Charakterstudien aus dem All
Zu Gustav Holsts The Planets. Von Christian Thomas Leitmeir
Entstehungszeit: 1914–1917. Uraufführung: 29. September 1918 in der Queen’s Hall in London unter der Leitung von Adrian Boult in einer halbprivaten Aufführung; 15. November 1920 mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Albert Coates in der ersten öffentlichen Aufführung. Lebensdaten des Komponisten: 21. September 1874 in Cheltenham – 25. Mai 1934 in London
Zu allen Zeiten blickten die Menschen in den gestirnten Himmel, um Sinn und Stellenwert ihres irdischen Daseins zu ermessen. Die Ordnung des Kosmos wurde seit der Antike, angeregt durch Pythagoras und ausgearbeitet in Platons Timaios, zudem als eine tönende wahrgenommen. Demnach wurde die Erde von den Planeten (einschließlich Mond und Sonne) in wohlgeordneten Proportionen umkreist, die ihrerseits wohlklingenden musikalischen Intervallen entsprachen. Als Signatur eines Schöpfergottes durchzog Harmonie alle Dimensionen des Kosmos, von der Sphärenharmonie (musica mundana) über die anatomisch-psychologischen Proportionen des Menschen (musica humana) bis hinein in das, was wir im eigentlichen Sinne als Musik bezeichnen (musica instrumentalis). Diese Vorstellung blieb selbst dann noch erhalten, als die Naturwissenschaft ins empirische Zeitalter eintrat und das alte Weltbild einer heliozentrischen Ordnung wich. Robert Fludd und andere spekulative Denker stellten sich die Ordnung des Kosmos nach wie vor als Monochord vor. In derselben Schrift, in der Johannes Kepler sein drittes Gesetz der Planetenbewegungen aufstellte, beharrte er 1619 darauf, dass die Planeten unseres Sonnensystems einen Chor bildeten, der ein ewiges Loblied auf seinen Schöpfer singe.
Für Holsts The Planets spielte diese Tradition allenfalls indirekt eine Rolle. Statt die zahlhaft-harmonische Grundstruktur der Welt musikalisch abzubilden, reizte ihn vielmehr der symbolische Gehalt der Planeten. Während einer Mallorca-Reise im Sommer 1913 machte ihn sein Freund Clifford Bax erstmals mit Astrologie vertraut. Alan Leos einführendes Handbuch What is a Horoscope and How is it Cast? zog Holst direkt in seinen Bann. Unverzüglich begann er, Horoskope für sich und seine Bekannten zu erstellen. Inwiefern er tatsächlich an einen Einfluss der Himmelskörper auf die Persönlichkeitsbildung glaubte, spielte nur eine untergeordnete Rolle. Ein aufs Ganze zielendes, Mensch und Welt umfassendes Gedankengebäude wie die Astrologie faszinierte Holst aus den gleichen Gründen, die ihn zuvor zur eingehenden Beschäftigung mit hinduistischen Texten angeregt hatten. Intensive Lektüre bot ihm eine willkommene Abwechslung von der eintönigen Ochsentour, die er als Lehrer und Musikdirektor an der Londoner St. Paul’s School for Girls (einer Privatschule) und am Morley College (einer gemeinnützigen Einrichtung der Erwachsenenbildung mit Schülern aus der Arbeiterklasse) zu bewältigen hatte. Indem Holst sich intellektuellen Herausforderungen stellte, trug er eine geistige Weite in die Enge seines Studierzimmers. Darüber hinaus dienten sie ihm als wesentliche Initialzündung für seinen Schaffensprozess. Seine Sanskrit-Studien etwa mündeten in eine Reihe ambitionierter Werke, darunter die in Wagner’schen Dimensionen gehaltene Oper Sita (1899–1906), die Kammeroper Savitri (1908), die Choral Hymns from the Rig Veda (1908–1914) und die Ode für Chor und großes Orchester The Cloud Messenger (1909–1912). Ähnlich verhielt es sich bei The Planets, wie Holst selbst bekannte: »In der Regel studiere ich nur Dinge, die mir Musik nahelegen. […] Kürzlich lernte ich Astrologie kennen, und der Charakter jedes Planeten legte mir unglaublich viel nahe, und so begann ich, mich eingehend mit Astrologie zu beschäftigen.«
Holsts schöpferische Phantasie entzündete sich unmittelbar an den Charaktereigenschaften, die Alan Leo den einzelnen Planeten (sowie den unter ihrem Einfluss stehenden Menschen) zuwies. Die Attribute dienten ursprünglich noch ohne die ihnen entsprechenden Planetennamen als Satztitel einer Suite, die Holst mit der nüchternen Bezeichnung Seven Pieces for Large Orchestra überschrieben hatte. Bevor Holst die Verbindung zu den Planeten im Februar 1920 noch vor der Uraufführung offenbarte, war es nur Eingeweihten zugänglich, was sich hinter den eher kryptischen Bezeichnungen wie The Bringer of War (Der Kriegsbringer), The Bringer of Peace (Die Friedensbringerin) oder The Mystic (Der Mystiker) verband. Die Absage an eine eindeutige Programmatik lässt sich am besten vor dem Hintergrund eines ähnlich benannten Werkes verstehen, mit dem Holst zu jener Zeit Bekanntschaft gemacht hatte: Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücke op. 16 waren 1912 bei den Promenade Concerts von Henry Wood aus der Taufe gehoben und seither in England mehrfach wiederaufgeführt worden. Holst erlebte sie erstmals 1914 im Konzert und war so hingerissen, dass er unverzüglich eine Partitur erwarb. Besonders reizte ihn, wie Schönberg den poetischen Gehalt seiner Orchesterstücke mit abstrakten Titeln auf den Punkt brachte, die jeglicher platten Programmatik entsagen: Vorgefühle, Vergangenes, Farben, Peripetie, Das obligate Rezitativ.
Analog dazu waren die Planetennamen selbst für das Verständnis der Planets streng genommen entbehrlich. Die Wesensbestimmungen für die einzelnen Planeten, die Holst aus Alan Leos Esoterischer Astrologie übernahm, lehnen sich an astrologische Klassifikationen an, sind aber nicht ausschließlich vor diesem Hintergrund zu verstehen. Sie beziehen sich vor allem auf menschliche Charaktereigenschaften. Dass diese etwa einem kosmischen Einfluss unterliegen könnten, ist für die Deutung der Planets allenfalls zweitrangig. Holst entschloss sich letztlich aus praktischen Gründen dazu, die Planetennamen dem Publikum als gedanklichen Leitfaden an die Hand zu geben. Tatsächlich legte dieser Titel (wenngleich häufig in Verkennung des astrologischen Hintergrunds) den Grundstein zum langanhaltenden Erfolg des Werkes. Während Teil- und Privataufführungen unter dem ursprünglichen Titel auf geringes Interesse stießen, rief die Uraufführung der Planets 1920 bei Musikkritik und beim Publikum Begeisterungsstürme hervor, wie sie England seit Elgars Enigma Variations von 1899 nicht mehr erlebt hatte.
Wie Holst nicht müde wurde zu betonen, waren die einzelnen Planeten als musikalische »Stimmungsbilder« (»mood pictures«) oder »Verkörperungen« (»embodiments«) konzipiert, die einen Grundcharakter in verschiedene Richtungen entfalten und vertiefen. Von Symphonischen Dichtungen in der Tradition Franz Liszts, wie sie unter anderem von Richard Strauss fortgeführt wurden, unterscheiden sich die Planets aber insofern, als sie die einzelnen Charaktere im harten Schnitt nebeneinanderstellen, während es Liszt und anderen auf deren wechselseitige geistig-musikalische Beziehung ankam. Bei Holst dagegen stehen die einzelnen Planeten – der Form einer Suite entsprechend – als selbständige Wesenheiten für sich. Damit das Gesamtwerk nicht in seine Einzelteile zerfiel, unterfütterte Holst die Aneinanderreihung der einzelnen Sätze durch gewisse übergreifende Strukturprinzipien. Wohlgemerkt waren diese für ihn aber bloß musikalische Notwendigkeit und eben nicht für die inhaltliche Deutung relevant. Die Motive des den Zyklus eröffnenden Mars, the Bringer of War etwa werden in den Folgesätzen mitunter aufgegriffen, ohne dadurch eine gerichtete, programmatisch erklärbare Verwandlung zu erfahren. Die Anlage des Zyklus lässt sich ferner als eine Art Doppelsymphonie begreifen: Mars, Venus und Merkur entsprechen demgemäß einer dreisätzigen Symphonie mit konfliktgeladenem Kopfsatz (Der Kriegsbringer), lyrischem Mittelsatz (Die Friedensbringerin) und leichtfüßigem Scherzo oder Kehrausfinale (Der geflügelte Bote) – je nachdem, ob man den ersten Symphonie-Durchgang als eher offen oder abgeschlossen wahrnehmen möchte. In einem zweiten Durchgang schließt sich daran eine zweite Symphonie des viersätzigen Typus an, die vom thematisch vielgestaltigen Bringer der Ausgelassenheit (Jupiter) über den still-vergrübelten Bringer des hohen Alters (Saturn), dem tänzerischen, von Dukas’ Zauberlehrling inspirierten Magier (Uranus) bis zu einem – freilich verhaltenen, ins Unendliche ausschwingenden – Chorfinale des Mystikers (Neptun) führt.
Obwohl Mars, the Bringer of War bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs komponiert war, mochte dieser Satz bei der Uraufführung von 1920 wie ein direkter Niederschlag der traumatischen Erfahrungen wirken, denen eine ganze Generation junger Männer zum Opfer gefallen war. Als 1914 die europäischen Völker noch Heldenruhm suchten und sich in patriotischem Säbelrasseln übten, legte Holst bereits ein hellsichtiges Porträt der destruktiven Maschinerie des Krieges dar, was umso bemerkenswerter ist, als der Krieger Mars in der herkömmlichen Astrologie durchweg positiv gezeichnet war. Der unerbittlich wiederholte Marschrhythmus wird durch den 5/4-Takt pervertiert. Darüber blähen sich die Themen zu innerlich hohlem Bombast auf, melodische und klangliche Rückungen bleiben immer wieder auf Dissonanzen zum durchklingenden Grundton G stehen, insbesondere mit harten halbtönigen Reibungen und dem seit dem 17. Jahrhundert als »Teufel in der Musik« beschriebenen Tritonus. Die hartnäckige Vermeidung von Wohlklang und eindeutiger tonalen Verankerung kommt dem Sacre du printemps bisweilen derart nahe, dass Holst von Kritikern wie Francis Toye als »englischer Strawinsky« deklariert wurde.
In seiner eindeutigen Aussage ist Mars, the Bringer of War lediglich dem anderen Rahmensatz Neptune, the Mystic verwandt, mit dem er auch durch den 5/4-Takt verbunden ist. Alle anderen Sätze bieten ein vielschichtiges Konglomerat verschiedener Stile, Einflüsse und Charaktere, die sich nur schwerlich, wenn überhaupt, auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Sie bewegen sich zwischen indischen Modi und englischer Volksmusik, zwischen Kirchenmusik (ein Thema aus Jupiter wurde nachträglich sogar zum Gemeindelied umfunktioniert) und Music-Hall-Song, zwischen Wagner und Strawinsky, zwischen Skrjabin und »leichter Klassik«. Was Holst bisweilen als formale Schwäche und mangelnde Stringenz angelastet wurde, hat aber seine tiefere Berechtigung. Wie sich der Einfluss eines Planeten unter verschiedenen Konstellationen höchst unterschiedlich auf eine menschliche Persönlichkeit auswirken soll, so erkundet auch Holst die verschiedenen und nicht selten miteinander im Widerstreit liegenden Spielarten ein und desselben Charakterzugs. Je tiefer Holst aber in die menschliche Psyche vordrang, desto enger verschmolzen Mikrokosmos und Makrokosmos. Insofern bekräftigen seine Planets jene Einsicht aus der spätantiken Tabula Smaragdina, die den Grundstein für esoterische Wissenschaft legte: »Die Geschöpf hie nieden gesellen sich zu denen dort oben / und diese hinwiederumb zu jenen / auf daß sie mit gesambter Hand ein Ding herfür bringen mögen / so voller Wunder steckt.«