Passionswoche

4. Chor-Abonnementkonzert
Samstag
18
Februar 2023
20.00 Uhr
München, Prinzregententheater

Konzerteinführung: 19.00 Uhr
mit Julia Selina Blank
Moderation: Johann Jahn

Im Rahmen vom BR-KLASSIK-Programmschwerpunkt »1923 – der wilde Sound der 20er«

Chor-Abonnement

Programm

Galina Grigorjeva
Vespers
für gemischten Chor a cappella
Maximilian Steinberg
Strastnaya sedmitsa (Die Passionswoche)
nach alten Kirchengesängen für gemischten Chor a cappella, op. 13

(gesungen in Originalsprache)

Mitwirkende

Chor des Bayerischen Rundfunks mit Solisten
Julia Selina Blank Leitung

Chorsolisten
Heidi Baumgartner, Simona Brüninghaus | Sopran
Barbara Fleckenstein | Sopran
Esther Valentin-Fieguth | Alt
Nikolaus Pfannkuch, Andrew Lepri Meyer, Moon Yung Oh | Tenor
Christopher Dollins, Matthias Ettmayr, Timo Janzen | Bass

Konzertvideo

BR-Chor, 2022/23, Abo-Konzert 1: Liberté - Willkommen, Peter Dijkstra (Grafik: Atelier Fleckenstein, Habach)
Kurzinfo zum Konzert
Programmfolge
Julia Selina Blank
Gesangstexte

Werkeinführungen

Maximilian Steinberg (Foto: Wikimedia Commons)

Maximilian Ossejewitsch Steinberg
* 22. Juni 1883 in Vilnius
† 6. Dezember 1946 in Leningrad

Strastnaya sedmitsa
(Die Passionswoche)
nach alten russischen Kirchengesängen
für gemischten Chor a cappella, op. 13

Entstehungszeit: 1920 bis 15. November 1923
Uraufführung: am 11. April 2014 in Portland, Oregon, mit der Cappella Romana unter Alexander Lingas

Meditation, Versenkung und Faszination des Fremdartigen

Maximilian Steinbergs Passionswoche und die Traditionen des orthodoxen Kirchengesangs. Von Larissa Kowal-Wolk

Wer eine byzantinische Kirche betritt, ist zunächst überwältigt von den unzähligen Ikonen, deren Goldeinfassungen und Farbenspiel im Kerzenschein funkeln und deren markante Heiligen-Gesichter den Blick geradezu zwingend auf sich ziehen. Überaus präsent und alles überragend, häufig als riesengroßes Fresko in der Apsis erscheint jedoch Jesus Christus, der Auferstandene, der Erlöser und Pantokrator. Entsprechend dem intensiven visuellen Eindruck offenbaren sich die liturgischen byzantinischen Gesänge eindringlich und von fremdartig faszinierender Wirkung. Sie bestreiten den gesamten Gottesdienst, denn abgesehen von der Predigt wird ausnahmslos alles gesungen – in einem Wechselgesang zwischen dem Priester und dem Chor der Gläubigen, der von einer kleinen Gruppe besonders versierter Sänger angeführt wird. Musikinstrumente jeglicher Art sind in byzantinischen Kirchen nicht vorgesehen.

Das höchste Fest der Christenheit ist Ostern, das zeitlich nahezu mit dem Pessach-Fest der Juden zusammenfällt. Dem Ostersonntag, dem Tag der Auferstehung von Jesus Christus, ist die Passionswoche, die »Leidenswoche«, vorausgegangen, beginnend am Palmsonntag. Sie ist mehr als alle Feste im übrigen Kirchenjahr dem historischen Christus vorbehalten. Die Evangelien berichten über die letzten Tage von Jesus Christus, seine Festnahme, seine Verurteilung bis zu seinem Tod am Kreuz. Der byzantinische Ritus feiert in zahlreichen Gottesdiensten die Passionswoche, also jeden einzelnen Wochentag, unter Verwendung besonderer Texte, die auf dem Alten und Neuen Testament sowie auf Gebeten und theologischen Betrachtungen der Kirchenväter beruhen. Darin vermischen sich Aspekte des Passionsgeschehens mit gleichnishaften Belehrungen und Psalmentexten.

Keine Frage also, dass Maximilian Steinberg in seiner Passionswoche an diesen uralten und gelebten Vorgaben nicht rührte. Mehr noch: »Nach alten russischen Kirchengesängen«, wie er im Untertitel zu seiner Passionswoche anführt, bedeutet, dass er die archaischen, zunächst einstimmigen byzantinischen Gesänge zugrunde legt – die einem besonderen Tonsystem folgen und geprägt sind vom griechischen Tetrachord, der eine andere Art der Tonalität besitzt und die typisch slawische Melodik vermittelt. Auch im byzantinischen Umfeld gibt es zudem Kirchentonarten, die sich durch ihre speziellen, ständig wiederkehrenden Melodiemodelle zu erkennen geben und die je nach Festtag und Stand des Kirchenjahres unterschiedlich sind.

Maximilian Steinbergs Passionswoche bezieht sich mit seinen elf Nummern auf den Part des Volks-Chores, in Gedanken zu ergänzen sind die Gebete und Handlungen des Priesters. Das Alleluja (Nr. 1), das zunächst einstimmig im Kirchenton der Fastenzeit in getragenen Vierteln von den Männerstimmen angestimmt wird, macht mit seiner klagenden Melodieführung sogleich auf den Ernst der besonderen Woche aufmerksam. Während die Frauenstimmen einsetzen und die Alleluja-Rufe fortsetzen, bilden die Männerstimmen nach alter Praxis mit gehaltenen Borduntönen das klangliche Fundament. Steinberg vermerkt in seiner Partitur »Alleluja im ›známennyj raspév‹« (Gesang nach Zeichen), was bedeutet, dass er sich auf einen sehr alten Gesang bezieht, dessen Aufzeichnung noch keine ausgeprägte Notenschrift kannte.

Neben den alten Gesängen werden in allen elf Sätzen weitere Melodien aus der byzantinischen Hymnologie verwendet, mal nach »Kiewer Art«, mal nach »bulgarischer Singweise«, die Steinberg häufig unverfälscht, im Sinne einer Initiale, als eine Art Cantus firmus den einzelnen Sätzen oder Abschnitten exponiert voranstellt, um dann den Chor in wechselnden Formationen einsetzen zu lassen. Dieser stützt den Hymnus nicht nur mit vollem Klang, er umrankt ihn mit ausgeprägten, weitschweifenden Kantilenen und baut sich nicht selten zu einer überaus reichen Vielstimmigkeit (bis zu 12 Stimmen) auf. An diesen Stellen wird deutlich, dass Steinberg als Absolvent des Petersburger Konservatoriums den umfangreichen Schatz der verschiedenen westlichen Kompositionsstile kennengelernt und verinnerlicht hatte. Imitatorische Abschnitte, die an niederländische Vokalpolyphonie erinnern, treten ebenso hervor wie die Aneinanderreihung von grell aufleuchtenden Dissonanzen oder spätromantisch anmutende Wendungen. Trotzdem hält er sich in seinem kompositorischen Gesamtkonzept vor allem an die Traditionen russischer mehrstimmiger Gesangspraxis, die unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass die Stimmen entweder ähnlich verlaufen, sich quasi imitieren oder eine Gegenstimme bilden, aber nach eigenständigem Verlauf sich am Ende des Abschnitts häufig in einem lang ausgehaltenen Unisono-Klang wiederfinden.

Während sich die ersten fünf Nummern auf die Morgengottesdienste von Montag bis Donnerstag der Passionswoche beziehen und eher betrachtenden Charakter haben, steigt die Intensität mit der abendlichen Liturgie am Gründonnerstag (Nr. 6: »Zu deinem heiligen Abendmahl«): Das Mysterium des letzten Abendmahles steht im Mittelpunkt. Der Chorsatz bewegt sich in ehrfurchtsvoll und schrittweise getragenem Metrum. Ein kurzer, aber bemerkenswerter Exkurs in die Welt des Oratoriums findet sich in Nr. 9 (»Wehklage mir nicht, o Mutter«), wenn Christus solistisch hervortritt und seine Mutter ermahnt, nicht um ihn zu weinen. Klagemotive in den Frauenstimmen heben die Situation untermalend hervor. Die Ankündigung der Auferstehung setzt schließlich eine deutlich wahrnehmbare Wendung im gesamten Werk frei: Der Chor nimmt diesen Gedanken unmittelbar auf und führt ihn stringent, in beschleunigtem Tempo weiter – ein Höhepunkt bahnt sich an, denn die Auferstehung Christi ist der bedeutsame und eigentliche Kern der Glaubensbotschaft. Bei der eng an die liturgische Praxis angelehnten Passionswoche muss sich der Zuhörer auf die Spiritualität des östlichen Christentums einlassen, wenn er den Reiz und den Zauber der byzantinisch geprägten Musik erleben möchte: Meditation, Versenkung und innige Anteilnahme am liturgischen Geschehen beherrschen die gesamte Komposition, deren fremdartiger Faszination man sich kaum entziehen kann.

Maximilian Steinberg komponierte das Werk in einer Zeit, in der Russland von umwälzenden politischen und gesellschaftlichen Turbulenzen erschüttert wurde. 1917 hatten die Bolschewiki nach der Revolution die Führung übernommen, was das kulturelle und religiöse Klima rasant veränderte. Steinberg hatte die Partitur am 15. November 1923 abgeschlossen. Keine vier Wochen später schrieb er in sein Tagebuch: »Heute erfuhr ich von [Mikhail Georgievich] Klimov, dass die ganze geistliche Musik verboten wurde mit Ausnahme von zwei klassischen Werken. Das bedeutet, dass es keine Hoffnung geben wird, die ›Passionswoche‹ jemals zu hören […] neue Werte wurden nicht geschaffen, wohingegen die alten niedergedrückt werden.« Eine Reise nach Deutschland und Frankreich ermöglichte es Steinberg, dass mehrere seiner Werke im Druck erscheinen konnten, darunter 1927 auch die Passionswoche in Paris und Berlin/Leipzig. Einen Chor für eine Uraufführung in der dafür notwendigen Qualität zu finden, noch dazu im Ausland, erwies sich als schier unmöglich. Einige Notenexemplare gingen jedoch hinaus in die Welt und fanden Eingang in Bibliotheken und Privatsammlungen, wo sie für viele Jahrzehnte ruhten. Der Initiative des russisch-amerikanischen Dirigenten Igor Buketoff (1915–2001), Sohn eines russisch-orthodoxen Priesters und sehr interessiert an russischer zeitgenössischer Musik, ist es zu verdanken, dass dem Werk wieder Aufmerksamkeit zuteil wurde. So gelang es schließlich 90 Jahre nach seiner Fertigstellung, dass Steinbergs Passionswoche am 11. April 2014 in Portland, Oregon durch den Chor Cappella Romana unter Alexander Lingas endlich uraufgeführt werden konnte.


Maximilian Ossejewitsch Steinberg
Ein Leben zwischen Juden- und Christentum, Zarenzeit und Sowjetherrschaft

Maximilian Ossejewitsch Steinberg wurde 1883 im damals noch dem Russischen Reich zugehörigen Vilnius als Spross einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren. Zunächst begann er dort mit einem Studium der Naturwissenschaften, wechselte aber bald nach St. Petersburg. Außerdem schrieb er sich am dortigen Konservatorium ein und studierte Musik bei namhaften Persönlichkeiten wie Anatoli Ljadow, Alexander Glasunow und Nikolaj Rimskij-Korsakow. Besonders mit Letzterem pflegte er bald freundschaftliche Kontakte, denn Rimskij-Korsakow lud ihn und seinen Kommilitonen Igor Strawinsky gerne zu sich nach Hause ein. Als Assistent von Rimskij-Korsakow reiste er mit seinem Lehrer im April 1907 nach Paris zu den Concerts historiques russes, die von Sergej Diaghilew zu Ehren bedeutender russischer Künstler wie Rimskij-Korsakow, Rachmaninow und Glasunow veranstaltet wurden. Ein Jahr später und wenige Wochen vor Rimskij-Korsakows Tod heiratete er dessen Tochter Nadeschda Nikolajewna im russisch-orthodoxen Ritus, nachdem er zum christlichen Glauben konvertiert war.

Seine berufliche Laufbahn beruhte ähnlich wie die seines Schwiegervaters auf zwei Fundamenten: Zunächst wurde er 1915 Professor für Komposition und Instrumentierung am St. Petersburger Konservatorium, 1934 bis 1939 war er dann stellvertretender Direktor. Neben seiner pädagogischen Tätigkeit – einer seiner Schüler war Dmitrij Schostakowitsch –  trat er als Komponist hervor und schrieb fünf Symphonien, ein Violinkonzert, Ballette und Bühnenmusiken sowie Kammermusik und Lieder. Im Gegensatz zu seinem einstigen Kommilitonen Igor Strawinsky stand er einer neuen musikalischen Sprache eher ablehnend gegenüber. Er orientierte sich am spätromantischen Stil von Glasunow sowie am nationalen Stil des »Mächtigen Häufleins« und ließ russische Themen und Volksmusik in sein Schaffen einfließen. Das kam der stalinistischen Ideologie entgegen und brachte ihm viele Erfolge in seiner Heimat ein. Zunehmend interessierte er sich aber auch für Themenbereiche aus dem Symbolismus und Mystizismus. Ein wesentliches Werk aus dieser Epoche ist das Opern-Mysterium Himmel und Erde, das 1916 entstand. Obwohl zur Zeit der politischen Turbulenzen nach der Revolution in Russland spirituelle Musik zunehmend in Frage gestellt und schließlich verboten wurde, komponierte Steinberg in den Jahren 1920 bis 1923 die Passionswoche, deren Aufführung auf unbestimmte Zeit nicht abzusehen war. Im Gegensatz zu vielen seiner Musikerkollegen wie Igor Strawinsky und Sergej Rachmaninow, die aufgrund der unerträglichen Arbeitsbedingungen unter dem Sowjetregime ihre Heimat verlassen hatten, blieb Steinberg in Russland. 1946 starb er in St. Petersburg.

Mit seiner Passionswoche steht Steinberg in der Tradition der Neuen Russischen Chor-Schule, ebenso wie auch die Chrysostomus-Liturgie von Peter Iljitsch Tschaikowsky und Rachmaninows Großes Abend- und Morgenlob. Die Neue Russische Chor-Schule hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die ursprünglichen, großenteils einstimmigen Gesänge des russisch-orthodoxen Ritus zu pflegen und als Grundlage oder Inspiration für Neukompositionen heranzuziehen.

Galina Grigorjeva (Foto: Emic.ee / Kauppo Kikkas)

Galina Grigorjeva
* 2. Dezember 1962 in Simferopol (Krim, Ukraine)

Vespers
für gemischten Chor a cappella

Entstehungszeit: 2017
Uraufführung: am 6. April 2017 beim Eesti Muusika Päevad Festival in der Nikolaikirche von Tallinn mit Vox Clamantis unter der Leitung von Jaan-Eik Tulve

Bei Sonnenuntergang

Slawische Gesangstradition in zeitgenössischem Rahmen bei Galina Grigorjevas Vespers. Von Larissa Kowal-Wolk

In Estland steht Galina Grigorjeva als zeitgenössische Komponistin in erster Reihe mit Arvo Pärt, mit dem sie, abgesehen von der estnischen Staatsbürgerschaft, vieles verbindet. Galina Grigorjeva wurde 1962 in der ukrainischen Stadt Simferopol auf der Krim geboren, studierte zunächst am Konservatorium in Odessa bei Oleksandr Krassotow und setzte ihr Studium am St. Petersburger Konservatorium bei Jurij Falik fort. 1994 wechselte sie an die Estnische Musikakademie nach Tallinn zu Lepo Sumera und lebt seitdem in Estland. Ähnlich wie Arvo Pärt, der gegenwärtig zu den wichtigsten und gleichzeitig populärsten Schöpfern spiritueller Musik zählt, bekennt sich Galina Grigorjeva zum russisch-orthodoxen Glauben und zieht unter anderem daraus ihre Inspiration und ihr Selbstverständnis als Komponistin.

Slawische Gesangstradition in zeitgenössischem Rahmen – so könnte man die Kompositionsweise von Galina Grigorjeva schlagwortartig beschreiben. Unter ihren rund 70 Werken, darunter Orchester- und Kammermusik, finden sich 22 Kompositionen für Chor. Am 6. April 2017 wurde Vespers mit Vox Clamatis unter der Leitung von Jaan-Eik Tulve bei den Estnischen Musiktagen in Tallinn uraufgeführt.

Im byzantinischen Ritus ist die Vesper der Andachtsgottesdienst bei Sonnenuntergang, dessen Wurzeln bis ins frühe Christentum zurückreichen. Grigorjevas Komposition Vespers bezieht sich in den sieben Sätzen auf die feststehenden Gebete aus dem orthodoxen Gebetbuch sowie auf Passagen aus der King-James-Bibel, die Anfang des 17. Jahrhunderts für die Anglikanische Kirche erstellt wurde. Entsprechend hat sie für die Gesangstexte die englische Sprache gewählt. Galina Grigorjeva erklärte ihre häufige Vertonung alter, durch Jahrhunderte hindurch gültiger Texte in einem Interview folgendermaßen: »Hohe Poesie – ich greife oft auf kanonische Texte zurück – ist in erster Linie ein Wort und ein Gedanke, der einen zur Konzentration zwingt: Es geht nicht mehr um die Handlungsstränge, sondern um die Idee von universellen Wahrheiten.« Entsprechend ihrer Verwurzelung im Glauben orientiert sie sich häufig an den alten, einstimmigen Gesängen des byzantinischen Ritus. Eine melodische Linie, die der Singbarkeit entgegenkommt, ist für ihre Kompositionsweise somit ein fundamentaler Faktor.

Der Eröffnungssatz beginnt in überwältigendem Fortissimo mit der einstimmigen Aufforderung »Kommt, lasset uns anbeten« im Stile eines homophonen Satzes, um den herum sich die Akkorde zu verschieben scheinen und sich immer wieder kurze neue Klangnischen öffnen. Mit dem Schöpfungspsalm »Bless the Lord, o my soul« (Psalm 104 aus der King-James-Bibel) beginnt die eigentliche Anbetung. Ein Baritonsolo intoniert die Psalmverse klar und verständlich, immer darauf bedacht, sinnbedeutende Worte hervorzuheben, während der Bass mit Borduntönen ein Fundament bildet. Mal auf einem Ton deklamierend, mal in großen, ausgreifenden Bögen durchmisst die Melodiestimme weite Räume, nimmt auch tiefe Lagen ein und senkt sich wider Erwarten sogar unter den Bordun. Den dritten Satz (»Blessed is the man« – Selig der Mann, der nicht folgt dem Rat der Gottlosen«) stimmt zunächst ein Tenorsolo an, während dem Chor die Alleluja-Rufe vorbehalten sind, die refrainartig wiederkehren. In getragenen Vierteln, inmitten der fließenden Textur, gewinnt jedes Intervall und jede Intonation ausdrucksstark an Bedeutung.

In Vespers ist ein besonderer, geradezu mystischer Moment zu erleben, wenn der Hymnus »O gladsome light« (»Heiteres Abendlicht«, 4. Satz) angestimmt wird. Gemeint ist Gottvater und Jesus Christus, deren Licht mit der Sonne verglichen wird, die jeden Tag als »Urquell des Lebens« ihre Bahn zieht. Im Piano setzt der Sopran behutsam mit einem leuchtenden hohen g an, das die Assoziation eines hellen, gleißenden Lichts hervorruft. Der Ton beleuchtet gleichsam das sukzessive Einsetzen der übrigen Stimmen, bevor sie in eine choralartige, subtil abgestimmte Sequenz übergehen. Es hat nahezu magische Wirkung, wenn die sich jäh wandelnden Klangverbindungen in den einzelnen Stimmgruppen aufblitzende Lichtreflexe hervorbringen.

Der Lobgesang des Simeon (»Nun entlässest du, Herr, deinen Diener«; nicht Teil des Programms) kündigt bereits das Ende der Vesper an; aber auch der Gottesmutter Maria gebührt mit einem »Rejoice, Mary« (»Gegrüßet seist du, Maria«) zum Ende hin Verehrung. Abgeschlossen wird Vespers jedoch mit einer erneuten Hinwendung zu Jesus Christus in Form eines choralartigen, sechsstimmigen Schlussgesangs (»I will bless the Lord«), in dem häufige Gegenmelodien die musikalische Klarheit eher noch verstärken und einen ganz individuellen Eindruck von Zeitlosigkeit hinterlassen. »Musik sollte den Zuhörer erschüttern«, äußerte Galina Grigorjeva einmal in einem Interview. Jedenfalls entführt ihre Musik ihn zumindest in eine andere Dimension.

Weitere Konzerte

Fr. 19. Apr, 20.00 Uhr
München, Isarphilharmonie im Gasteig HP 8
Sir Simon Rattle (Foto: Oliver Helbig)
Sir Simon Rattle dirigiert Schönbergs »Gurre-Lieder«
75 Jahre Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks – Galakonzert
Sa. 27. Apr, 20.00 Uhr
München, Prinzregententheater
4. Chor-Abonnementkonzert 2023/24
Jesu, meine Freude
Peter Dijkstra dirigiert Chormusik von Bach, Buchenberg und Poulenc sowie Frank Martins Messe für Doppelchor
Sa. 15. Jun, 20.00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz
5. Chor-Abonnementkonzert 2023/24
Veni creator spiritus
Michael Hofstetter dirigiert Werke von Lasso, Praetorius, Schütz und Gabrieli sowie neue Chormusik von Richard van Schoor
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