Kreuzwege
Konzerteinführung: 19 Uhr
mit Herbert Schuch
Moderation: Michaela Fridrich

Programm
- Vexilla regis
- O crux ave
- Station I. Jesus wird zum Tod verdammt
- Station II. Jesus trägt sein Kreuz
- Station III. Jesus fällt zum ersten Mal
- Station IV. Jesus begegnet seiner heiligen Mutter
- Station V. Simon von Kyrene hilft Jesus das Kreuz tragen
- Station VI. Sancta Veronica
- Station VII. Jesus fällt zum zweiten Mal
- Station VIII. Die Frauen von Jerusalem
- Station IX. Jesus fällt zum dritten Mal
- Station X. Jesus wird entkleidet
- Station XI. Jesus wird ans Kreuz geschlagen
- Station XII. Jesus stirbt am Kreuz
- Station XIII. Jesus wird vom Kreuz genommen
- Station XIV. Jesus wird ins Grab gelegt
Chor-Soli
Magdalena Dijkstra, Julia Price | Sopran
Merit Ostermann | Mezzosopran
Veronika Sammer | Alt
Gabriel Sin | Tenor
Christopher Dollins | Bariton
Michael Mantaj | Bass
- Come, daughter
- It was terribly cold
- Dearest heart
- In an old apron
- Penance and remorse
- Lights were shining
- Patience!
- Ah! perhaps
- Have mercy, my God
- She lighted another match
- From the sixth hour
- She again rubbed a match
- When it is time for me to go
- In the dawn of morning
- We sit and cry
Chor-Soli / Percussion
Eunkyung Shin | Sopran
Ursula Thurmair | Mezzosopran
Nikolaus Pfannkuch | Tenor
Timo Janzen | Bariton
Mitwirkende
Wer wagte es, nach Bach noch eine Passion zu komponieren? Zu den alternativen musikalischen Annäherungen zählt Via crucis von Franz Liszt, deren 14 Sätze mit einem einleitenden Hymnus die Stationen des Kreuzweges mit Solisten, Chor und Klavier ausdrucksstark nachzeichnen.
Das menschliche Drama von Armut und Verlassensein, das im berühmten Märchen von Hans Christian Andersen um ein Schwefelhölzer verkaufendes Mädchen traurige Gestalt annimmt, bildet die literarische Vorlage für die »Passion« des Pulitzer-Preisträgers David Lang.
In seiner Little Match Girl Passion von 2007 bringt er den Leidensweg des Mädchens mit mystischen Visionen und Texten aus Bachs Matthäus-Passion in unsere Zeit.
Gesangstexte (auch offline lesbar)
Werkeinführungen

Franz Liszt
* 22. Oktober 1811 in Raiding (Doborján, Königreich Ungarn; heute: Burgenland, Österreich)
+ 31. Juli 1886 in Bayreuth
Via crucis
Die 14 Stationen des Kreuzweges für Soli, Chor und Klavier, S 53
Entstehungszeit: September 1878 bis Februar 1879
Uraufführung: 29. März 1929 in Budapest unter der Leitung von Artúr Harmat
Wenn die Nacht nicht enden will
Franz Liszts Passionsmusik Via crucis. Von Wolfgang Stähr
Ja, der Franz Liszt kannte die Passionen! Aber die Passion? Sein Renommee als Frauenheld und Salonlöwe, die hysterische Verehrung, die ihm entgegenschlug, wenn die Damen der Gesellschaft seine Handschuhe stahlen und die Herren die Pferde vor seinem Wagen ausspannten, um ihn selbst zu ziehen; seine legendären Auftritte mit »langen Haaren, verzückten Blicken, krampfhaften Gebärden und dämonischen Bewegungen« (wie sie der Schriftsteller Théophile Gautier schilderte), seine übernatürliche Virtuosität, die dunkle, romantische Aura des »diable du piano« – alles begründete den guten schlechten Ruf, der ihn verfolgte, sogar nachdem sich Liszt schon längst von den Konzertpodien zurückgezogen hatte.
Ganz immens war deshalb das Erstaunen, als sich herumsprach, dass Liszt 1865 in Rom in den geistlichen Stand getreten war. »Von Liszt, dem Tonkünstler, war man plötzliche Ausweichungen in fremdeste Tonarten gewohnt, bei denen Musiker strenger Observanz in die Höhe fuhren«, schrieb der Musikhistoriker August Wilhelm Ambros, »aber die Modulation, welche Liszt jetzt auch in seinem Leben so plötzlich machte, hatte kein Mensch erwartet.« Bevor Liszt die niederen Weihen des Weltgeistlichen empfing, um sich fortan als Abbé in die Soutane zu hüllen und mit der Würde des Klerikers aufzutreten (freilich ohne drastische lebenspraktische Konsequenzen), gab er in Rom noch eine Art Abschiedskonzert. »Er spielte die Aufforderung zum Tanz und Erlkönig – ein sonderbarer Abschied von der Welt. Niemand ahnte, daß er schon die Abbatenstrümpfe in der Tasche trug«, vermerkte der Historiker Ferdinand Gregorovius in seinem Tagebuch. »Dies ist das Ende des genialen Virtuosen, einer wahrhaft souveränen Persönlichkeit. Ich bin froh, daß ich Liszt noch spielen hörte; er und das Instrument schienen mir zusammengewachsen, als wie ein Clavier-Centaur.«
Naturgemäß wurde viel getratscht in dieser Zeit, es mangelte nicht an hämischen Kommentaren und spöttischen Anekdoten: Liszt soll vor seinen Besuchern Pirouetten gedreht haben, um den Schwung der Soutane zu demonstrieren, und habe voller Stolz seine neuen Schuhe mit silbernen Schnallen vorgezeigt; er habe vor dem Papst die Beichte abgelegt, doch nach fünf Stunden sei der Pontifex erschöpft in sich zusammengesunken und habe dem reuigen Sünder nahegelegt, seine Bekenntnisse besser am Klavier abzubüßen. Außerdem kursierten ungleich seriösere Gerüchte, Franz Liszt werde als ein zweiter Palestrina mit der Erneuerung der katholischen Kirchenmusik betraut und zum Musikdirektor des Vatikans berufen. Liszt schien keineswegs abgeneigt, den »Kanon des Kirchengesangs«, wie er sagte, neu zu bestimmen, auch wenn er diese Ambition später weit von sich wies: »Ich habe niemals eine Stellung oder irgendeinen Titel in Rom erwartet oder gewünscht. Hätte mir der Heilige Vater die Sixtinische Kapelle anvertraut, ich hätte sie aus Verehrung seiner Güte und aus Gehorsam angenommen.«
Liszt, der die katholische Kirche früher noch mit einer stehengebliebenen Uhr verglichen hatte, war Rom mit den Jahren nicht allein geographisch nähergekommen. Der revolutionär-religiöse Überschwang seiner Jugend klärte sich, kühlte sich ab und wich einer institutionell gerahmten Frömmigkeit. Die Kunst sei »keine Religion für sich selbst«, betonte Liszt, sondern »die ausdrückliche Menschwerdung der wahren Religion, katholisch, apostolisch und römisch«. Den romantischen Weltschmerz hingegen hielt er für einen »überwundenen Standpunkt«. Aber die Kirchenmusik, die er in seinen späten Jahren schrieb, blieb immer neu, radikal, fremd, sperrig und eigensinnig. Und zu seinen Lebzeiten unaufgeführt wie die Via crucis, an der Liszt im Herbst 1878 unweit von Rom arbeitete, als Gast des Kardinals zu Hohenlohe-Schillingsfürst in der Villa d’Este in Tivoli.
Die »via crucis«, der Kreuzweg mit seinen je nach Tradition sieben oder vierzehn Stationen der Passion Christi, von der Verurteilung zum Tod bis zur Kreuzabnahme und Grablegung, wurde über die Jahrhunderte an den überlieferten Schauplätzen in Jerusalem, auf Wallfahrten, weltweit in den katholischen Kirchen, unter Bildstöcken und an Kapellen im Freien oder auf den Kalvarienbergen gebetet. Franz Liszt dachte bei seiner Komposition vor allem an die Karfreitagsprozession im römischen Kolosseum, »an diesem Ort, dessen Boden mit dem Blut der Märtyrer getränkt ist«. Er schrieb seine »14 Stationen des Kreuzweges« für Solostimmen, Chor und Orgel (ursprünglich Klavier), begeisterte sich aber für die Idee, ein großes Harmonium in die Ruinen des Kolosseums zu tragen, um ebenda seine musikalischen Andachten singen zu lassen: »Ich wäre glücklich, wenn man dort eines Tages diese Töne vernehmen könnte, die nur schwach die innere Bewegung wiedergeben, von der ich durchdrungen war, wenn ich, auf den Knien mit der frommen Prozession, mehr als einmal die Worte wiederholte: O! Crux Ave! Spes unica!« Doch es blieb bei der Vorstellung: Via crucis wurde nirgendwo einstudiert, nicht einmal veröffentlicht und stieß auf die entschiedene Ablehnung durch die Gralshüter des erzkatholischen, musikalisch strikt rückwärtsgewandten Cäcilianismus. Erst mit fünfzigjähriger Verspätung, am Karfreitag des Jahres 1929, wurde das Werk in Budapest uraufgeführt.
Franz Liszt schuf eine Musik von abgründiger Kontemplation, eine »Studie in Schwarz«, die nur selten von Lichtreflexen oder grellen Kontrasten erhellt wird. Er verzichtet nahezu vollständig auf dramatische Effekte. Lediglich in der achten Station, nach den Worten Jesu »Weint nicht über mich, weint über euch selbst und eure Kinder«, brechen im Allegro marziale des Klaviernachspiels die Trompeten des Jüngsten Gerichts herein; und auch die Kreuzigung übersetzt Liszt schroff und anschaulich in frappante, dissonante, überdies ametrische Akkorde, ein nachgerade selbstzerstörerischer Anschlag auf Takt und Harmonie. Aber an ein Passionsspiel mit verteilten Rollen erinnert Via crucis allenfalls rudimentär, beinahe abstrakt, wenn in knappen Zitaten aus den Evangelien, zumeist in unbegleiteten Solorezitativen, Pilatus, Christus und das aufgehetzte Volk zu hören sind. Alles in allem setzt Franz Liszt nicht auf Drama und Erzählung, auch nicht auf die Tondichtung, seine Königsdisziplin, sondern auf die theologische Botschaft und die Anonymität eines überzeitlichen Kirchengesangs. Immer wieder intoniert der Chor das »Vexilla regis«, den lateinischen Hymnus »zu Ehren des heiligen Kreuzes«, ebenso das mittelalterliche »Stabat mater«, das die römische Kirche der Messe am »Fest der sieben Schmerzen Mariens« zuwies. Und an der zwölften Station Friedrich Spees Passionslied O Traurigkeit, o Herzeleid. Doch singt der Chor inmitten dieser katholischen Andacht auch einen protestantischen Klassiker: Paul Gerhardts O Haupt voll Blut und Wunden (mit musikhistorischen Assoziationen an Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion).
Franz Liszt eröffnet Via crucis mit einer Intonation, zuerst im Klavier, die er aus dem gregorianischen Choral kannte und als »tonisches Symbol des Kreuzes« identifizierte, andererseits aber dermaßen häufig in seinen Werken platzierte, dass diese Tonfolge schon einem Künstlermonogramm gleichkam. Passenderweise prägt Liszt dem Klaviervorspiel zu O Haupt voll Blut und Wunden das B-A-C-H-Motiv ein: als versteckter Gruß des Nachfolgers an den Vorgänger, dessen »kostbare Dissonanzen« und »polyphone Spezereien« er bewunderte. Auf vielen Stationen des Liszt’schen Kreuzwegs wird kaum oder überhaupt nicht gesungen: Die Versenkung in die Passion Christi, in das Leiden und Mitleiden, bleibt ganz dem Klavier, dem Pianisten vorbehalten. Und dessen Sätze oder Zwischenspiele bestimmen den Charakter des Werkes stärker als alles andere: in ihrer monologischen Einsamkeit, der Auflösung der Harmonik bis an den Rand der Atonalität, in ihrer Fragilität und Fragmentierung, der »Bitternis des Herzens«, wie Liszt den Alterspessimismus seiner späten, rätselhaften, depressiven Klavierstücke umschrieb, zu denen auch diese instrumentalen Meditationen in Via crucis gehören. Ja, Franz Liszt kannte die Passion. Er verweigert den Trost nicht, aber er weiß auch um den Abgrund der Trauer, der Leere, der Sinnlosigkeit. Um die schwärzesten Stunden, wenn die Nacht nicht enden will.

David Lang
* 1957 in Los Angeles, Kalifornien
The Little Match Girl Passion
Entstehungszeit der Originalfassung für Solostimmen: 2007
Entstehungszeit der Chorfassung: 2008 im Auftrag des National Chamber Choir of Ireland
Widmung: Suzanne Bocanegra
Uraufführung der Chor-Fassung: 20. November 2008 in Dublin mit dem National Chamber Choir of Ireland unter Paul Hillier
Von Leid und Hoffnung
Legendäre Leidensgeschichten begegnen sich: Bachs Matthäus-Passion und Andersens Schwefelhölzer-Märchen. Von Anna Vogt
Menschliches Leid geht uns nah. Nachrichten von Kriegen und Krisen vor Ort und weltweit erreichen uns in den eigenen vier Wänden durch die umfassende und ununterbrochene Präsenz verschiedenster Medien. Mit ihnen sind auch die Geschichten ihrer Opfer allgegenwärtig, der Leidtragenden von Konflikten oder Umweltkatastrophen. Wie aber teilt sich solches Leid mit? Und wie geht die Gesellschaft mit dem Leid ihrer Mitmenschen um? Fragen wie diese wurden schon in der Barockzeit und auch in der Musik verhandelt – in der kompositorischen Form der Passion, benannt nach dem lateinischen Begriff für »Leiden«.
Die Passionen jener Zeit, etwa die stilbildenden Werke von Johann Sebastian Bach, reflektierten die Leidensgeschichte Jesu Christi, aber auch die Reaktionen der Menschen auf dieses Leid. Es ging schon damals auch um gesellschaftliche Wahrheiten, nicht ausschließlich um religiöse. Dennoch erscheint die Gattung der Passion durch ihre enge Verknüpfung mit christlichen Überzeugungen heute kaum mehr als eine Randnotiz – in einer Gegenwart, in der die hohe Zahl an Kirchenaustritten von einer Entfremdung zwischen den Menschen und der christlichen Religion zeugt. Insofern war die Entscheidung des US-amerikanischen Komponisten David Lang durchaus bemerkenswert, zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit The Little Match Girl Passion eine Zeitreise und zugleich einen künstlerischen Grenzgang zu wagen: Er konfrontierte die Handlung des Märchens vom Kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern des dänischen Dichters Hans Christian Andersen mit der Gattung der Passion – und das im Gewand einer zeitgenössischen, minimalistischen Klangästhetik.
Mystische Visionen im Schein der Flamme
Andersens Märchen aus dem Jahr 1845 hat mit seiner Drastik die Menschen von Anfang an fasziniert und berührt: Ein kleines Mädchen flieht am Silvesterabend vor seinem gewalttätigen Vater auf die Straße, um dort Streichhölzer zu verkaufen. Ohne warme Kleidung und von den Passanten ignoriert, harrt es erfolglos in der Kälte aus und wagt sich nicht nach Hause. Im Schein mehrerer Streichhölzer, die es in seiner Not schließlich entzündet, um sich daran zu wärmen, hat es mystische Visionen von einem behaglich brennenden Ofen, von einer festlich geschmückten Tafel und einem Weihnachtsbaum – und zuletzt von der geliebten, verstorbenen Großmutter. Sie nimmt das Mädchen schließlich zu sich in den Himmel. Sein erfrorener, starrer Körper bleibt am eisigen Neujahrstag zwischen den Häusern auf Erden zurück.
Der einzige Trost in dieser tragischen Geschichte ist der christliche Glaube, der das junge Mädchen bis zuletzt hält und stärkt. Lang formulierte es in einer Einführung zu dem etwa halbstündigen Werk abstrakter: Es gebe in Andersens Märchen »eine Art naives Gleichgewicht zwischen Leid und Hoffnung«. Die Kraft des Stoffs liege darin, dass »das Grauen und das Schöne ständig von ihren Gegensätzen durchdrungen« seien. Gefahr und Mut, Kälte und Wärme, Armut und Reichtum oder auch Kindheit und Alter: Das Märchen spielt subtil mit diesen Gegensätzen. Zugleich ist es auch eine Parabel über das Dazwischen, die Phase des Übergangs: Das alte Jahr weicht dem neuen, das Sterben verbindet Leben und Tod.
Hohe künstlerische und emotionale Qualität
Diese Geschichte inspirierte schon 1897 August Enna zur Vertonung in Form einer Oper, und hundert Jahre später schrieb Helmut Lachenmann ein erfolgreiches Musiktheater nach dem Stoff. Die Komposition von David Lang entstand 2007 als Auftrag der New Yorker Carnegie Hall sowie des Theaters und Konzerthauses von Perth für den Bariton Paul Hillier und sein Vokalensemble Theatre of Voices. Lang erhielt für The Little Match Girl Passion 2008 den Pulitzer-Preis für Musik und 2010 einen Grammy. Dies zeugt von der hohen künstlerischen und emotionalen Qualität der Komposition, die heute zu den am häufigsten aufgeführten Werken der Neuen Musik gehört. Lang, der in Stanford sowie an der University of Iowa und an der Yale University studierte, ist seit 2008 Professor für Komposition an der Yale School of Music. 1987 war er Mitbegründer der einflussreichen New Yorker Projektgruppe Bang on a Can, einem auf Minimal Music und Pop spezialisierten Kollektiv der Neuen-Musik-Szene. Auch durch die langjährige enge Zusammenarbeit mit dem Kronos Quartet gilt der Minimalist David Lang als jemand, der gern über den Tellerrand schaut, Experimente wagt.
Es reizte ihn, das Märchen von Andersen mit der Form der Passion zu konfrontieren. Doch Lang machte deutlich: »In meinem Stück gibt es keinen Bach und keinen Jesus – vielmehr ersetzt das Leiden des kleinen Streichholzmädchens das Leiden Jesu, was (hoffentlich) ihren Kummer auf eine höhere Ebene hebt.« In der Textfassung, die Lang selbst zusammenstellte, kombinierte er Auszüge aus dem Märchen von Andersen in der ersten englischen Übersetzung von H.P. Paulli mit Fragmenten aus Bachs Matthäus-Passion nach Texten von Christian Friedrich Henrici, genannt Picander. Diese Passionstexte kommentieren das Geschehen von Andersens Geschichte als Reaktionen der Gesellschaft – etwa durch Klagen, Bedauern und Mitleid. Diese Reaktionen sind zugleich auch »Markierungen für unsere eigenen Reaktionen auf die Geschichte«, erläuterte der Komponist. Der Effekt: Das Publikum wird zu »mehr als bloß zum Zuschauer der traurigen Ereignisse auf der Bühne«. Durch ihre unterschiedlichen Perspektiven erhält Langs Passion auch eine theatralische Dimension und verwischt die Grenzen zwischen Konzert und Theater.
Genau kalkulierte Klangästhetik
Lang schrieb die erste Version für vier Solostimmen, ein Jahr später entstand die heute zu hörende Fassung für Chor mit Soli. Dazu kommt in beiden Fassungen ein kleines, aber vielfältiges Arsenal an Perkussionsinstrumenten, die von den Sängerinnen und Sängern selbst zu spielen sind, etwa Schellen, Glockenspiel und Röhrenglocken. Dieses karge Instrumentarium zahlt ein auf eine Klangästhetik, die in ihrer Reduktion der musikalischen Mittel genau kalkuliert ist: Die 15 miteinander verbundenen Teile bestehen meist aus kurzen, stark repetitiven musikalischen Sequenzen, die im Verlauf der Komposition wiederkehren. Aus diesen scheinbar einfachen Zutaten entwickeln sich in einem subtilen Gleichgewicht von Statik und Veränderung komplexe Miniaturen des Ausdrucks – Minimalismus par excellence.
Entsprechend der Erzähltechnik einer Passion verwendete Lang für die Passagen, die die Handlung vermitteln, rezitativische Elemente, die an Sprechgesang oder auch ans Predigen erinnern. Die Kommentare und Reaktionen der Gesellschaft dagegen sind in melodischerem, manchmal aufgewühltem Duktus vertont. Doch die Musik verliert nur selten die Nüchternheit, mit der das Schicksal des Mädchens erzählt und reflektiert wird. Diese Nüchternheit trägt bei zum Eindruck des Unausweichlichen und zu einer Atmosphäre des Stillstands, der Hoffnungslosigkeit und der Isolation. Zugleich scheint in diesem intimen Menschheitsdrama die Kälte selbst Einzug in die Musik gehalten zu haben: durch einen manchmal stockend wirkenden Sprechgesang, durch lange Pausen, die eisklaren Töne des Glockenspiels oder insbesondere in der Sterbeszene des Mädchens (Nr. 13) durch ein auskomponiertes Vibrato der Stimmen als eindrückliche Chiffre des Zitterns.
Von eisiger Schönheit
Der elfte Abschnitt, in dem sich im vielfach wiederholten Ausruf »Eli, Eli« (»Mein Gott, mein Gott«) die Verzweiflung des dem Tode nahen Mädchens in großen Intervallen Bahn bricht, ist die wohl deutlichste Verknüpfung dieser Passion mit der Leidensgeschichte Jesu. Auf den zweiten Teil »… lama sabachthani?« (»… warum hast du mich verlassen?«) dieser prophetischen Klage aus Psalm 22 verzichtete Lang allerdings in seinem Werk. Bei Andersen sind das Leiden und der Tod des Mädchens bei aller Tragik letztlich ambivalent. Das Märchen endet beinahe versöhnlich: »Niemand wusste, was sie Schönes erblickt hatte, in welchem Glanze sie mit der alten Großmutter zur Neujahrsfreude eingegangen war!« Doch bei Lang wird deutlich, dass mit dem Tod des Mädchens etwas fehlt in der zurückbleibenden Welt. Wenn die Stimmen schließlich verstummen und nur noch in hohlen, rhythmischen Zellen der Perkussionsinstrumente nachhallen, nehmen Stille und Kälte die Szenerie endgültig ein: reduziert, konzentriert und von eisiger Schönheit.

In jüngerer Zeit erfährt Herbert Schuch in besonderer Weise Prägung in der Begegnung und Arbeit mit Alfred Brendel.
Herbert Schuch
Der 1979 im rumänischen Timișoara geborene Pianist Herbert Schuch gehört zu den Ausnahmeerscheinungen der heutigen Klavierwelt. Nach Studien bei Kurt Hantsch und Karl-Heinz Kämmerling am Salzburger Mozarteum gewann er binnen eines Jahres Erste Preise in drei international angesehenen Klavierwettbewerben: beim International Piano Competition »Alessandro Casagrande«, beim Internationalen Beethoven Klavierwettbewerb Wien und bei der London International Piano Competition. Bald darauf entwickelte sich seine aufsehenerregende Laufbahn, zu der die regelmäßige Kooperation mit renommierten Ensembles gehört, wie dem London Philharmonic Orchestra, dem City of Birmingham Symphony Orchestra, dem Orchester des Mariinsky-Theaters, dem Orchestra della RAI Torino, den Münchner Philharmonikern, der Dresdner Philharmonie, der Camerata Salzburg, den Rundfunkorchestern des hr, MDR, WDR und NDR sowie dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg.
Zu den namhaften Dirigenten, mit denen Herbert Schuch zusammengearbeitet hat, zählen Pierre Boulez, Kent Nagano, Yannick Nézet-Séguin, Jukka-Pekka Saraste und Reinhard Goebel. Zugleich ist Herbert Schuch ein begehrter Kammermusikpartner und tritt regelmäßig u.a. mit dem Cellisten Daniel Müller-Schott oder der Pianistin Gülru Ensari auf. Einen beträchtlichen Teil seines umfangreichen, sich von den Meisterwerken der Wiener Klassik über die hochvirtuose Klavierliteratur der Romantik bis hin zu Raritäten des 20. Jahrhunderts erstreckenden Repertoires hat Herbert Schuch auch auf CD eingespielt, oft in innovativen Kombinationen: So treffen in einem seiner letzten Alben das Erste Klavierkonzert Beethovens und das heute selten gespielte Klavierkonzert des deutschjüdischen Komponisten Erwin Schulhoff aufeinander, während er in seiner neuesten CD zusammen mit der Pianistin Gülru Ensari Werke von Schubert, Beethoven und Brahms mit Musik von Olivier Messiaen verbindet.