissance und Frühbarock bis ins Heute. Dabei greift er das alte Instrumentarium, bestehend aus Laute, Theorbe, Cembalo, Orgel und Violone, auf und erzeugt damit eine immer moderner werdende Klanglandschaft, um ein Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. »Die Ästhetik ändert sich, aber die Sprache bleibt gleich«, sagt er.
Ein Thema, das alle Werke verbindet, sei die Heilung der Menschheit, und Richard van Schoor fügt als Botschaft, die über dem gesamten Konzertprogramm stehen könnte, hinzu: »Es gibt keine Zukunft ohne Vergebung.« Damit bezieht er sich auf ein Gedicht des südafrikanischen Bischofs Desmond Tutu (1931–2021), das die Textgrundlage seines A-cappella-Chorwerks The World Is Wept bildet. »Der Titel bedeutet nicht einfach, dass die Welt weint«, so Schoor. Man müsse ihn vielmehr so verstehen, dass die Welt »ausgeweint« sei, von Tränen durchnässt. In dieses Stück mündet das Konzertprogramm quasi als Quintessenz all dessen, was die Komponisten der Vergangenheit in ihren Werken über den zu Pfingsten herabkommenden Heiligen Geist bereits in Töne gesetzt haben, und was heute relevanter ist denn je, nämlich dass eine Heilung der Menschheit möglich ist, jedoch nur, indem man begangene Fehler vergibt.
In vielen seiner Werke, die von Kammermusik bis zur Oper reichen, beschäftigt sich Schoor mit Zeitgeschichte und Menschenrechten. Er stellt Verbindungslinien zwischen früher und heute her, um aufzuzeigen, dass die Mechanismen immer die gleichen sind. So zieht er etwa in Oratorio (2012) Parallelen zwischen der Passion Christi und dem Leid von Flüchtlingen und Opfern politisch-religiöser Verfolgung. In Kenge – hitotsu no kotae (2014) geht es um Vergänglichkeit und Erlösung in einer Auseinandersetzung mit Mozarts Requiem, die Oper Alp Arslan (2019) trägt den Untertitel Ein Requiem für Aleppo, der für sich spricht, und das Musiktheaterwerk L’Européenne (2020) verhandelt Themen wie Migration, Rassismus und (Neo-)Kolonialismus als eine Art Gegenentwurf zu Meyerbeers L’Africaine. Derartige Stoffe habe er nicht absichtlich gesucht, so Schoor, sie seien eher zufällig auf ihn zugekommen. »Aber sie haben natürlich in mir etwas ausgelöst und sind auf fruchtbaren Boden gefallen.«
Richard van Schoor stammt aus Kapstadt, seine Musikerlaufbahn begann als Pianist, er arbeitete als Dirigent und Chorleiter, und seit geraumer Zeit steht das Komponieren im Zentrum seines Schaffens. Er ist als Weißer in Südafrika aufgewachsen, in einer privilegierten Situation, wie er sagt. Wenn er Themen wie Apartheid, Diskriminierung und Rassentrennung aufgreift, dann tue er dies aus der Perspektive eines Beobachtenden, der jedoch von den Geschehnissen emotional stark betroffen sei, und müsse deshalb sehr sensibel damit umgehen. »Es ist schwer, die Geschichte von anderen zu erzählen. Ich kann die Dinge nur nachfühlen, habe sie aber nicht selbst erlebt.« So bekommen für ihn die Worte des Geistlichen Desmond Tutu vor allem eine globale Bedeutung. Tutu hat das Gedicht The World Is Wept geschrieben, als er Vorsitzender der Wahrheitskommission war, die die politisch motivierten Verbrechen während der Apartheid aufarbeitete. Diese Verbrechen haben bis heute bei den Menschen in Südafrika tiefe Spuren hinterlassen. Die Kommission war fest in der Überzeugung verwurzelt, dass die Beziehungen untereinander für das menschliche Dasein von großer Wichtigkeit sind. Tutu erklärt, dass Versöhnung ein schwieriger, aber trotzdem der einzige Weg sei – auf politischer ebenso wie auf persönlicher Ebene. Er gibt inspirierende Ratschläge, wie man dieses Prinzip in einer besseren, menschlicheren Zukunft umsetzen kann.
All das, was Tutu hier auf Südafrika bezieht, erhalte im Kontext der Renaissance-Motetten einen überzeitlichen und überregionalen Sinn, so Schoor: »Wir brauchen alle Heilung, die ganze heutige Welt muss gerettet werden.« Somit bekommen die Worte des christlichen Pfingsthymnus »Veni creator spiritus« (»Komm, Heiliger Geist«), die etwa Orlando di Lassos Gesang zugrunde liegen, am Ende eine ganz konkrete Bedeutung, indem der heilige zum heilenden Geist wird. »Damit möchten wir einen aktuellen Bezug zu Pfingsten herstellen.« Und wenn Schoor an den Schluss seiner Komposition und des ganzen Programms ein kurzes gesprochenes Zitat von Nelson Mandela stellt, dann will er sein Werk auch überkonfessionell und nicht notwendigerweise religiös verstanden wissen: »Glaubst du an Gott?« – »Ich glaube an den Mann und die Frau, von Gott erschaffen.« Der Ausspruch wurde Schoor von dem befreundeten Abt Cristoforo Zielinski, der seinerzeit dem Kloster San Miniato al Monte in Florenz vorstand, übermittelt. Zielinski hatte Mandela die Frage nach dem Glauben an Gott gestellt. Dass es in Mandelas Worten um den Glauben an den Menschen geht, der zum Guten fähig ist, sei wichtiger als eine bestimmte religiöse Zugehörigkeit, findet Schoor.
Richard van Schoors Chorwerk The World Is Wept steht in der Tradition der Motette. »Die Gattung der Motette mit ihren mittelalterlichen Wurzeln gibt jedoch viel Raum zur Interpretation und muss nicht unbedingt einen religiösen Inhalt haben.« Nachdem man im Verlauf des Konzertprogramms die historische Entwicklung dieser Gattung miterlebt habe, könne man nun in einem zeitgenössischen Werk diese Gesangsform ganz anders erleben. Das Chorstück hat über weite Strecken einen deklamatorischen Charakter, jedoch bezieht er auch den polyphonen Stil der Motetten aus der Renaissance mit ein. »Im Sinne eines ›recitar cantando‹ handelt es sich aber um einen hoch emotionalen Gesang.« Weil Tutus Verse ein derart ernstes Thema mit eindringlichen Worten behandeln – die Heilung der Wunden der Vergangenheit durch gegenseitiges Vergeben –, war es für Schoor wichtig, dass der Text ohne Instrumentalbegleitung gesungen wird. »Im Gegensatz zu den vorangegangenen Stücken muss der Gesang hier ganz nackt erscheinen.« Den bewegenden Worten, die einerseits mahnen, andererseits aber vor allem Hoffnung spenden, soll aller Raum gegeben werden. Schoor setzt sie ganz bildhaft in Töne, etwa durch sich ins Helle wendende Harmonien, durch Flüsterklänge oder durch eine an ein afrikanisches Wiegenlied erinnernde zarte Melodie. Außerdem greift der Komponist auf die Tradition des Chorgesangs seiner südafrikanischen Heimat zurück. Das gemeinsame Singen hat in der Musikkultur dieses Landes einen großen Stellenwert und bietet die Möglichkeit, Menschen zu vereinen und soziale Grenzen zu durchbrechen. Dieser Gedanke schwingt auch in The World Is Wept mit.
Damit erscheint dieses Werk als Endpunkt eines musikhistorischen Bogens von Renaissance und Frühbarock zur Moderne, vor allem aber erscheint es als finales Ausrufezeichen eines Konzertprogramms, das seinen Ausgang in der christlichen Pfingstthematik hat und sich hin entwickelt zu einer allgemein menschlichen Aussage. »Until the ghosts can dance unshackled, until our lives can know your sorrows and be healed« (»Bis die Geister ungefesselt tanzen können, bis unser Leben eure Sorgen kennt und geheilt werden kann«) – die letzten vom Chor gesungenen Worte beinhalten beides: das Akzeptieren vorausgegangenen Unrechts und zugleich die positive Vision einer besseren Zukunft.