Manfred Honeck zu Gast bei BR-Chor und BRSO

Abonnementkonzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks
Donnerstag
30
März 2023
20.00 Uhr
München, Isarphilharmonie im Gasteig HP 8

Konzerteinführung um 18.45 Uhr
mit Manfred Honeck und Julian Anderson
Michaela Fridrich, Moderation

Konzert in München
Freitag
31
März 2023
20.00 Uhr
München, Isarphilharmonie im Gasteig HP 8

Konzerteinführung um 18.45 Uhr
mit Manfred Honeck und Julian Anderson
Michaela Fridrich, Moderation

Konzert in München
Samstag
1
April 2023
19.00 Uhr
München, Isarphilharmonie im Gasteig HP 8

Konzerteinführung um 17.45 Uhr
mit Manfred Honeck
Wolfgang Gieron, Moderation

Konzert in München

Programm

Julian Anderson
Exiles. Remembrances
für Stimmen und Orchester

Auftragskomposition von London Symphony Orchestra, London Symphony Chorus, Boston Symphony Orchestra und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

I.   le 3 mai
II.  Tsiyon
III.   La république des lettres
IV.   le 6 octobre
V.   Praise and Farewell

Julia Bullock | Sopran

Pause
Dmitrij Schostakowitsch
Symphonie Nr. 5
d-Moll, op. 47

• Moderato
• Allegretto
• Largo
• Allegro non troppo

Mitwirkende

Chor des Bayerischen Rundfunks
Peter Dijkstra Einstudierung
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Manfred Honeck Leitung

Konzertvideo

BR-Chor und BRSO in der Münchner Isarphilharmonie am 13./14.10.2022 unter der Leitung von Duncan Ward in Mendelssohns ELIAS (Foto: Astrid Ackermann)
Kurzinfo
Interpreten
Gesangstext

Werkeinführung

Julian Anderson (Foto: John Batten)

Julian Anderson
*6. April 1967 in London

Exiles
Entstehungszeit: 2020/21, Widmung: Sir Simon Rattle, Uraufführung: 22. April 2022 in Berlin, mit dem Deutschen Symphonieorchester Berlin, dem Rundfunkchor Berlin und Shioban Stagg unter der Leitung von Andris Poga

Die verbannten singen

Zu Julian Andersons »Exiles«
Von Rafael Rennicke

»Dieser Kuss ist rein«, singt der Solo-Sopran im ersten Satz von Julian Andersons Exiles. Und fügt sicherheitshalber hinzu, in der Art eines jener Reflexe, wie wir sie in den letzten Jahren gezwungenermaßen erlernt haben: »ohne Covid«. Wir befinden uns inmitten der Corona-Pandemie. Die Nachrichten über ihre bedrohlichen Auswirkungen auf unser Leben und auch unser öffentliches Musikleben reißen nicht ab. Da schreibt der Londoner Komponist Julian Anderson ein halbstündiges chorsymphonisches Werk, das die Lähmung des Lockdowns und die vom Virus infizierte künstlerische Kreativität direkt zum Thema macht. Doch nicht nur das. In Exiles kommen Exil-Erfahrungen zum Ausdruck, wobei der Titel-Plural sowohl mehrere Exile als auch die im Exil Lebenden, die Verbannten, meinen kann. So verbindet der zweite Satz die alttestamentliche Exil-Erfahrung des jüdischen Volkes mit dem Schicksal des rumänischen Komponisten Horaţiu Rădulescu, der in den 1960er Jahren vor dem kommunistischen Ceauşescu-Regime floh und Zuflucht in Frankreich fand. Im dritten Satz erinnert Anderson, dessen Familie während des Holocaust zahlreiche Mitglieder verlor, an die Zeit des Nationalsozialismus und verknüpft sie mit einem Psalm-Gebet. Auch im Schlusssatz vertont Anderson Psalm-Verse, um sie u. a. kurzzuschließen mit einem Gedicht Guillaume Apollinaires, einer Exil-Erfahrung der vorvergangenen Jahrhundertwende.

Dies sind gewaltig weitgespannte Panoramen, Resonanzräume, in denen auf teils überzeitlich formulierte Weise Menschheitsdramen zur Sprache kommen und Klagen und Hoffnungen widerhallen, die das Werk – mit den Worten des Komponisten – zu einer »Meditation über das Verlassen der Heimat und die Sehnsucht nach Rückkehr« machen. Zu einem denkwürdigen Zeugnis unserer Gegenwart wird Andersons Werk aber nicht deswegen, sondern aufgrund des ersten Satzes. Dieser ist der Zeit der Corona-Pandemie nicht nur unmittelbar entsprungen, sondern thematisiert sie auf eindrucksvolle Weise auch mit den Mitteln der Musik, speziell den Mitteln des während der Pandemie aus der Öffentlichkeit größtenteils verbannten Gesangs. Jedoch: Kann die von vielen Menschen als Vereinsamung erlebte Isolation des Lockdowns überhaupt in einen schlüssigen Zusammenhang gestellt werden mit der babylonischen Gefangenschaft des jüdischen Volkes, mit der Todesgefahr für Emigranten während der NS-Zeit? Kann das innere Exil, das Anderson hier im Blick hat – »the internal exile of Covid lockdown« –, mit der monströsen Tragik dieser anderen Exil-Erfahrungen in Verbindung gebracht werden, ohne dass der Versuch maßlos wirken müsste? Die Zwiespältigkeit des Unterfangens liegt auf der Hand.

Der erste Satz, »le 3 mai«, ist die Vertonung eines kurzen französischen Textes, den der marokkanische Komponist Ahmed Essyad einer Gruppe von Freunden am 3. Mai 2020 geschickt hat. Er beschreibt darin die Schönheiten der Natur, die eigentlich zu einem Spaziergang verführen. Aber der Lockdown verhindert das. Es bleibt die Einzelhaft am Schreibtisch, das Sitzen vor einem leeren Blatt Papier, das vergebliche Warten auf Inspiration. Nicht nur der Text, obgleich in der Prosa einer E-Mail verfasst, erinnert an ein frühbarockes Sonett. Auch Anderson scheint in seiner Vertonung aus dem von Essyad bereitgestellten Fundus eines Locus amoenus (eines »lieblichen Ortes«) und dem dann plötzlich einfallenden »mais« (»aber«) – dem signifikanten Riss durch die Idylle – größten Gewinn zu ziehen: In der illustrativen, tonmalerischen Art eines Madrigals fängt der Solo-Sopran gleichsam wie ein Vogel den naturhaften Stimmungszauber einer freien Welt ein, unter südlicher Sonne zumal, wie es Julian Anderson bereits mehrfach suggestiv komponiert hat, etwa in seiner »Alhambra Fantasy« für Kammerensemble aus dem Jahr 2000.

Röhrenglocken begleiten dann das »Aber«, die beklemmende Einsicht in die Zwänge des Lockdowns: Nichts Feierliches, vielmehr Alarmierendes, Mahnendes ist ihnen eingeschrieben, und wie leises Dröhnen tönen sie dem Einsamen in seine kerkerhafte Innenwelt. Sehnsüchtig wartet das Ich auf »un signe de ma main« (»ein Zeichen meiner Hand«), den Moment der Freilassung von Kreativität, den zündenden Funken. Bei der sich ins Fortissimo steigernden Wiederholung dieser Passage verknüpft Anderson die Worte »ma main« mit dem Intervall des Tritonus, dem seit alters her als »diabolus in musica« und »Teufelsintervall« geltenden Tonsymbol für Schmerz, Düsternis oder kommendes Unheil. Der Kuss der Muse bleibt aus. Dem Ich bleibt nur, die fernen Freunde imaginär zu umarmen, imaginär zu küssen: »pur, sans Covid«. Lange, weite Kantilenen spannen sich dabei in den Raum, »molto espressivo«. Wenn das Wort »Covid« in der Singstimme erstmals fällt, folgt die Reaktion des Orchesters unmittelbar: in Form von zwei fanalartigen Schlägen im Fortissimo, angestimmt von Schlagzeug, Harfe und Klavier sowie dem gesamten Streicherapparat im Pizzicato, angeführt von den Ersten Geigen mit den Tönen ›c-fis‹, abermals dem Intervall des »diabolus in musica«. Eindringlicher als hier dürfte bislang kaum das Gefühl der gelähmten Kreativität, wie es viele Künstlerinnen und Künstler erlebt haben, in eine direkte Verbindung mit der Corona-Pandemie gebracht und in Musik gesetzt worden sein.

Als Solitär war »le 3 mai« im Rahmen des digitalen Corona-Projekts »Eight Songs From Isolation« im September 2020 in einer ersten Fassung zur Aufführung gekommen. Und als gefühlter Solitär steht der Satz nun auch in Andersons »Exiles«-Fünfteiler, dessen für Januar 2022 in München geplante Uraufführung – Ironie des Schicksals – coronabedingt abgesagt werden musste und vier Monate später in Berlin nachgeholt wurde.

Dezidiert im Kontrast zum ersten Satz mit seiner Erfahrung eines »internal exile« will Anderson in den nachfolgenden Sätzen das »external exile« einzelner Individuen und ganzer Nationen thematisieren – und dabei auch einige positive Facetten des Sujets beleuchten: Sein Werk sei auch, so Anderson, »eine Feier der Lebendigkeit, die Menschen erfasst, wenn sie Kreativität teilen, und eine Feier des Reichtums, der entsteht, wenn Menschen in andere Länder ziehen.« Die Chorsätze von »Exiles« wirken auf textlicher, aber auch musikalischer Ebene wie das Abbild eines solchen interkulturellen, polyglotten Reichtums. Anderson, in dessen bisherigem Schaffen Chormusik bereits eine wichtige Rolle gespielt hat, scheint mit ihnen eine neue Stufe in seinem chor-symphonischen Komponieren erreicht zu haben. Denn schlicht beeindruckend ist, mit welcher schier überbordenden Phantasie und zugleich kompositorischen Souveränität er scheinbar weit voneinander entfernt liegende Texte in neue, poetische Zusammenhänge stellt und in suggestive musikalische Gesamttexturen überführt.

So überlagern sich im zweiten Satz »Tsiyon« Verse des auf Hebräisch gesungenen Psalms 137 mit zwei in englischer Sprache verfassten Gedichten des von Anderson auch als Komponist geschätzten Exil-Franzosen Horaţiu Rădulescu. Anderson, der mit jedem Werk aufs Neue an der Neuverortung konsonanter Klänge in einem nicht-tonalen Kontext feilt, setzt die Bibelworte in zum Teil betörend schön dahinschwebende Klänge und lässt sie mit Rădulescus melancholischen Exil-Reflexionen vom einfallenden Solo-Sopran dramatisch kommentieren. Noch kunstvoller konzipiert erscheint der dritte Satz »La République des Lettres – Homage to Varian Fry«, ein reiner A-cappella-Satz. In ihm vertont Anderson zunächst allein die Namen von 16 Emigrantinnen und Emigranten (u. a. Bohuslav Martinů, Hannah Arendt, Marc Chagall und Alma Schindler), die durch die Bemühungen des amerikanischen Diplomaten und Freiheitskämpfers Varian Fry gerettet werden konnten. Im weiteren Satzverlauf lässt Anderson die Namen von Worten aus Psalm 46 begleiten und auf berührende Weise in sie ein- und übergehen: »Eine feste Burg ist unser Gott« … Ein eindrucksvoll komponiertes, mitunter geradezu filmisch wirkendes musikalisches Mahnmal, das Licht wirft auf eine der hellen Seiten des tiefen Dunkels des Nationalsozialismus.

Wenn es schließlich im fünften Satz – »Praise and Farewell« – in einem Vers aus Psalm 108 heißt: »My heart is ready, I will sing« (»Mein Herz ist bereit, ich will singen«), dann ist dieses Zeichen des Aufbruchs wohl kaum ohne die Erinnerung an das lähmende Lockdown-Nichts des weißen leeren Blattes im Eröffnungssatz von »Exiles« zu hören. Und ein Kreis zum Beginn des Werks scheint sich vollends zu schließen, wenn in den finalen Worten des tschechischen Dichters Vítězslav Nezval eines der Credos aller Verbannten angestimmt wird: »My fate is song« (»Mein Schicksal ist Gesang«). Anderson vertont die Worte »is song« mit den Tönen ›c-fis‹, auch hier mit dem Intervall des »diabolus in musica«. Doch hymnisch klingen sie jetzt, kraftvoll und hoffnungsgewiss, im Modus einer Auferstehung. Die Verbannten werden sich retten mit Gesang.

JULIAN ANDERSON ÜBER »EXILES«

»Exiles« ist eine Meditation über Aspekte der physischen Vertreibung und der kulturellen Sehnsucht. Die Texte stammen aus verschiedenen Traditionen und sind in vier Sprachen verfasst: Französisch, Hebräisch, Englisch und Tschechisch. Der Bogen spannt sich von antiken und mythischen bis hin zu zeitgenössischen und sehr persönlichen Texten, um das Thema Exil aus unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Perspektiven zu beleuchten.

Ungewöhnlicherweise handelt es sich bei dem Text von »le 3 mai« um eine E-Mail, die an jenem Tag im Jahr 2020 verschickt wurde. Diese außerordentlich poetischen und berührenden Zeilen hat der marokkanisch-französische Komponist Ahmed Essyad an einige seiner Komponistenkollegen geschickt. Er schildert darin die Frustration und Verwirrung seines »internen Exils«, in dem er – während des Lockdowns in der ersten internationalen Covid-Welle – auf behördliche Anordnung sein Haus nicht verlassen durfte. Essyad blickt auf den wunderschönen Berg Zerhoun und wartet darauf, dass seine Hand mit der Komposition eines neuen Werkes beginnt. Zum Schluss schickt er allen Kollegen einen bewegenden Gruß. Der Text endet mit seiner Unterschrift, die ich auch in Musik gesetzt habe.

»Tsiyon« vertont den Psalm 137 »An den Wassern zu Babel« im hebräischen Original. Der Text spricht von der Sehnsucht nach der Heimat Zion (»Tsiyon«). Der erste Teil spricht in der »kollektiven« ersten Person Plural und wird vom Chor vorgetragen. Die Sopranistin singt unterdessen wunderschöne englische Verse mit dem Titel »Exile« des 2008 verstorbenen rumänischen Komponisten Horaţiu Rădulescu, der Ende der 1960er Jahre vor dem kommunistischen Regime Ceauşescus nach Frankreich geflohen war. Im Gegensatz zu Psalm 137 ist Rădulescus erster Text persönlich und intim. Gegen Ende wechselt auch Psalm 137 in die subjektive und persönliche Perspektive. Nun spricht die erste Person Singular – ab hier singt der Solo-Sopran. Dazu erklingt im Chor ein zweiter englischer Text von Rădulescu. Diese nun objektiveren Verse erinnern an das Paradebeispiel des Exilanten Odysseus, der in der Dämmerung endlos am Ufer entlang wandert.

»La République des Lettres« ist eine Hommage an den amerikanischen Diplomaten Varian Fry, der 1940/1941 rund 2500 europäische Bürger vor den Nationalsozialisten rettete. Als Mitglied des Emergency Rescue Committee kam Fry 1940 nach Europa und konnte hier vielen berühmten Künstlern, Dichtern, Romanciers, Philosophen, Malern und Musikern die Ausreise ermöglichen. Aber auch Menschen aus anderen Lebensbereichen verhalf er auf diese Weise zur Flucht.

Die Namen einiger dieser Personen habe ich vertont. Meine Auswahl umfasst nicht nur viele führende Persönlichkeiten der Kultur der letzten 100 Jahre, sondern auch einige prominente noch aktive Musiker – wie den Dirigenten Diego Masson oder den Komponisten Christian Wolff. Erst während meiner Arbeit erfuhr ich, dass auch die bedeutendste lebende französische Komponistin Betsy Jolas durch Varian Fry gerettet wurde. Ihr Name kommt im Text dieses Satzes vor.

Im Chor I sind die Namen zunächst nur in Silbenfragmenten zu hören. Im Verlauf des Satzes kristallisieren sich die Silben von Chor I zunehmend zu erkennbaren Namen, die dann mit Chor II geteilt werden. Psalm 46 gewinnt gleichzeitig an Bedeutung und breitet sich auf Chor I aus, so dass es Momente gibt, in denen beide Chöre einen Text gemeinsam singen und den anderen Text vorübergehend zum Schweigen bringen. Schließlich trennen sich die Texte wieder in die ihnen zugewiesenen Chöre I und II, bevor der Satz zu einem dramatischen Schluss geführt wird.

»Le 6 octobre« entstand in Andenken an den Musikwissenschaftler Harry Halbreich, der an diesem Tag 1942 im Alter von nur elf Jahren zu Fuß aus Vichy-Frankreich in die Schweiz flüchtete (seine noch jüngere Schwester Janine war bereits Tags zuvor geflüchtet). Gegen Ende seines Lebens erzählte mir Halbreich viel von den Ereignissen dieses Tages und dieser bewegten Zeit seines Lebens. Während Harry und seine Schwester Janine überlebten, starben ihre Eltern tragischerweise auf der Flucht durch die Berge. Meine Musik spiegelt diese Ereignisse nicht exakt wider. Sie ist nur eine abstrakte Reaktion.

»Praise and Farewell« vertont drei Texte. Zuerst einen Teil von Psalm 108 (in Englisch) im Chor: eine Feier, in der alle Nationen zum Lobpreis zusammenkommen. Dieser Abschnitt wird von Guillaume Apollinaires witzigem und respektlosem Gedicht »La grace exilée« unterbrochen, das einen Regenbogen im Exil beschreibt – gesungen vom Solo-Sopran. Schließlich erklingt ein Text des surrealistischen tschechischen Dichters Vítězslav Nezval: »Sbohem a šáteček« (»Lebewohl und Taschentuch«), und zwar in einer Mischung aus Tschechisch und meiner englischen Übersetzung. Im Original stiftet der Autor beim Leser bewusst Verwirrung, ob der Text an ein Land oder an eine einzelne Person gerichtet ist. Vielleicht ist er beides.

»Exiles« ist Sir Simon Rattle gewidmet.

Julian Anderson, Januar 2022

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