Sir Simon Rattle dirigiert Schönbergs »Gurre-Lieder«
Konzerteinführung: 18.45 Uhr mit Thomas Quasthoff
Moderation: Michaela Fridrich
Im Rahmen des Konzerts:
Grußwort von Dr. Katja Wildermuth,
Intendantin des Bayerischen Rundfunks
Konzerteinführung: 17.45 Uhr mit Thomas Quasthoff
Moderation: Michaela Fridrich
Programm
für Soli, Sprecher, Chöre und Orchester
Erster Teil
• Orchestervorspiel
• Nun dämpft die Dämm’rung (Waldemar)
• O, wenn des Mondes Strahlen (Tove)
• Ross! Mein Ross! Was schleichst du so träg! (Waldemar)
• Sterne jubeln, das Meer, es leuchtet (Tove)
• So tanzen die Engel vor Gottes Thron nicht (Waldemar)
• Nun sag ich dir zum ersten Mal (Tove)
• Es ist Mitternachtszeit (Waldemar)
• Du sendest mir einen Liebesblick (Tove)
• Du wunderliche Tove! (Waldemar)
• Orchesterzwischenspiel
• Tauben von Gurre! (Stimme der Waldtaube)
P a u s e
Zweiter Teil
• Herrgott, weißt du, was du tatest (Waldemar)
Dritter Teil
• Erwacht, König Waldemars Mannen wert! (Waldemar)
• Deckel des Sarges klappert und klappt (Bauer)
• Gegrüßt, o König, an Gurre-See-Strand! (Waldemars Mannen)
• Mit Toves Stimme flüstert der Wald (Waldemar)
• Ein seltsamer Vogel ist so’n Aal (Klaus-Narr)
• Du strenger Richter droben (Waldemar)
• Der Hahn erhebt den Kopf zur Kraht (Waldemars Mannen)
• Des Sommerwindes wilde Jagd – Orchestervorspiel
• Herr Gänsefuß, Frau Gänsekraut (Sprecher)
• Seht, die Sonne! (gemischter Chor)
Mitwirkende
Leider muss Stuart Skelton seine Mitwirkung an den Aufführungen der »Gurre-Lieder« aus gesundheitlichen Gründen absagen. Wir sind Simon O’Neill sehr dankbar, dass er sich kurzfristig bereit erklärt hat, die Rolle des Waldemar bei den Konzerten zu übernehmen.
BR-KLASSIK: Live-Übertragung in Surround
am Freitag, 19. April 2024, um 20.00 Uhr. PausenZeichen: Dorothea Röschmann und Thomas Quasthoff im Gespräch mit Fridemann Leipold; Sir Simon Rattle im Gespräch mit Bernhard Neuhoff
BR Fernsehen: Sendung des Konzertmitschnitts
am Samstag, 20. April 2024, um 22.00 Uhr
Gurre-Lieder – Gesangstext im Darkmode (auch offline verfügbar)
Werkeinführung – Gurre-Lieder
Arnold Schönberg
* 13. September 1874 in Wien
+ 13. Juli 1951 in Los Angeles
Gurre-Lieder
Entstehungszeit: 1900/1901; Instrumentierung in zwei Phasen von 1900 bis 1903 und 1910/1911
Uraufführung: 23. Februar 1913 im Großen Musikvereinssaal in Wien mit dem Wiener Tonkünstler-Orchester unter der Leitung von Franz Schreker
»Überherrliches Werk«
Arnold Schönbergs Gurre-Lieder
Von Vera Baur
»Ich fühle Luft von anderem Planeten« – mit den Klängen des Solo-Soprans zu diesen Worten Stefan Georges wies Arnold Schönberg im letzten Satz seines Zweiten Streichquartettes op. 10 seinen Zeitgenossen einen neuen Weg in der Musik, der die Gemüter erregte und bis auf den heutigen Tag heftige Nachwirkungen zeigt. An diesem Werk, wie an einigen anderen aus der Zeit um 1908/09, ließ sich erstmals festmachen, dass die Bande zur jahrhundertealten abendländischen Tonalität zerrissen waren und fortan neue Regeln galten. Arnold Schönberg, mit dessen Namen der Schritt zur Atonalität für alle Zeiten verbunden ist, sah sich dabei selbst nur als ein Medium, das die immanenten Tendenzen des Tonmaterials weiterführte. Bereits mit Wagners Tristan-Akkord war diese Möglichkeit aufgeschimmert, und auch in Werken späterer Komponisten wie Debussy oder Skrjabin war das Gefüge funktionsgebundener Harmonik bis an die äußersten Grenzen ausgereizt worden.
Letzter großer Abgesang auf die Romantik
Die Zeit war reif, und Schönberg war es, der den Mut hatte, die »Luft von anderem Planeten« tiefer einzuatmen als andere vor ihm. Das Publikum, zumal die behaglichkeitssüchtigen und dem »Komfort« ergebenen Wiener (Arnold Schönberg in seiner Harmonielehre von 1911), dankten es dem Propheten nicht – im Gegenteil: Sie peinigten ihn mit chronischer Ablehnung, beißendem Hohn und feuilletonistischen Hasstiraden. Umso bitterer schmeckte für Schönberg der Erfolg eines Konzertes am 23. Februar 1913 im Großen Musikvereinssaal, das zum größten Triumph seines Lebens wurde. Auf dem Programm stand die Uraufführung der Gurre-Lieder, jenes 1900/01 konzipierten und 1910/11 fertig instrumentierten vokalsymphonischen Riesenwerks, in dessen verschwenderischem Reichtum sich die versinkende Epoche der musikalischen Romantik zu einem letzten Gipfel aufschwang. Ausgerechnet Schönberg, der der traditionellen Musik den Todesstoß versetzt hatte, schenkte der Welt also einen solchen, ja vielleicht den letzten großen Abgesang auf das 19. Jahrhundert. Natürlich sollten noch viele Werke spätromantischen Abschiedsschmerzes folgen, Mahlers Neunte Symphonie etwa oder – fast 50 Jahre nach den Gurre-Liedern – die Vier letzten Lieder von Richard Strauss. Doch in kaum einer anderen Komposition, selbst in Mahlers Achter Symphonie nicht, gab es ein solches Aufgebot der Mittel, ein solches Überborden der Dimensionen, einen solchen klangsinnlichen Sog wie in Schönbergs überwältigendem Meisterwerk. Der so Geehrte und Gefeierte indes blieb ungerührt. »Wie üblich, wurde ich nach diesem großartigen Erfolg gefragt, ob ich glücklich sei. Aber ich war es nicht. Ich war ziemlich gleichgültig, weil ich voraussah, dass dieser Erfolg keinen Einfluss auf das Schicksal meiner späteren Werke haben würde.«
Schönberg sollte recht behalten: Am 31. März 1913, nur wenige Wochen nach der Uraufführung der Gurre-Lieder, löste ein Konzert mit seiner Kammersymphonie op. 9 – einem Werk an der Schwelle zur Atonalität aus dem Jahr 1906 – sowie mit Kompositionen von Berg und Webern einen der größten Skandale der Musikgeschichte aus. Schönbergs Beziehung zu Wien war und blieb problematisch – trotz des Erfolgs der Gurre-Lieder.
Den Anstoß zur Komposition der Gurre-Lieder gab ein im Januar 1900 ausgeschriebener Lieder-Wettbewerb der Wiener Tonkünstlersozietät, an dem sich Schönberg beteiligen wollte. Kurz zuvor war der Komponist – wohl durch seinen Freund, Lehrer und späteren Schwager Alexander von Zemlinsky – auf die frühsymbolistisch-impressionistische Dichtung Gurresange aus dem Zyklus En cactus springer ud (Ein Kaktus blüht) des Dänen Jens Peter Jacobsen (1847–1885) aufmerksam geworden und fühlte sich von der mittelalterlichen Legende um den dänischen König Waldemar und seine heimliche Liebe zu dem Mädchen Tove unmittelbar angezogen. Im Hinblick auf den Wettbewerb begann er die 1899 in deutscher Übersetzung erschienene Dichtung als Liederzyklus mit Klavierbegleitung zu vertonen, doch dürfte ihm bald bewusst geworden sein, dass die dabei entstehende Musik diesen Rahmen sprengen würde. So reichte er die Lieder nicht ein, sondern verwendete sie als Grundlage für ein großes dreiteiliges Oratorium für fünf Gesangssolisten, einen Sprecher, drei Chöre und opulent besetztes Orchester. Über die weitere Entstehungsgeschichte sind wir genauestens durch einen Brief Schönbergs an seinen Schüler Alban Berg informiert. Demnach entwarf Schönberg den ganzen ersten und zweiten Teil sowie weite Strecken des dritten Teils im März 1900, den Rest vollendete er im März des Folgejahres. An der Instrumentierung arbeitete er mit Unterbrechungen von August 1901 bis 1903, wobei er bis zum »Lied des Bauern« im dritten Teil fortschritt. »Daraufhin liegen gelassen und ganz aufgegeben«, notierte er, weil andere Arbeiten, darunter die Instrumentierung von Operetten fremder Komponisten und die Notwendigkeit der Existenzsicherung für seine junge Familie, ihn nötigten, das Projekt ruhen zu lassen.
Entstehungszeit von mehr als zehn Jahren
Eine neue Motivation, die Gurre-Lieder schließlich doch noch zu vollenden, gab ihm eine Separataufführung des ersten Teils mit Gesang und Klavier (mit einer Bearbeitung der Orchestervor- und -zwischenspiele für zwei Klaviere zu je vier Händen von Anton Webern) am 14. Januar 1910 im Rahmen eines Schönberg-Abends, den der Wiener Verein für Kunst und Kultur im Ehrbar Saal veranstaltete. Die Anwesenden – unter ihnen Franz Schreker, der Dirigent der späteren Uraufführung, und Emil Hertzka, Direktor der Universal Edition, bei der die Gurre-Lieder 1912 im Druck erschienen – drängten Schönberg, die Arbeit zum Abschluss zu bringen. Dies geschah von Juli 1910 bis November 1911. Somit erstreckt sich die Entstehung der Gurre-Lieder über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren, in dem sich Schönbergs Stil komplett veränderte, da er nicht nur die Tonalität hinter sich gelassen hatte, sondern – damit einhergehend – auch zu einer Reduktion der Mittel und zeitlichen Ausdehnung vieler seiner Kompositionen gelangt war. Wichtige Werke der neuen Richtung gehörten nun der Kammermusik an, so das eingangs erwähnte Zweite Streichquartett op. 10, die Klavierstücke op. 11 und die George-Lieder op. 15. Natürlich blieb die Entwicklung, die Schönberg in dieser Spanne von 1900 bis 1911 durchgemacht hatte, nicht ohne Auswirkung auf den Stil der später instrumentierten Teile der Gurre-Lieder. »Man muss es ja sehen, dass der 1910 und 1911 instrumentierte Teil ganz anders ist als der erste und zweite Teil«, so der Komponist selbst. »Ich hatte nicht die Absicht, das zu verbergen. Im Gegenteil, es ist selbstverständlich, dass ich zehn Jahre später anders instrumentierte.« Wichtige Merkmale dieses neuen Stils der Orchestrierung sind schärfere Kontrastierungen durch deutlich voneinander abgehobene Klangfarben, die Aufspaltung des Orchestertuttis in solistische Einzelstimmen, die Reduzierung von Füllstimmen und das charakteristische Hervortreten einzelner, klanglich auffälliger Instrumente wie Xylophon oder Ratsche – Mittel, die Schönberg bereits in den Orchesterkompositionen seiner atonalen Phase (so den Orchesterstücken op. 16 und dem Monodram Erwartung op. 17) ausgebildet hatte. Während der erste Teil – ausgehend vom Orchester Wagners – mehr auf Klangverschmelzung angelegt ist, lässt sich im dritten Teil eine Dissoziation, also eine »Entmischung« der Farbpalette beobachten.
Zyklus sehnsuchtsvoller Liebeslieder
Überhaupt ist die deutlich unterschiedliche Anlage des ersten und des dritten Teils sicherlich eines der auffälligsten Charakteristika der Gurre-Lieder (der zweite Teil, der nur aus einem Gesang besteht, ist zu kurz, um als größerer eigenständiger Komplex wahrgenommen zu werden). Der erste Teil umfasst – neben einem Orchestervor- und -zwischenspiel sowie dem Lied der Waldtaube – die Gruppe der neun Liebeslieder Waldemars und Toves, die mit dem ursprünglichen, für den Wettbewerb konzipierten Klavierlieder-Zyklus identisch sind und eine weitgehend geschlossene Einheit bilden. Die große lyrische Intensität dieser Gesänge, die weitgespannten, sehnsuchtsvollen Melodien und der schwelgerische Ton verleihen speziell diesem Teil seinen spätromantischen Gestus. Eine zentrale Funktion hat das Zwischenspiel des Orchesters, das den Komplex der Liebeslieder und das Lied der Waldtaube voneinander trennt: Hier werden nicht nur die bisherigen Themen durchführungsartig verarbeitet, sondern hier ereignet sich auch – rein instrumental – der Wendepunkt der Handlung: Ein unheilvoller fff-Tutti-Schlag in Verbindung mit zwei wichtigen Motiven des Werks (dem Rachemotiv der Königin und dem Motiv von Toves Liebeserklärung im Solo des Englischhorns) markiert den Mord an Tove, von dem die Waldtaube im abschließenden Gesang berichtet.
Dramatische Kantate mit opernhaften Zügen
Stellt sich der erste Teil also weitgehend als ein Zyklus von Orchesterliedern dar, wird die Form im dritten Teil vielgestaltiger. Statt der lyrischen Gesänge begegnet dem Hörer nun eine Vielzahl heterogener Elemente, die sich zu einer Art dramatischer Kantate mit opernhaften Zügen verbinden. Der Kreis der Personen weitet sich: Neben Waldemar treten der Bauer und der Narr in Erscheinung, die eine andere Art des Singens ins Spiel bringen. Für wuchtig-schaurige Dramatik sorgen die drei vierstimmigen Männerchöre, Waldemars tote Mannen, die allnächtlich aus ihren Gräbern steigen und ihren grausigen Spuk treiben – eine Kulisse, die Assoziationen an die Mannenszene aus Wagners Götterdämmerung weckt. Das kühnste Element des dritten Teils ist aber fraglos das Melodram »Des Sommerwindes wilde Jagd«, der erste der Schönberg’schen Sprechgesänge, wie sie in der Glücklichen Hand und in Pierrot lunaire wieder erscheinen. Hier nähert sich Schönberg oftmals der Atonalität, und die Orchestrierung verlässt die Pfade des romantischen Mischklangs. Diese beiden Aspekte ebenso wie die kunstvollen polyphonen Abschnitte in den Männerchören verweisen bereits deutlich auf die Neue Musik. Beschlossen wird der dritte Teil dann wieder mit spätromantischer Emphase: dem apotheotischen Sonnenhymnus, in dem erstmals der volle achtstimmige Chor mit Frauenstimmen zum Einsatz kommt.
Werkumspannender »Beziehungszauber«
So sehr sich die einzelnen Teile der Gurre-Lieder voneinander unterscheiden, so sehr sind sie auf der anderen Seite durch ein Netz subtiler motivischer Bezüge miteinander verbunden – ein werkumspannender »Beziehungszauber« (Thomas Mann über die Bühnenwerke Richard Wagners), der so komplex ist, dass er sich in seinen vielen Einzelheiten und Verzweigungen kaum dem ersten Hören erschließt und auch hier nur ausschnittsweise angedeutet werden kann. Der Reichtum dieser motivischen Verflechtungen (und ein Auftrag der Universal Edition) veranlassten Alban Berg, einen 100-seitigen Führer zu den Gurre-Liedern zu verfassen. Die dort aufgelisteten 129 thematischen Gestalten und ihre wechselseitigen Verwandtschaften machen deutlich, welch zentrale Rolle diese – natürlich von Wagner inspirierte – Leitmotivtechnik in Schönbergs Werk spielt. Das System beruht auf einer Verbindung von musikalischen Antizipationen und Erinnerungen, die analog zu den inhaltlichen Querverweisen im Text verlaufen. Wird im Text zukünftiges Geschehen vorweggenommen, erklingen in der Musik Motive, die dann wieder erscheinen, wenn später von diesem Geschehen die Rede ist. Als leicht hörbares Beispiel sei hier das Mitternachtsmotiv genannt, das erstmals zu Beginn des siebten Liedes des ersten Teils erklingt: eine finstere, sich auf- und abwindende Figur in den Celli. Sie erscheint hier vor Waldemars Worten »Es ist Mitternachtszeit, / Und unsel’ge Geschlechter / Stehn auf aus vergessnen, eingesunknen Gräbern«. Gleich zu Beginn des dritten Teils, kurz bevor Waldemar seine Mannen dann tatsächlich zum nächtlichen Ritt aufruft, erscheint dieses Motiv wieder, und auch später ist es weiter präsent.
Einen wichtigen Komplex der Erinnerungen bilden die Tove-Motive aus den Liebesliedern des ersten Teils, die wieder erscheinen, wenn nach ihrem Tod an sie gedacht wird. Das Motiv ihrer Liebeserklärung in der Einleitung zum sechsten Lied (»Nun sag ich dir zum ersten Mal: / ›König Volmer, ich liebe dich!‹«), eine sehnsuchtsvolle Melodie in der Klarinette, wird – abgewandelt und eingetrübt – im Zwischenspiel des Orchesters vom Englischhorn angestimmt, unmittelbar nach jenem bereits erwähnten fff-Schlag, der den Moment ihrer Ermordung anzeigt. Und auch im dritten Teil schleicht sich das Motiv immer wieder ins Geschehen, etwa in Waldemars erstem Gesang nach der Mannenszene, in dem er sich voller Wehmut in seine Liebe zur toten Tove versenkt. Seine Verse beschwören immer wieder ihren Namen (»Mit Toves Stimme flüstert der Wald, / Mit Toves Augen schaut der See, / Mit Toves Lächeln leuchten die Sterne«), und genau zu diesen Worten ist im Orchester das bekannte Motiv zur Stelle. Einen ganz besonderen Zauber entfaltet die Melodie dann noch einmal im Melodram, bevor der Sprecher fragt: »Was mag der Wind nur wollen?« Das Motiv im Orchester hat die Antwort längst gegeben, bevor sie in Worten erklingt: Er sucht, »was zu früh geendet«. Weitere wichtige Leitmotive, die den Hörer wie das beschriebene Tove-Motiv als eine Art »emotionaler Wegweiser« durch das ganze Stück begleiten, sind etwa das Liebesmotiv (leise angedeutet in Toves erstem Gesang in der Solovioline unmittelbar nach den Worten »Das sind nicht Wolken, die den Himmel schmücken«, dann erstmals deutlicher zu vernehmen im anschließenden Lied Waldemars zu den Worten »Muss ich stehn vor Toves Tor« und im Folgenden allgegenwärtig) und das Todesmotiv (eingeführt gleich zu Beginn des Liedes der Waldtaube). Die Liste ließe sich lange fortführen.
Der immerwährende Kreislauf des Lebens
Natürlich kann man sich der Komposition auch ohne jede Kenntnis dieses höchst kunstvollen motivischen Beziehungsgeflechts nähern. Ihr Sensualismus, ihre schillernden, zart-duftigen Klanggewebe, ihr Melodienreichtum, ihre Expressivität, ihre emotionale Spannweite und ihr emphatischer Ton bewegen unmittelbar und machen die Gurre-Lieder zu einem, wie Anton Webern in der Euphorie der ersten Begegnung schwärmte, »überherrlichen Werk«. Sie offenbaren »die in Stolz und Pracht aufflammende Tonsprache eines Künstlers, den Wagner das Reden gelehrt hat« (Richard Specht), der darüber hinaus die gesamte bis dahin bekannte Musik von Mahler und Strauss absorbiert und in das Vokabular seines eigenen Jahrhundertwerks eingeschmolzen hat. Und natürlich sind die Gurre-Lieder jedermann zugänglich als ein Stück über Leben und Tod, über Liebe und Verlust, über Natur und Spuk, über Tag und Nacht, wobei die Musik hier der Dichtung kongenial folgt. Die Gurresange des Botanikers, Darwinisten und Pantheisten Jens Peter Jacobsen sind durchdrungen von einem spirituellen, mystischen Naturverständnis, dem Glauben an den ewigen Erneuerungsprozess der Natur, als dessen Beweis der Aufgang des kosmischen Lebensspenders Sonne am Ende des Stückes machtvoll in Szene gesetzt wird. Mit ihm bestätigt sich die Weltsicht Toves, die – unbeirrt von den Todes- und Vergänglichkeitsahnungen Waldemars im ersten Teil – den immerwährenden Kreislauf des Lebens beschwört: Das Sterben von Natur und Kreatur ist für sie nur ein Durchgangsstadium vor dem Aufblühen aller Erscheinungen in »neuer Schönheit« und »ewiger Pracht«. Und so entbehrt auch ihr eigener Tod der Endgültigkeit. Wenn Waldemar im dritten Teil den Wald mit ihrer Stimme flüstern hört, den See mit ihren Augen schauen und die Sterne mit ihrem Lächeln leuchten sieht, dann ist sie für immer eins geworden mit der sich ewig neu erschaffenden Natur. Im Gegensatz zu der Lichtgestalt Tove steht Waldemar für das Nächtliche, das Schattenhafte in den Gurre-Liedern. Er wird bereits in den Momenten des ekstatischen Liebesglückes von düsteren Gedanken heimgesucht, und durch seinen Fluch tritt schließlich der Spuk in die Natur. Doch auch dieser Bedrohung trotzen die Erneuerungskräfte der Schöpfung. In »Des Sommerwindes wilde Jagd« vertreibt der anbrechende Tag – ein Symbol für die Wiederkehr des Lebens (und der
Liebe) – den nächtlichen Spuk, und alles Sein beginnt sich neu zu regen, um schließlich in den allumfassenden Sonnenhymnus zu münden. All dies findet sich höchst sinnfällig auch in Schönbergs Partitur.
Naturbilder und Schauerromantik
Momente suggestiver Naturstimmungen ziehen sich durch das ganze Werk, am eindrücklichsten zu erleben vielleicht in der Orchestereinleitung zum ersten Teil und in »Des Sommerwindes wilde Jagd« am Ende des dritten Teils. Eine flirrende, stehende Klangfläche, »die der Zeit enthoben zu sein scheint« (Carl Dahlhaus), hauchzart gewoben aus ätherischen Figuren in Flöten, Harfen und Geigen, erscheint gleich zu Beginn des Werks als Allegorie der friedvollen, in mildes Abendlicht getauchten Natur. (Hier mag man an ähnlich schwebende Flächenklänge im Vorspiel zu Rheingold und im Feuerzauber der Walküre denken.) Ein statisches Klanggebilde mit hohen Flötentönen zeichnet auch zu Beginn des Melodrams (»Des Sommerwindes wilde Jagd«) ein Naturbild, aus dem sich nach und nach in federleicht huschenden Figuren der Wind herauslöst. Und wenn zum Vortrag des Sprechers die instrumentalen Einzelstimmen mit ihren Klangmalereien aus dem Orchester hervortreten, meint man das ganze Gewimmel von Pflanzen und Getier zu vernehmen, das hier freudig begrüßt wird. Aber auch die Sphäre von Angst, Beklemmung und Spuk, das Gegenelement zur Heimat stiftenden Natur, besticht durch plakative Effekte. Die »Wilde Jagd« steht mit ihrer unheimlichen Dramatik, ihren mächtigen Klangballungen in bester Tradition der durch Webers Wolfsschluchtszene (Der Freischütz) begründeten Schauerromantik und gerät mit der vollen Ausnutzung des gesamten Orchesters zu einer dynamischen Extremsituation, in der zur Untermalung der gruseligen Stimmung sogar eiserne Ketten aufgeboten werden.
Hell-Dunkel-Effekte
Ein einfaches, aber wichtiges kompositorisches Mittel zur Scheidung der beiden Komplexe Licht (Natur, Tag) / Dunkel (Spuk, Nacht) ist der Einsatz hoher bzw. tiefer Instrumente (bzw. Stimmen). So werden die Lieder Toves im ersten Teil auffällig oft von obligaten Soli der Solo-Geige und der Holzbläser in hoher Lage begleitet, während die Lieder Waldemars dunkler eingefärbt sind. Hell-Dunkel-Effekte bestimmen auch das Orchestervorspiel zum ersten Teil. Hier wird – als Illustration des sich senkenden Tages – die gesamte Farbskala von den bereits beschriebenen hellen Klängen zu Beginn bis zu nächtlich-dunklen am Ende durchmessen.
Umgekehrt baut sich der Choreinsatz im abschließenden Sonnenaufgangshymnus (»Seht, die Sonne!«) von den tiefen Lagen der Bässe, über die Tenöre und Alte bis zum hohen ›a‹ der Soprane auf, womit der Hörer – die aufsteigende Sonne vor Augen – in einer einzigen rauschhaften Aufwärtsbewegung mitgerissen wird. Seine elektrisierende Wirkung bezieht dieser Moment auch daraus, dass hier – nach zwei Stunden Musik – zum ersten Mal der volle Chor zum Einsatz kommt. Der Sonnenhymnus (in der Licht-Tonart C-Dur) ist damit nicht nur inhaltlich, sondern auch von den musikalischen Mitteln Ziel- und Höhepunkt des ganzen Werkes. Und wie in Schönbergs Gurre-Liedern alles aufeinander bezogen ist, so schafft auch dieser Schlusschor subtile Verbindungen zu Vorherigem. Das allererste thematische Gebilde des Stückes, eine in drei Stufen abfallende Tonfolge in der Trompete (c’’ – es’ – b – b), die sich in Takt sieben des Orchestervorspiels aus der flirrenden Klangfläche herausbildet, erscheint im Schlusschor in ihrer Umkehrung wieder, erstmals intoniert (mit der Spielanweisung »hervortretend«) von den Trompeten zum alles überstrahlenden Wort »Sonne« und später von anderen Instrumenten übernommen. Damit sind Beginn und Schluss bedeutungsvoll verklammert: Was untergeht, ist dazu bestimmt, wieder neu zu erstehen. Die Gurre-Lieder sind der lange und ereignisreiche Weg, dies zu zeigen.