Paradisi gloria – Messe solennelle
Konzerteinführung: 19 Uhr
mit Monika Manz, Anton Leiss-Huber und Naji Hakim
Moderation: Christopher Mann
BR-KLASSIK
Sendung des Konzertmitschnitts am Sonntag, 12. März 2023, um 19.05 Uhr
Konzertaudio ab Sendetermin in der Mediathek verfügbar
Programm
Uraufführung der Fassung für Chor und Orchester
Uraufführung der Fassung für Chor und Orchester
- Kyrie
- Gloria
- Sanctus – Benedictus
- Agnus Dei
Lesungen
Monika Manz und Anton Leiss-Huber lesen LegendenBildung von Ursula Haas und Anton Leiss-Huber
Mitwirkende
Werkeinführungen
Die Flamme des Glaubens
Gebet und Lobgesang: Musik von Naji Hakim
Von Wolfgang Stähr
Entstehung der Werke: Ave Maria: 2012 (Fassung für Orgel) / 2017 (Fassung für Chor und Orchester) Messe solennelle: 1999 (Fassung für Chor und Orgel) / 2015 (Fassung für Chor und Orchester). Uraufführung der Fassungen für Chor und Orchester: 3. März 2023 in der Münchner Herz-Jesu-Kirche mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks und dem Münchner Rundfunkorchester unter der Leitung von Wayne Marshall. Naji Hakim. * 31. Oktober 1955 in Beirut (Libanon)
Insgesamt sieben Lieder vertonte Franz Schubert 1825 aus dem Fräulein vom See, dem Bestseller des Schotten Sir Walter Scott, darunter auch die drei Gesänge der Ellen Douglas: Der dritte ist das »Ave Maria«, die Hymne an die Jungfrau (D 839). Bald zweihundert Jahre später hatte der französische Komponist Naji Hakim mit »Old Sir Walter« rein gar nichts mehr im Sinn, als er 2012 eine Orgelfantasie über Schuberts berühmtes (sogar von Walt Disney verfilmtes) Lied schuf: zunächst einmal ganz ohne Worte, umso mehr aber beflügelt von der weitgespannten, belcantistisch formvollendeten Vokallinie, inspiriert von der Begleitung des imaginären Harfenspiels und begeistert von der frei schweifenden, romantisch vielfarbigen Harmonik seines großen Vorgängers. Seines Bruders im Geiste, denn diese Musik überwindet alle geografischen und historischen Distanzen, auch zwischen einem Lehrersohn aus der Wiener Vorstadt und dem Kind eines libanesischen Geschäftsmanns aus Beirut. Aber alle beide sind katholische Komponisten, wenngleich das Verhältnis zu Autorität und Lehre der Amtskirche bei dem 1797 geborenen Österreicher Schubert ungleich komplizierter und angespannter erscheint als bei Naji Hakim, Jahrgang 1955, der als Organist für viele Jahre im Dienst der römisch-katholischen Zentralgewalt stand.
2017 komponierte Hakim seine Orgelfantasie radikal neu und dehnte sie klanggewaltig aus, als er sie für Chor und großbesetztes Orchester umschrieb. Allerdings verzichtete er darauf, die deutsche Walter-Scott-Nachdichtung aus dem originalen Schubert-Lied zu reaktivieren. Ihn leitete eine andere Idee von einem gemeinschaftlich gebeteten »Ave Maria«, als er die Neufassung seiner Fantasie schuf: ein unverwechselbares Werk zwischen Prozession, Theaterszene und Klanginstallation, nicht zwangsläufig für die Kirche bestimmt, aber idealerweise im Kirchenraum beheimatet. Naji Hakim stellt sich die Gläubigen in einem Gottesdienst vor, denkt aber namentlich an die Schar der Pilger, die aus aller Welt in der Kathedrale Notre-Dame de Paris eintreffen (an deren Orgel übrigens die ältere Version der Fantasie uraufgeführt wurde). Und selbstverständlich rezitieren sie nicht »Ellens Gesang« aus einem schottischen Schmöker, sondern gut katholisch die marianische Antiphon des lateinischen »Ave Maria«: »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.« Über den musikalischen Verlauf, die theologische Dramaturgie seines Ave Maria schreibt Naji Hakim: »Ein lebhaftes Perpetuum mobile in den Arpeggien der Streicher begleitet Schuberts Melodie, die als Cantus firmus in den Blechbläsern erklingt. Eine aufgeregte Episode, die das Flehen ausdrückt, geht dem ruhigen und vertrauensvollen Schluss voraus. Das Gebet wird erhört.«
Aber wer hört in der katholischen Kirche noch auf die Musik? In dieser Frage erweist sich Naji Hakim als Skeptiker – und steigert sich leicht in eine regelrechte Wutrede, wenn er beklagt: »Die christlich inspirierte Tonkunst hat die Liturgie verlassen und ihre Zuflucht im Konzert oder im Aufnahmestudio gefunden. Warum ist das Hören von gregorianischem Gesang, Polyphonie oder Orgelmusik heute eine außerliturgische Angelegenheit geworden, während unsere Vorfahren über die Jahrhunderte die Flamme ihres Glaubens durch eben diese Kunst leuchten ließen? Heute sind die christlichen Berufsmusiker an den Rand gedrängt und ersetzt durch engagierte Laien, deren Wohlwollen ihre einzige musikalische Grundausstattung ist. Wollen wir im Ernst, dass unsere Kirche mit der niederschmetternden Botschaft einer künstlerischen Ödnis an die Öffentlichkeit tritt?« Naji Hakim stellt der musikalischen Verkündigung seiner Konfession ein wenig schmeichelhaftes, sehr ernstes und besorgtes Zeugnis aus: »Was das neue Repertoire angeht, so sehen wir heute – als Folge der kulturellen Leere – eine Flut an Gesängen mit schlechter musikalischer und prosodischer Substanz, die bei jedem wahren Musiker nichts anderes als Abneigung hervorrufen können. Keine gregorianische Melodie mehr, keine Polyphonie, kein Volkslied, keine Harmonie, keine Modulation – eine echte Wüste für den Künstler und den kunstsinnigen Christen. Viele Künstler gehen wegen des kulturellen Niedergangs der Liturgie nicht mehr in die Kirche. Andere aus nichtchristlichen Milieus sind von jeglicher religiösen Praxis abgeschreckt.«
Seine Kirche, der Hakim über Jahrzehnte als Organist an der Basilika Sacré-Cœur de Montmartre und – als Nachfolger des großen Olivier Messiaen – an der Église de la Sainte-Trinité in Paris diente, hat ihm die harsche Kritik an der musikalischen Verödung der Messfeier nicht verübelt oder gar vergolten. Im Gegenteil: 2007 wurde Hakim wegen seiner Verdienste um die Kirche vom damaligen (und bekanntlich sehr musikliebenden) Papst Benedikt XVI. mit dem Ehrenkreuz »Pro ecclesia et pontifice« ausgezeichnet. Außerdem ist er Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Kirchenmusik in Rom, die den »Heiligen Stuhl« in Fragen der Musik und der Liturgie berät. Und überhaupt ist Hakim durch die von ihm beklagte Geringschätzung der liturgischen Kunst nicht in eine kreative Schockstarre verfallen. Nach der Missa resurrectionis für Sopran solo (ohne jede instrumentale Begleitung) von 1994 und der Missa redemptionis für Chor a cappella von 1995 schuf Hakim 1999 die Messe solennelle für Chor und Orgel (der sich 2012 noch die Missa brevis anschloss, wiederum für Chor a cappella). Seine »solenne« Messe steht in einer französischen, bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Tradition von Messen für Chor und Orgel (oder zwei Orgeln), die auf Charles-Marie Widor, Louis Vierne und Hakims Orgellehrer Jean Langlais zurückgeht, allesamt Pariser Organisten, deren Vertonungen sich durch Kürze, klangliche Wucht und pointierte Textbehandlung auszeichnen. Und durch den Verzicht auf das Credo, das lateinische Glaubensbekenntnis, das fromme Herzstück der Messe. Oder die theologische Kopfgeburt, je nach Betrachtungsweise: jedenfalls den Teil des Ordinarium missae, der mit seinen Paragraphen der Musik widerspenstig entgegensteht.
Naji Hakim folgt seinen Vorgängern und Vorbildern mit der Messe solennelle, die er 2015 »zu Ehren des Organisten und Dirigenten Wayne Marshall« für Chor und Orchester bearbeitete. »Abgesehen von wenigen Anspielungen auf den gregorianischen Gesang oder weltliche Quellen«, erklärt Hakim, »ist das thematische Material frei erfunden und breitet sich in einer tonal erweiterten Harmonik aus. Die vorherrschende Stimmung dieser Messe ist eine festliche und freudige Dankbarkeit.« Das kann man wohl sagen. Neben dem Strawinsky der Psalmensymphonie ist auch ein anderer Komponist, ein großes Idol des Komponisten Hakim, als Inspirator oder sogar Motivator in dieser Messe anwesend wie in einer Beschwörung guter Geister: der Amerikaner George Gershwin. Hakim will Musik »zum Ruhme Gottes« schreiben, und zu einem grenzenlosen Lobgesang gehören für ihn auch Folklore und Unterhaltungsmusik. Jedenfalls ist seine Messe solennelle feierlich in einem sehr packenden und menschenfreundlichen Sinn, eine überaus sympathische Einladung an die Hörerinnen und Hörer, eine mitreißende, schwungvolle, ansteckend gutgelaunte Musik mitsamt Ohrwurmeffekten, die nicht bloß zum Vergessen des Alltags verlockt, sondern vielmehr ins Bewusstsein ruft, worauf es im Leben am meisten ankommt: auf eine unbeirrbare, gemeinschaftliche, in der Not auch lautstarke Freude, die allen Zweifeln trotzt und alle Ängste hinwegfegt.
»Weil ich mich zur Andacht nie forciere«
Kleiner Exkurs zu Schuberts »Ave Maria«
Naji Hakims Musik kommt von weit her. Die Spurensuche führt zurück ins frühe 19. Jahrhundert, zu dem »großen Schotten«, dem Romancier und Bestsellerautor Sir Walter Scott, den seinerzeit mit Goethe und Heine »die ganze Lesewelt« verehrte, dessen historische, bis ins Mittelalter ausgreifende Bücher schon bald nach ihrer Veröffentlichung von Zehntausenden verschlungen wurden – bevor sie gründlich aus der Mode kamen und weitestgehend in Vergessenheit gerieten. Aber dass der Name Scott nicht völlig verwischt wurde und sogar eine begrenzte, doch belastbare Popularität bewahrte, war am Ende nicht das Resultat der literarischen Überlieferung, sondern das Werk der Musiker. Neben etlichen Opern nach seinen Romanvorlagen, darunter Lucia di Lammermoor, blieb Scott vor allem durch Franz Schubert in aller Munde: Nachdem kaum jemand mehr The Lady of the Lake las, sang und vernahm doch alle Welt noch immer Schuberts Ave Maria. Und singt es noch heute (oder lässt singen): »Ave Maria! Jungfrau mild, / Erhöre einer Jungfrau Flehen, / Aus diesem Felsen starr und wild / Soll mein Gebet zu dir hin wehen.« Die unvorteilhafte Übersetzung der Scott’schen Verse ins Deutsche wird von Schuberts traumwandlerisch entrückter Gesangsmelodie nachgerade verklärt. »Besonders machten meine neuen Lieder, aus Walter Scott’s ,Fräulein vom See’, sehr viel Glück«, berichtete Schubert seinem Vater im Sommer 1825. »Auch wunderte man sich sehr über meine Frömmigkeit, die ich in einer Hymne an die heil. Jungfrau ausgedrückt habe, und, wie es scheint, alle Gemüther ergreift und zur Andacht stimmt. Ich glaube, das kommt daher, weil ich mich zur Andacht nie forcire, und, außer wenn ich von ihr unwillkürlich übermannt werde, nie dergleichen Hymnen oder Gebete componire, dann aber ist sie auch gewöhnlich die rechte und wahre Andacht.«
Mit Himmelszungen
Zu Charles-Marie Widors »Sinfonia sacra«
Von Anna Vogt
Charles-Marie Widor: * 21. Februar 1844 in Lyon, † 12. März 1937 in Paris. »Sinfonia sacra« für Orgel und Orchester, op. 81, Entstehung des Werks: ca. 1906 bis 1908, Uraufführung: vermutlich am 4. Dezember 1909 in Straßburg
Bei manch einer Biografie kann man nur staunen, von welcher Schaffenskraft, ja welchem Schaffensdrang sie zeugt: Über sechzig Jahre lang prägte Charles-Marie Widor, der aus einer angesehenen Familie von Orgelbauern und -spielern stammte, als Titularorganist der Pariser Kirche Saint-Sulpice die entsprechende Szene in Frankreich. Daneben war Widor ein erfolgreicher Komponist in nahezu allen Genres, arbeitete als Musikkritiker und Autor und leitete ab den 1890er Jahren eine Orgel- und eine Kompositionsklasse am Pariser Konservatorium. Mit seinen insgesamt zehn Orgelsymphonien und auch der Sinfonia sacra widmete sich Widor mit Leidenschaft einer Gattung, die bis heute als genuin französisch gilt. Das Genre der Orgelsymphonie wurde im 19. Jahrhundert unter anderem von César Franck, Louis Vierne und Camille Saint-Saëns gepflegt: Es ist eine Hommage an die »Königin der Instrumente« mit ihrem komplexen System aus Pfeifen, Tasten, Manualen und Pedalen, ihrer großen Palette an Klangfarben und ihrer monumentalen Klanggewalt. In der Begegnung einer solistischen Orgel, die vorrangig in der Kirche beheimatet ist, mit einem symphonisch besetzten Orchester vermischen sich dabei die Sphären von geistlicher und weltlicher Musik. Auch Widors Sinfonia sacra verrät schon im Titel dieses Zwitterwesen. Der Komponist widmete das in den Jahren 1906 bis 1908 entstandene Werk der Königlichen Akademie der Schönen Künste in Berlin als Dank für seine Wahl in die Akademie. Die Uraufführung fand vermutlich 1909 in Straßburg statt.
Widor setzte mit der Sinfonia sacra, wie mit seinen anderen Orgel-Werken, auch der französischen Orgelbaukunst ein Denkmal, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dank Aristide Cavaillé-Coll auf ihrem Höhepunkt angekommen war (siehe nachfolgender Text). Die Pariser Presse feierte die Sinfonia sacra als eine von Widors modernsten Kompositionen. Dies mag auch an der innovativen Weise gelegen haben, mit der er hier zwei musikalische Epochen miteinander zu verknüpfen wusste: Mit einer Choralmelodie als spirituellem wie musikalischem Grundmotiv ebenso wie mit barocken Satztechniken knüpfte er an die Form- und Ausdruckswelten Johann Sebastian Bachs an, den Widor für den »größten Prediger« hielt. In der Gesamtkonzeption aber folgte er Franz Liszt und der »Neudeutschen Schule« in die Welt der Tongedichte. Hier gibt es keine klar voneinander abgetrennten Sätze, sondern die einzelnen Abschnitte werden über zyklisch eingebundene Motive subtil miteinander verknüpft. Im einleitenden Adagio öffnet ein verhaltenes Unisono-Motiv der Streicher und wenig später der Orgel einen dunklen Klangraum. Für alles Folgende dient es als musikalische Keimzelle, ebenso wie sein atmosphärisches Gegenstück: der Lutherische Adventschoral Nun komm, der Heiden Heiland, den eine Solovioline schon bald im »Dolcissimo« anstimmt. Albert Schweitzer, der zur deutschen Erstaufführung ein Geleitwort schrieb, empfand diesen Choral wie einen »Stern in dunkler Nacht«, denn »im ersten Teil steigen die Seufzer und Klagen der Menschheit, die des Heilands warten, zum Himmel empor«. So entspinnt sich die Musik als Zwiegespräch zwischen Orchester und Orgel, wobei die ernste und getragene Stimmung zwischenzeitlich durch eine erste Apotheose der Choralmelodie triumphal aufgebrochen wird.
Die folgenden Abschnitte lassen immer mehr Licht ins Dunkel. So sah Albert Schweitzer in den hell timbrierten, aufsteigenden Orgel-Läufen zu Beginn des Moderato-Abschnitts die Sonnenstrahlen durch die Wolken blitzen: »Das Orchester lauscht staunend, wirft einige Akkorde dazwischen und will seine Klage wieder vernehmen lassen. Es muss aber verstummen.« Die anschließenden, quirligen Toccata-Schnellen der Orgel muten fast wie ein verspieltes Scherzo an, das aber die ernste Grundstimmung des Werks nur flüchtig vergessen lässt. Das Schmerzmotiv des Beginns verschafft sich im Allegro moderato in einer Pizzicato-Fassung erneut Gehör, doch wird es von einer strengen Fuge im barocken Stil vertrieben. In einer groß angelegten, wellenartigen Entwicklung wird das prägnante Fugenthema mit einzelnen Choralzeilen konfrontiert und geistert durch die Stimmen, grundiert von immer gleißenderen Registern in der Orgel. Schließlich brechen alle Dämme: Ein letztes Mal begegnen sich der Choral – nun im klanggewaltigen Unisono der Bläser, getragen von der mächtigen Klangpracht der Orgel – und das Schmerzmotiv, das sich in den Streichern dem Choral entgegenstemmt. Der finale, strahlende Dur-Akkord, angepeitscht von ekstatischen Streichertremoli, kann nicht die komplexe Wahrheit dieser »geistlichen Symphonie« übertönen: Schmerz und Erlösung, Leid und Freude sind untrennbar miteinander verbunden.
Die Farbenmischer
Charles-Marie Widor und Aristide Cavaillé-Coll
Als Charles-Marie Widor im Jahr 1870 mit 25 Jahren sein Amt als Titularorganist der Kirche Saint-Sulpice in Paris antrat, lag die Einweihung der dortigen Orgel gerade acht Jahre zurück. 67 Stufen führen hinauf zu diesem grandiosen und facettenreichen Instrument mit damals hundert Registern auf fünf Manualen und Pedal; darin integriert sind zum Teil original erhaltene Register aus der Barockzeit. So gelang Aristide Cavaillé-Coll, der die Arbeiten ab 1855 übernommen hatte, bei der Orgel von Saint-Sulpice eine Verbindung von Barock und Romantik, die auch Widors Werke prägte. Der Orgelbauer selbst, der im Übrigen ein enger Freund der Familie Widor war und den aufstrebenden Musiker in seiner Jugend zum Studium nach Brüssel vermittelt hatte, bezeichnete die Orgel in Saint-Sulpice als sein »Opus maximum«. Bis heute ist die Orgel fast im Originalzustand erhalten, und mittlerweile steht sie unter Denkmalschutz.
Dieses Instrument, damals eine der größten Orgeln in ganz Europa, wurde zu Widors Werkzeug nicht nur für seine außergewöhnliche Interpretationskunst, sondern auch für seine Kompositionen. Zuvor waren Orgelspiel und -komposition eher an den Möglichkeiten des Klaviers orientiert gewesen. Cavaillé-Coll hingegen nahm die Klangwelt eines Symphonieorchesters als Bezugspunkt für seine Orgelbauten: Er erweiterte die Farbpalette, aber auch die technischen Gegebenheiten. So wurden mit seinen Orgeln beispielsweise groß angelegte Crescendi, anspruchsvolle Toccata-Passagen und auch klangsinnliche Registrierungen etwa mit Hilfe der sogenannten Zungenregister möglich, die den Blasinstrumenten nachempfunden waren. Widor dankte Cavaillé-Coll, indem er ihm die erste seiner vier Orgelsymphonien widmete. Die besondere Verbindung zu »seiner« Orgel hielt über Widors langes Leben hinaus: Als er mit 93 Jahren starb, fand er seine letzte Ruhestätte in der Krypta von Saint-Sulpice.