Cum jubilo – Wie Frankreich klingt
Konzerteinführung: 19 Uhr
mit Peter Dijkstra
Moderation: Julia Schölzel
Programm
Julia Price | Sopran-Solo
Ursula Thurmair | Alt-Solo
Gabriel Sin | Tenor-Solo
Fassung für gemischten Chor, Harfe und Streicher von John Rutter
Eugene Nakamura | Violine
Mitwirkende
Seit jeher gilt die französische Musik als besonders sanglich – für den Künstlerischen Leiter des BR-Chores Peter Dijkstra ein guter Grund, Werke von vier Franzosen aus zwei Generationen zu präsentieren. Zu hören ist neben einer preisgekrönten Wettbewerbskomposition des Studenten Gabriel Fauré dessen zum Kanon der großen Requiem-Vertonungen zählendes Opus 48! Maurice Duruflés Messe »cum jubilo« entführt uns in die Klangsphären des Gregorianischen Chorals, und O sacrum convivium! des Fauré-Schülers Olivier Messiaen schlägt zeitgemäß andere Töne an. Den französischen Sangesreigen rundet Musik des Enfant terrible und spät zum Glauben bekehrten Francis Poulenc ab. Seine A-cappella-Messe weist eine Stilvielfalt auf, für die ihr Schöpfer weithin bekannt ist.
Mitwirkende
Werkeinführungen
Francis Poulenc
* 7. Januar 1899 in Paris
† 30. Januar 1963 in Paris
Messe in G-Dur
für Chor a cappella, FP 89
Entstehungszeit: im August 1937 in Anost (Burgund) vollendet
Widmung: dem Gedenken an Poulencs Vater
Uraufführung: 3. April 1938 in Paris mit Les Chœurs de Lyon
Lausbub oder Mönch?
Francis Poulencs Messe in G-Dur zwischen Klangsinnlichkeit und Askese. Von Susanne Schmerda
Der Pariser Musikkritiker Claude Rostand charakterisierte ihn einst als eine Mischung aus Mönch und Lausbub, und in der Tat besticht das bunt schillernde Lebenswerk Francis Poulencs durch eine ganz individuelle, nur auf den ersten Blick widersprüchliche Verschmelzung von religiöser Andacht und überschwänglicher Heiterkeit, von üppigen Klängen und asketischer Einfachheit, von Esprit, Grazie und Kraft. Francis Poulenc hat nie ein Konservatorium besucht, seine Musik scheint vom Augenblick diktiert zu sein, trägt den Reiz des Ungezwungenen einer freien Improvisation. Wie seinem Musikerkollegen Darius Milhaud gelang ihm vieles scheinbar mühelos aus dem Stegreif – Poulenc war stolz darauf, instinktiv statt nach Regeln zu arbeiten. Seine Vielseitigkeit spiegelt sich in einem Œuvre, das alle Gattungen umfasst: Ballette, Opern, Schauspiel- und Filmmusik, Kammermusik und Orchesterwerke, weltliche und geistliche Chormusik. Er verkörpert den typischen »musicien français«, nie um Einfälle verlegen, immer geistreich mit einem untrüglichen Gespür für natürlich strömende Melodik, wofür die vielen Klavierlieder und eine sakrale A-cappella-Chormusik schönste Beispiele geben.
Aufgewachsen in einer wohlhabenden Familie, erhält Poulenc sechsjährig ersten Klavierunterricht von seiner Mutter, einer Pianistin, spielt Mozart, Chopin und die Lieder Schuberts. Mit 16 komponiert er erste Werke im Stil Debussys und Chabriers; der spanische Pianist Ricardo Viñes, der Poulenc 1914 bis 1917 unterrichtet, führt ihn in die Pariser Avantgardekreise ein. Poulenc lernt Cocteau und Satie kennen, stößt bald auf Milhaud, Honegger, Auric, Durey und Tailleferre – heute sind »Les Six« längst Musikgeschichte. Zwar trennt die sechs jungen Komponisten kompositorisch mehr als sie eint, doch setzen sie Maßstäbe, indem sie Cocteaus musikästhetischem Ideal einer ironischen, unaufdringlichen Schlichtheit folgen. Von der Übermacht Wagners und Debussys befreit man sich zugunsten einer unterhaltenden Musik des Alltags, der Music-Hall und des Zirkus, wie sie Satie schreibt. Poulencs Durchbruch gelingt mit dem von Diaghilew produzierten Ballett Les Biches im Jahr 1923, privat lernt er zu dieser Zeit Harmonielehre bei dem Massenet-Schüler Charles Koechlin. Ab 1925 orientieren sich seine Werke am Neoklassizismus Strawinskys, und Mitte der 30er Jahre dann nimmt Poulencs Komponieren eine entscheidende Wendung: Der Tod eines Freundes berührt ihn derart, dass er zum Katholizismus zurückfindet und verstärkt geistliche Musik komponiert.
Ein ernster Tonfall kehrt in seine Werke ein. Poulenc, der sich einmal als »Geistlicher vom Land« bezeichnet hat und das Licht- und Schattenspiel seiner Kirchenmusik mit der Architektur romanischer Kirchen Südfrankreichs vergleicht, entwickelt einen ganz spezifischen Sakralstil, macht stilistische Anleihen bei der niederländischen Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts ebenso wie bei dem Psalmenkomponisten Claude Le Jeune oder den Chorälen Bachs. Poulenc ist ein Eklektiker, ein konservativer Traditionalist, der die Grenzen der Tonalität nie verlässt, der weder harmonisch, satztechnisch noch rhythmisch Neuland betritt, dessen Persönlichkeit aber im lyrischen Melos seiner archaisch-reinen A-cappella-Chöre durchscheint. Ihr Text ist dank syllabischer Stimmführung stets klar verständlich, der Chorsatz meist breit aufgefächert, sodass ein reicher, voller Klang von bisweilen schimmernder Farbigkeit entsteht; Dur- und Moll-Tonarten überlagern sich oft.
Dem Andenken seines 1917 verstorbenen Vaters hat Poulenc seine Messe in G-Dur aus dem Jahr 1937 gewidmet. Weich strömende, duftig-beseelte Passagen, so im Mittelteil des Kyrie, wechseln mit farbigen Abschnitten voll raffinierter Klangballungen und emphatisch-dissonanter Ausrufe, beispielsweise im Sanctus. Entsprechend einer französischen Tradition verzichtet Poulenc auf die Vertonung des Credo. Die Messe, deren markantestes Merkmal nicht zuletzt die Strawinsky verpflichtete antiphone Setzweise von hohen und tiefen Stimmen, Solo- und Tutti-Abschnitten, weiter und enger Stimmführung ist, endet unisono in verklärendem Pianissimo – »Herr, gib uns Frieden«. Der puristische Chorgesang scheint sich gleichsam in Stille aufzulösen.
Maurice Duruflé
* 11. Januar 1902 in Louviers (Département Eure, Normandie)
† 16. Juni 1986 in Paris
Messe »cum jubilo«
Fassung für Bariton-Solo, Herrenchor und Orgel, op. 11
Entstehungszeit: Originalfassung mit Orchesterbegleitung im Sommer 1966 (uraufgeführt am 18. Dezember 1966 in Paris); 1967 umgearbeitet in eine Fassung mit Orgelbegleitung
Widmung: Duruflés Frau Marie-Madeleine
Uraufführung der Fassung mit Orgelbegleitung: November 1968 in der Kirche Saint-Merry, Paris
Gregorianischer Choral im Gewand des Impressionismus
Maurice Duruflés Messe »cum jubilo« zwischen alten und neuen Klangwelten. Von Florian Heurich
Bereits als Kind sang der 1902 in Louviers in der Normandie geborene Maurice Duruflé in der Chorschule der Kathedrale im rund 35 Kilometer entfernten Rouen. Dabei kam er schon früh in Kontakt mit zwei musikalischen Komponenten, die sein gesamtes kompositorisches Schaffen prägen sollten: der Singstimme und der Orgel. Insbesondere der gregorianische Choral zieht sich wie ein roter Faden durch seine Werke. Als Duruflé mit 17 Jahren zum Studium nach Paris ging, vertiefte sein erster Lehrer Charles Tournemire, Titularorganist an der Kirche Sainte-Clotilde, nicht nur seine Fähigkeiten im Orgelspiel, sondern brachte ihm auch das ganze klangliche und spirituelle Universum der Gregorianik nahe, die damals durch die Benediktinermönche der Abtei von Solesmes in Frankreich eine blühende Renaissance erlebte. Ein Jahr später schrieb sich Duruflé am Pariser Konservatorium ein und wurde Schüler von Eugène Gigout und Paul Dukas. Insbesondere im Kompositionsunterricht bei Dukas tauchte er in die Klangwelt des Impressionismus ein, die zu einer weiteren Inspirationsquelle für seine späteren Werke werden sollte.
Bereits zuvor hatte Tournemire Duruflé zu seinem Assistenten an der Orgel von Sainte-Clotilde des berühmten Orgelbauers Cavaillé-Coll ernannt, die einst César Franck eingeweiht hatte. Anschließend war er Assistenzorganist von Louis Vierne an der Kathedrale von Notre-Dame und hatte, nachdem er den renommierten Prix des amis de l’orgue gewonnen hatte, ab 1930 bis zu seinem Lebensende die Stelle des Titularorganisten an Saint-Étienne-du-Mont im 5. Pariser Arrondissement inne, direkt gegenüber seiner Wohnung an der Place du Panthéon. Außerdem unterrichtete er Orgel und Harmonielehre am Pariser Konservatorium. Zusammen mit einigen anderen Komponisten seiner Generation wie Olivier Messiaen, André Fleury oder Jean-Yves Daniel-Lesur wurde er ab den 1930er Jahren zum Inbegriff einer neuen französischen Orgeltradition mit einem erweiterten, ausdrucksstarken Klangspektrum. 1975 erlitt er bei einem Autounfall schwere Verletzungen und hat danach kaum mehr in der Öffentlichkeit gespielt.
Insbesondere in seinem Requiem aus dem Jahr 1947, seinem wohl berühmtesten Werk, finden sich sämtliche Einflüsse, die Duruflé geprägt haben, verwirklicht: gregorianischer Choral, modale Harmonien sowie ein auf die Orgel übertragenes orchestrales Kolorit. Aus all dem erwächst Duruflés sehr persönlicher, impressionistisch gefärbter Stil. Insgesamt hat er ein nicht besonders umfangreiches, aber sehr elaboriertes Werk hinterlassen, in dem alte Formen wie Präludium, Fuge oder Toccata vorherrschen. Da er sich stets selbstkritisch und perfektionistisch gab, war er auch ein eher langsamer, dafür aber umso gründlicherer Komponist.
Seine Messe »cum jubilo« hat Duruflé im Sommer 1966 für Männerchor, Bariton-Solo, Orchester und Orgel im südostfranzösischen Ménerbes geschrieben. Uraufgeführt wurde sie 1967 in der Salle Pleyel in Paris. Kurz darauf ist eine zweite Fassung lediglich mit Orgelbegleitung entstanden, bei deren Uraufführung im November 1968 in der Pariser Kirche Saint-Merry Duruflés Frau Marie-Madeleine, der die Messe gewidmet ist, an der Orgel saß. Ihren Titel trägt sie nach dem gregorianischen Choral, der dem Werk zugrunde liegt, der »Missa IX – cum jubilo – in festis Beatae Mariae Virginis«, also zum Fest der Heiligen Jungfrau Maria. Sowohl in der Gesangsstimme als auch im Instrumentalpart wird dieser Choral zum Teil direkt zitiert. Duruflé bettet die aus der Musik des Mittelalters übernommene einstimmige Gesangslinie in eine spätromantisch-impressionistische Klangwelt, sodass musikalische Tradition und Moderne zu einer eigenwilligen Synthese aus harmonisch-formaler Strenge und klanglicher Freiheit verschmelzen.
Während man sich im Kyrie tatsächlich noch in der Abgeschiedenheit einer Benediktinerabtei aus früheren Jahrhunderten wähnt, ist das Gloria, in dem der Solo-Bariton zum Chor hinzutritt, geradezu eine Explosion schillernder Klangfarben. Insbesondere im Sanctus gewinnt die Begleitstimme eine immer größere, symphonisch anmutende Eigenständigkeit gegenüber dem Choral, während sich das Benedictus als rezitativischer Sologesang des Baritons erweist. Die Messe endet in ebenso schlichter Eindringlichkeit, wie sie begonnen hat, wenn im Agnus Dei die Gesangsstimme auf den Worten »Dona nobis pacem« im Pianissimo quasi erstirbt. »Die reinen Gesänge, die einfachen Melodien, die so fesselnde modale Färbung laden aktiv zum Gebet ein«, so war in einer Uraufführungskritik in Le Figaro zu lesen, und in der Messe »cum jubilo« bringt Duruflé tatsächlich künstlerischen Anspruch und Spiritualität in Einklang.
Olivier Messiaen
* 10. Dezember 1908 in Avignon
† 27. April 1992 in Clichy (Département Hauts-de-Seine, Île-de-France)
O sacrum convivium!
Motette für Chor a cappella
Entstehungszeit: Anfang 1937, im Auftrag des Geistlichen Abbé Brun
Uraufführung: vermutlich am 17. Februar 1938 bei einem Konzert der Amis de l’Orgue in der Kirche La Trinité, Paris
Wahrheiten des Glaubens
Zu Olivier Messiaens O sacrum convivium! Von Anita Švach
Kaum ein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts war so tief im katholischen Glauben verwurzelt wie der 1908 in Avignon geborene Olivier Messiaen. Ein Fundament seines Glaubens bildete die Gewissheit der gütigen Präsenz Gottes: »Was ich glaube? Das ist schnell gesagt, und alles ist damit gesagt, mit einem Schlag: Ich glaube an Gott.« Messiaen komponierte Musik stets aus seiner tiefen Religiosität heraus und ließ sich dabei von seinem Vertrauen auf Gott inspirieren. Doch die Religion spielte nicht nur spirituell und intellektuell eine wichtige Rolle im Leben des Komponisten: Neben seiner Tätigkeit als Professor am Pariser Conservatoire – zu seinen bedeutendsten Schülern zählen Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen – wirkte Messiaen über 60 Jahre als Organist an der Kirche La Trinité in Paris: Jahre, in denen er zahlreiche Gottesdienste von der berühmten Cavaillé-Coll-Orgel aus miterlebte und mitgestaltete. »Ich bin als Organist dazu verpflichtet, am Gottesdienst teilzunehmen. In diesem Moment bin ich eng mit dem verbunden, was sich am Altar ereignet, beinahe ein Priester.« Viele seiner eigentlich nicht für den kirchlichen Rahmen komponierten Orgelstücke fanden so Eingang in den Gottesdienst. In Messiaens reichem Schaffen macht liturgische Musik nur einen sehr kleinen Teil aus, neben der Motette O sacrum convivium! und einer frühen unveröffentlichten Messe entstand 1950 die Messe de la pentecôte für Orgel. Trotzdem fiel Messiaens Beitrag zur Liturgie umfangreicher aus, als es auf den ersten Blick in den Werkkatalog scheint: Fast jedes Stück ist den »Wahrheiten unseres katholischen Glaubens« verpflichtet. Durch seinen Glauben und seine Musik fand er die Energie dazu, in einer ihm fremden Epoche zu leben. Flugzeuge, technische Errungenschaften, Hochhäuser und alles, was lärmte, waren ihm ein Gräuel, viel lieber verbrachte Messiaen seine Zeit in der Natur. Dort schöpfte er Kraft, fand Inspiration und zeichnete Vogelgesänge auf, die ab den 1950er Jahren als motivisches Material Eingang in seine Werke fanden.
Ganz untypisch für Messiaens von nicht-umkehrbaren Rhythmen, Vogelgesängen und speziellen Tonarten (Modi) bestimmte musikalische Sprache ist die Anfang 1937 entstandene Motette O sacrum convivium!. Möglicherweise sang der Kirchenchor von La Trinité die Motette bereits im Jahr ihrer Entstehung, die erste gesicherte Aufführung fand jedoch bei einem Konzert der Amis de l’Orgue am 17. Februar 1938 statt – ausgeführt von einer Sängerin mit Orgelbegleitung. Diese Besetzung darf durchaus im Sinne des Komponisten gelten, denn in seinem Buch Technique de mon langage musicale (1944) lautet die Angabe »für vierstimmigen gemischten Chor a cappella – oder für Sopran und Orgel«.
Der Text der Motette, der vom Geheimnis der Eucharistie handelt, geht vermutlich auf Thomas von Aquin zurück und erfreute sich in der Musikgeschichte großer Beliebtheit. Zu den bekannteren Vertonungen zählen etwa die von Andrea Gabrieli und Giovanni Battista Pergolesi. Ursprünglich hatte die Antiphon ihren Platz im Kirchenjahr in der Vesper an Fronleichnam, später wurde sie auch am Gründonnerstag in die Liturgie integriert. Die geheimnisvolle Aura des heiligen Abendmahls spiegelt sich in Messiaens Musik wider: Sie beginnt langsam und in sich ruhend mit engräumigen Ton- und Klangfortschreitungen, lediglich der Sopran hebt sich mit melodiöseren Wendungen ab. Erst die hoffnungsvolleren Zeilen »mens impletur gratia« und »et futurae gloriae nobis pignus datur« führen den Chor in verzückte Höhen und reißen alle Stimmen von der gleichförmigen, jeglichen Takt verschleiernden Rhythmik los. Messiaen verzichtet auf eine einheitliche Taktangabe und fasst entsprechend den Silbenzahlen Tongruppen von fünf, sieben, acht, neun oder 15 Achteln zu einer Einheit zusammen, so dass die Motette an die frei schwebende Rhythmik des gregorianischen Chorals erinnert. Bereits beim eigentlich so frohlockenden Alleluia sinkt der Klang zurück in die mystischen Tiefen des Anfangs, mit dessen Wiederholung das Werk schließt. Obwohl die Motette zu Messiaens Lebzeiten sehr beliebt war, entstanden keine Nachfolgewerke, vielleicht weil nach Meinung des Komponisten »kein Kirchenlied, so erfolgreich es auch sein mag, an die Schönheit des bescheidensten gregorianischen Hallelujas heranreichen« könne.
Gabriel Fauré
* 12. Mai 1845 in Pamiers (Département Ariège, Midi-Pyrénées)
† 4. November 1924 in Paris
Cantique de Jean Racine
Entstehungszeit der Fassung für Chor und Orgel/Klavier: 1864/65
Entstehungszeit der Fassung für Chor, Harmonium/Orgel und Streichquartett: entstanden 1866, uraufgeführt am 4. August 1866 in der Kirche Saint-Sauveur in Rennes, gedruckt 1876 und César Franck gewidmet
Entstehungszeit der Fassung für Chor und Orchester: uraufgeführt am 28. Januar 1906 in Paris bei der Société de concerts du Conservatoire, Dirigent Georges Marty (es bleibt unklar, ob diese Orchestrierung von Fauré stammt)
Requiem
Fassung von 1893 für Sopran, Bariton, Chor, Kammerorchester und Orgel, op. 48
Entstehungszeit: 1887 (fünfsätzige Erstfassung), 1893 (Fassung mit Offertorium und Libera me), 1900 (Fassung für großes Orchester)
Uraufführung der Erstfassung: 16. Januar 1888 in der Église de la Madeleine in Paris unter der Leitung des Komponisten zur Totenfeier von Joseph Le Soufaché
Uraufführung der Fassung für großes Orchester: 12. Juli 1900 im Palais du Trocadéro bei der Pariser Weltausstellung, Leitung: Paul Taffanel
Hommage an Kirche und Klassik
Zu Gabriel Faurés Cantique de Jean Racine. Von Florian Heurich
Nach seinen eigenen Aussagen war Gabriel Fauré kein besonders religiöser Mensch –»nicht gläubig, aber nicht skeptisch«, wie sein Sohn Philippe es präzisierte. Das ist umso erstaunlicher, als er doch seine musikalische Ausbildung an der École de musique classique et réligieuse absolviert hatte, die nach ihrem Gründer auch École Niedermeyer genannt wurde, danach rund vier Jahrzehnte als Kirchenmusiker tätig war und eine gewisse Anzahl an geistlichen Werken hinterlassen hat. Bereits als Neunjährigen hatte ihn sein Vater an Niedermeyers Institut geschickt, wo er Unterricht in Orgel, Klavier, Kontrapunkt, gregorianischem Gesang und Komposition erhielt, unter anderem bei Camille Saint-Saëns. Im Anschluss bekleidete Fauré Organistenstellen in Rennes und Clignancourt, war Chorleiter in Paris an der Kirche Saint-Sulpice und kam schließlich an die berühmte Madeleine, wo er 1877 zum Kapellmeister und 1896 zum fest angestellten Organisten der monumentalen Cavaillé-Coll-Orgel in diesem Gotteshaus ernannt wurde. Zur selben Zeit ließ er sich auch regelmäßig als Gast in den Pariser Salons sehen, unter anderem bei der Sängerin, Pianistin und Komponistin Pauline Viardot. Das mondäne, von Kunst, Literatur und Kultur geprägte Stadtleben gegen Ende des 19. Jahrhunderts bildete für Fauré die wohl weitaus größere Inspirationsquelle, während er seine kirchenmusikalische Tätigkeit eher als Broterwerb sah. Es scheint bezeichnend für Faurés Einstellung gegenüber Kirche und Religion und seine Auffassung von Musik, dass er später, als er aus seinem Dienst als Kirchenmusiker ausgeschieden war und ans Pariser Konservatorium wechselte, nie wieder geistliche Musik komponierte.
Der Cantique de Jean Racine geht noch auf Faurés Zeit an der École Niedermeyer zurück. Die Ausbildung von Organisten und Chorleitern sowie die Wiederbelebung und Erneuerung der französischen Kirchenmusik war das erklärte Ziel dieser Schule. Mehrmals nahm Fauré dort an Kompositionswettbewerben teil, und der 1864 entstandene Cantique de Jean Racine wurde in seinem Abschlussjahr 1865 schließlich mit dem Ersten Preis ausgezeichnet. Und das, obwohl Fauré entgegen den Wettbewerbsanforderungen keine Orchestrierung, sondern aus Zeitmangel lediglich eine Orgelbegleitung eingereicht hatte. Erst 1866 gelangte in Rennes eine Fassung für Orgel und Streichquartett zur Aufführung, deren gedruckte Partitur der Komponist César Franck widmete. 1906 wurde in Paris erstmals eine Orchesterfassung gespielt. Wenn Fauré später den Cantique de Jean Racine mit der Opuszahl 11 versieht, so ist dies eigentlich die Nummer 1, da er die ersten zehn Stellen offenließ, um eventuell nachträglich noch andere Jugendwerke einfügen zu können.
Der Text dieses Stücks geht zurück auf den lateinischen Hymnus’ »Consors paterni luminis« aus dem Stundengebet, der dem heiligen Ambrosius zugeschrieben wurde. Jean Racine (1639–1699) fertigte davon eine freie französische Übersetzung an. Indem Fauré diese 1688 in Hymnes traduites du bréviaire romain publizierten Verse des großen französischen Klassikers, die in ihrer ursprünglichen Form für die Dienstags-Matutin bestimmt waren, in Töne setzt, bezieht er sich einerseits auf die katholische Tradition, andererseits ist das Stück eine Hommage an die französische Kultur und einen ihrer bedeutendsten Dichter. Vor allem aber erreicht der Komponist durch die weitgeschwungene Melodie, die zunächst von den Bässen angestimmt wird, und in die nacheinander Tenöre, Alte und Soprane einsetzen und sich zu einer unkomplizierten Mehrstimmigkeit verschränken, ein hohes Maß an Emotion. Diese ist ebenso schlicht wie tief empfunden, sodass dieses Jugendwerk bereits den Anspruch Faurés zum Ausdruck bringt, in seine geistlichen Werke ein großes Stück persönliches Gefühl zu legen, das weit über den religiösen Kontext hinausgeht.
»… von sanftem Charakter, so wie ich selbst«
Zu Gabriel Faurés Requiem. Von Susanne Schmerda
Gabriel Faurés wohl berühmtestes Werk ist sein Requiem für Soli, Chor, Orchester und Orgel. Dies überrascht umso mehr, als der französische Komponist hier auf eine dramatische Ausdeutung weitgehend verzichtet und einen intimen Ansatz wählt, wo sonst bei seinen Kollegen üblicherweise die große Form vorherrscht. Der glutvollen Emphase und Theatralik eines Berlioz und Verdi setzt er in seiner Totenklage eine lyrische Gelassenheit entgegen, die dem Gläubigen nicht mit Höllenqualen und düsteren Todesvisionen droht, sondern mit engelsgleichen Klängen einen lichten Blick aufs Paradies gewährt. An Eugène Ysaÿe schrieb er, das Stück sei »von sanftem Charakter, so wie ich selbst«. Fauré, der 1845 im kleinen Städtchen Pamiers südlich von Toulouse geboren wurde und 1924 in Paris starb, pflegte in seinem Leben wie in seinen Kompositionen eine noble Zurückhaltung. Seine Musik – neben intimer Kammermusik und insbesondere Liedern schuf er an größeren Formen lediglich die Schauspielmusik Pelléas et Mélisande (1898), das Requiem (1887) und die Oper Pénélope (1913) – ist geprägt von außerordentlicher Diskretion und Verhaltenheit, einer feinen Melodik, ausgewogener Transparenz, Abgeklärtheit des Ausdrucks und heiterem Charme. Noch im Alter von siebzig Jahren beschrieb Fauré sein künstlerisches Credo als »Streben nach Klarheit des Denkens, Nüchternheit und Reinheit der Form und Verachtung von plumpen Effekten«.
Obgleich Fauré jeglicher äußerliche Ehrgeiz fehlte, übernahm er 1896 am Pariser Conservatoire eine Kompositionsklasse und stand diesem Institut von 1905 bis 1920 als Direktor vor. Er hatte maßgeblichen Einfluss auf eine ganze Generation angehender Komponisten. Zu seinen Schülern zählten etwa Charles Koechlin, Florent Schmitt, Maurice Ravel, Jean Roger-Ducasse und Nadia Boulanger. Zugleich brachte er es als Organist bis zum Kapellmeister an der Pariser »Madeleine«, wo er neben vielen anderen Pflichten unzählige Begräbnisgottesdienste gestaltete.
Bei einem Trauergottesdienst »erster Klasse« für den bekannten Pariser Architekten Joseph Le Soufaché erklang denn auch am 16. Januar 1888 erstmals die früheste Fassung des Requiems in der Madeleine-Kirche unter der Leitung des Komponisten. In dieser frühen Form bestand das Werk aus fünf Sätzen (Introitus und Kyrie, Sanctus, Pie Jesu, Agnus Dei, In paradisum), die äußerst sparsame und ungewöhnliche Instrumentalbesetzung umfasste Solovioline, geteilte Bratschen und Celli, Kontrabässe, eine Harfe, Pauke und Orgel. In den folgenden Jahren nahm Fauré immer wieder Veränderungen vor, fügte zuerst je zwei Trompeten und Hörner hinzu, später noch die Sätze Offertorium und Libera me. In dieser zweiten siebensätzigen Fassung von 1893 (wie sie auch im heutigen Konzert zu hören ist) führte Fauré sein Requiem mehrfach auf und bot es schließlich seinem Verleger Hamelle an. Mit Blick auf einen größeren Markt jedoch entstand noch eine dritte, symphonische Fassung, die der Normalbesetzung bestehender Orchester entgegenkam und 1901 im Druck erschien. In dieser Version für Symphonieorchester, an der vermutlich Faurés Schüler Jean Roger-Ducasse mitwirkte, wurde das Requiem dann konzertfähig und viele Jahre ausschließlich aufgeführt, mit großem Erfolg: »Mein Requiem wird in Brüssel gespielt und in Nancy und in Marseille und in Paris am Conservatoire! Ich werde noch ein berühmter Musiker, Sie werden sehen!«, frohlockte der 55-jährige Fauré nicht ohne Selbstironie gegenüber einem Musikkritiker. Mit ihrer Betonung des dunklen Kolorits, ihren tiefen Streichern und Blechbläsern indes dürfte die frühere, kammermusikalische Fassung von 1893 Faurés ursprünglichen Klangvorstellungen mehr entsprochen haben, auch wenn bei der späteren symphonischen Fassung mit ihren hinzugefügten, chorisch besetzten Violinen sowie drei Posaunen und je zwei Flöten und Klarinetten die musikalische Faktur kaum verändert wurde.
Die Textauswahl aus der lateinischen Totenmesse und der Begräbnisliturgie stammt von Fauré selbst, wobei er als erster Komponist seiner Zeit auf die dramatische Sequenz des Dies irae verzichtete und nur deren letzte Verszeile »Pie Jesu Domine« vertonte. Fauré war kein streng praktizierender Katholik, der biblischen Furcht vor dem Jüngsten Gericht setzte er Milde und Verständnis entgegen, den Tod betrachtete er nicht nur als schmerzvolles Erlebnis, sondern als Erlösung. »Der Gott Faurés ist freilich nicht der Gott der Bibel, zu dessen Ehren Berlioz einen so großen Aufwand in Szene gesetzt hatte. […] Der Gott Faurés will nicht, dass man von ewigen Züchtigungen redet; er verkörpert vor allem den Geist völligen Vertrauens, woraus sich Trost, Hoffnung, Verzeihung und Liebe ergeben«, beschrieb es einst der Biograph Claude Rostand.
Gegen den seit der Uraufführung des Requiems immer wieder erhobenen Vorwurf, er habe ein heidnisches Werk komponiert, verwahrte sich Fauré in einem Artikel der Zeitschrift Comoedia vom 12. Juli 1902: »Man hat gesagt, es drücke nicht das Gefühl der Todesangst aus; jemand hat es ein Wiegenlied des Todes genannt. Aber so empfinde ich den Tod: als glückliche Befreiung, als Streben nach dem jenseitigen Glück und weniger als schmerzhaften Übergang.« Und der Sohn Philippe Fauré-Frémiet ergänzte schließlich: »Gabriel Fauré vermeidet bewusst, den Himmel und seine Glückseligkeit oder das Jüngste Gericht und seine Schrecken auszumalen […]. Aber wenn er den Himmel auch nicht beschreiben will, so lässt er ihn doch ahnen; denn unbekümmert verlässt er das Irdische und verwirft, was im Gebet an Leidenschaftlichkeit enthalten ist, nämlich den Schrecken. Sein Werk ist das wahrhafte Geleit der Toten …« Fauré selbst war sich bewusst, dass er mit seinem Requiem neue Ausdrucksbereiche jenseits der Routine seiner Orgeldienste erschlossen hatte: »Vielleicht habe ich instinktiv versucht, die ausgetretenen Pfade zu verlassen, nachdem ich all die Jahre bei Begräbnismusiken gespielt hatte. Es hing mir alles zum Halse heraus; ich wollte etwas anderes machen!« bekannte er 1902. Motiviert haben dürfte ihn auch zweifellos die Tatsache, dass sein Beitrag zu dieser ehrwürdigen Gattung keine Pflichtübung war: »Ich habe mein Requiem ohne einen besonderen Anlass komponiert […] zu meinem eigenen Vergnügen, wenn ich so sagen darf!« Und sicher spielten auch zwei persönliche Verluste eine Rolle bei der Komposition seiner Totenmesse: Im Juli 1885 war sein Vater gestorben, zweieinhalb Jahre später seine Mutter.
Für ein archaisches Kolorit der Partitur sorgt die Orgel, die im Gegensatz zu anderen Instrumenten während des gesamten rund vierzigminütigen Werks zu hören ist, außerdem die oft zweistimmige Führung des Chores, wie bei vielen Komponisten der Renaissance. In Anlehnung an die Gregorianik schafft Fauré durch schlichte Motive und langgezogene Melodien Momente der Besinnung und Andacht. Besonders durch die wiederkehrende Verwendung der Textworte »Requiem aeternam« und »Dona eis requiem« in nicht weniger als fünf der sieben Sätze sind ruhende Pole gesetzt. Faurés Vertrautheit mit der Liturgie zeigt sich nicht zuletzt an vielen Melodiewendungen, die alten Antiphonen entstammen, wie beispielsweise in In paradisum. Durch den markanten Wechsel von massiven Chorpartien und Vokalsoli ist besonders der eröffnende Introitus bestimmt, wo die Singstimmen ihr »Requiem aeternam« nach einem Fortissimo-Akkord zunächst geheimnisvoll flüstern, und Tenöre und Soprane dann jeweils einstimmig zum »Kyrie« hinführen.
Erst im sanft wiegenden dritten Satz, dem Sanctus, ist die Solovioline erstmals gefordert. Sie taucht den von durchgängigen Harfen-Arpeggien begleiteten Satz nach dem eher kargen, über Strecken kanonisch geführten Offertorium in ein warmes Licht – »engelsgleich« klingt sie »nach all den Bratschen«, schrieb Fauré an Ysaÿe. Hörner und Trompeten verleihen den »Hosanna«-Rufen gegen Satzende emphatisches Gewicht. Auch im Pie Jesu für Solo-Sopran, dem berühmtesten Abschnitt des Werks mit seiner von der Klangwelt der Gregorianik inspirierten markanten Akkordfolge, sorgen Harfe und Orgel für ein spezielles Kolorit und ein charakteristisches Leuchten im Zusammenspiel mit der Melodielinie in den geteilten Bratschen, Celli und Kontrabässen. Das großflächige Agnus Dei knüpft überraschenderweise an den Introitus mit seiner wirkungsvollen Kontrastierung von wuchtigem Orchester-Unisono und zurückgenommener chorischer Antwort an.
Dass Fauré seine Totenmesse mit zwei Sätzen beendet, die nicht zur Totenmesse (Missa pro defunctis), sondern zur Begräbnisfeier gehören, belegt noch einmal mehr seine Absicht, »etwas anderes« machen zu wollen. Im eindringlichen Libera me für Chor und Bariton gehört die Strophe des »Dies illa« mit ihren vier Hörnern zu den wenigen Momenten des Werkes, in denen er die Sphäre seraphischer Ruhe verlässt und mit großem Effekt einen dramatischen Ton anschlägt; pochende Rhythmen künden während des gesamten Satzes von innerer Unruhe. Das entrückte In paradisum mit durchlaufenden Begleitfiguren in der Orgel spiegelt Faurés Auffassung vom Tod als Erwartung der Glückseligkeit wider; die Harfen, die nun nach dem Pie Jesu erstmals wieder erklingen, lassen jenseitige Freuden erahnen. Auf einem ausgehaltenen Pianissimo-Akkord verklingt das sanfte Stück auf dem Wort »requiem«, nun in lichtem Dur. Ein hoffnungsvoller Ausklang für ein Werk, dessen Stimmen Faurés Schülerin Nadia Boulanger zufolge »ein Verbindungsglied zwischen Himmel und Menschheit« zu bilden scheinen.