Paradisi gloria – Webber-Requiem
Konzerteinführung: 19 Uhr
mit Patrick Hahn und Ursula Haas
Moderation: Christopher Mann
Programm
- Requiem – Kyrie
- Dies irae
- Rex tremendae
- Recordare
- Ingemisco – Lacrimosa
- Offertorium
- Hosanna
- Pie Jesu
- Lux aeterna
- Libera me
Lesung zum Eingang: »Also spricht Maria Magdalena« – ein Monolog von heute
Text von Ursula Haas, verfasst für dieses Konzert
Mitwirkende
Andrew Lloyd Webber
* 22. März 1948 in London
Requiem
Entstehung des Werks: 1982–1984
Uraufführung: 24. Februar 1985 in der Saint Thomas Church in New York unter der Leitung von Lorin Maazel
Synthese aus »U« und »E«
Zu Andrew Lloyd Webbers Requiem. Von Christian Thomas Leitmeir
Als Andrew Lloyd Webber 1985 mit seinem Requiem an die Öffentlichkeit trat, war die Verwunderung groß. Zwar hatten klassische Musiker immer wieder in der »leichten Muse« reüssiert oder sich von ihr inspirieren lassen. Leonard Bernstein etwa feierte mit On the Town, West Side Story und Candide große Erfolge am Broadway, verstand sich aber doch in erster Linie als Orchesterdirigent und Musikvermittler, besonders mit seinen im Fernsehen übertragenen Young People’s Concerts. Vom Musical oder von der Operette führte dagegen kaum ein Weg in die hehren Höhen der Kirchenmusik. Dass ein Komponist wie Franz von Suppè nicht nur Gassenhauer und flotte Ouvertüren schrieb – allen voran diejenigen zu Leichte Kavallerie oder Dichter und Bauer –, sondern 1855 auch ein beachtliches, aber heute vergessenes Requiem, wirkt zumindest ungewöhnlich.
Bei näherer Betrachtung allerdings erscheint Andrew Lloyd Webbers Affinität zum Sakralen nicht einmal so abwegig. Gewissermaßen wurde ihm eine Karriere im »ernsten« Fach sogar in die Wiege gelegt. Sein Vater William Webber (1914–1982) hatte sich aus bescheidenen Verhältnissen zu einem der führenden Kirchenmusiker seiner Zeit hochgearbeitet und war wiederum durch seinen Vater, einen Klempner mit Faible für Orgeltechnik, zur Musik gekommen. Da sich William als Naturtalent auf diesem Instrument erwies, erhielt er Stipendien für eine Privatschule und das Royal College of Music, wo er 19-jährig das Examen als Organist erwarb. Fünf Jahre darauf fand er Anstellung als Organist und Chorleiter an der All Saints Church im Londoner Stadtteil Marylebone, bevor er zum Kirchenmusikdirektor an Westminster Central Hall ernannt wurde, der methodistischen Hauptkirche Großbritanniens. Als Komponist blieb Webber (der später den Glanz seines blassen Nachnamens durch Hinzufügung seines dritten Vornamens »Lloyd« aufpolierte) einem spätromantisch orientierten, gemäßigt modernen Stil treu. Da er sich radikaleren Erneuerungen verweigerte, verlegte er sich auf historischen Tonsatz und Musiktheorie, die er bis zu seinem Tod am Royal College of Music unterrichtete. Als Gralshüter der musikalischen Tradition lag ihm die klassische Ausbildung seiner Söhne Andrew (* 1948) und Julian (* 1951) besonders am Herzen.
Während Julian genau dieses Erbe der Familiendynastie pflegte und als Solocellist Karriere machte, suchte sich Andrew ein Betätigungsfeld in der Unterhaltungsbranche. Nachdem er dank seiner musikalischen Begabung ein Stipendium an der privaten Eliteschule von Westminster Abbey erhalten hatte, nahm er das Studium der Geschichte an der Universität in Oxford auf, wo er als »Organ Scholar« am Magdalen College zunächst in die Fußstapfen seines Vaters zu treten schien. Nach nur einem Trimester verließ er die Universität allerdings, weil er sich von der Populärmusik mehr persönliche Befriedigung und wirtschaftlichen Erfolg versprach. Sein für den Eurovision Song Contest geschriebener Song »Try it and see« (1969) wurde zwar kein Hit, aber Webber lernte rasch, kommerzielle Genres zu Musicals auszubauen: Aus einer Pop-Kantate entwickelt er sein erstes Erfolgsstück Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat (1968), aus dem Konzeptalbum Jesus Christ Superstar, in dem auch »Try it and see« eine neue Heimat fand, das gleichnamige Rockmusical (1971). In beiden Fällen provozierten Webber und sein Librettist Tim Rice einen kalkulierten Skandal, indem sie biblische Themen in bewusst kesser und unorthodoxer Weise für ein modernes Massenpublikum aufbereiteten. Noch Monty Pythons Leben des Brian (1979) wurde nach Blasphemie-Vorwürfen aus etlichen Kinos verbannt, was natürlich die Attraktivität des Films nur noch steigerte.
Mit Evita (1976), Cats (1981), Starlight Express (1984) und The Phantom of the Opera (1986) bewies Lloyd Webber Mal für Mal sein Gespür für zeitgemäße Stoffe, die sich für eine neuartige, aber ein breites Publikum ansprechende musikdramatische Realisierung eigneten und ihn zu unzähligen Hits anregten. Mitte der 1980er Jahre war er deshalb der zwar bei der Kritik nicht unumstrittene, aber kommerziell erfolgreichste Musical-Komponist. Auch auf dem Gebiet der Politik suchte er ein Betätigungsfeld. 1987 zeichnete er verantwortlich für den Soundtrack zu Margaret Thatchers Wahlkampfkampagne, und 1997 – nach dem Adelsschlag zum Baron – zog er für die Konservativen ins House of Lords ein.
Der 1985 mit dem Requiem erfolgte Wechsel von den öffentlichen Bühnen des Musical Theatre und der Politik ins geistliche Fach war, wie Lloyd Webber selbst bekannte, biografisch motiviert. Als sein Vater William im Herbst 1982 verstarb, fühlte das »schwarze Schaf« der Familie den Drang, zu seinen Wurzeln zurückzukehren und seinem Vater und frühen Mentor ein würdiges Denkmal zu setzen. Für diesen Zweck war die Gattung des Requiems wie geschaffen. Nicht zuletzt Giuseppe Verdi hatte bewiesen, dass die Texte der lateinischen Totenmesse, allen voran das Dies irae, eine ausgezeichnete Vorlage für große Oper abgaben. Für die lyrische Dimension mit Hitpotenzial mochte Lloyd Webber bei Vorbildern wie Gabriel Fauré anknüpfen.
Entscheidend war obendrein, dass das Requiem im anglikanischen England seit der Reformation abgeschafft war. So konnte der Komponist rein ästhetische Entscheidungen treffen, ohne auf liturgische Funktionalität oder Kirchentauglichkeit Rücksicht nehmen zu müssen. Lloyd Webber machte von dieser Freiheit reichlich Gebrauch, indem er die Messtexte mit Sinn für Dramaturgie umdisponierte. Durch den wiederholten Einschub prägnanter Passagen (vor allem der Zeilen »Requiem aeternam« und »Dies irae«) schuf er leitmotivische Verzahnung und charakteristische Grundierung. Die eher neutralen, stets gleichbleibenden Ordinariumsteile der Messe (im Requiem: Kyrie, Sanctus und Agnus Dei) wurden mit den ausdrucksstärkeren sogenannten Proprien, deren Texte die besondere Intention des jeweiligen Gottesdienstes zum Ausdruck brachten, verschmolzen – und oft sogar zu deren Anhängsel degradiert. Das theatralische Potenzial der Sequenz (»Dies irae«) ist, wie zuvor schon bei Verdi, zu einem mehrteiligen Spektrum menschlicher Gefühle im Angesicht von Tod und Jüngstem Gericht ausgebreitet, das sich über vier der insgesamt zehn Nummern erstreckt.
Da Lloyd Webber zuvor nicht für Chor und großes Orchester komponiert hatte, nutzte er das Sommerfestival auf seinem Landgut von Sydmonton Court 1984 als Werkstatt für einen halböffentlichen Probedurchlauf. Dies führte ihn zu weitreichenden Revisionen, bevor er sein erstes geistliches Werk an prominenter Stätte aus der Taufe hob: Die Saint Thomas Church in New York war zugleich das Bollwerk der anglikanischen Kirchenmusik in den Vereinigten Staaten und obendrein nur einen Steinwurf entfernt vom Broadway, wo zeitgleich Lloyd Webbers Musicals in mehreren Theatern liefen.
Den Spagat zwischen E- und U-Musik, zwischen Kirche und Oper suchte Lloyd Webber durch ungenierten Eklektizismus zu bewerkstelligen. Dies kam seiner stupenden Begabung entgegen, sich in den unterschiedlichsten Stilen und Genres auszudrücken. Eingängige Pop-Harmonik und Melodien kamen ebenso zu ihrem Recht wie herbe Dissonanzen (mit besonderer Betonung des Tritonus als »teuflisches« Intervall), Ganztonskalen, chromatische Rückungen und komplex übereinandergelegte Klänge. Am einen Ende des rhythmischen Spektrums steht der südamerikanische Tanzgroove des »Osanna«, am anderen sind es sperrige Taktbildungen und -wechsel. Seinem verstorbenen Vater und Lehrmeister zollte er durch die Verwendung von gelehrtem Kontrapunkt, sauberem vierstimmigen Chorsatz und großen symphonischen Gesten Tribut. Bisweilen, etwa bei der burlesken Orgelfuge im Offertorium (»Domine, Jesu Christe«) oder der Marschparodie im »Confutatis« der Sequenz, sitzt dem gewieften Stilkopisten aber der Schelm im Nacken.
Auch in der Besetzung verschmolz Lloyd Webber disparate Elemente: Das Symphonieorchester ist durch eine umfangreiche Schlagwerkbatterie erweitert, zur Kirchenorgel gestellt sich der Synthesizer. Mit Plácido Domingo verpflichtete er den führenden Operntenor der Zeit. Lloyd Webbers damalige Frau Sarah Brightman, die sich als Crossover-Sopranistin verstand, sang die hohe Solopartie; sie hatte 1982 als Jemima in Cats debütiert und sollte kurz darauf die weibliche Hauptrolle in The Phantom of the Opera übernehmen. Mit dem Chor von Saint Thomas stand ihm einer der besten Knabenchöre der anglikanischen Tradition zur Verfügung, aus dessen Kreisen auch der Knabensopran Paul Miles-Kingston rekrutiert wurde. Im Nachhinein lieferte Lloyd Webber eine eigenartige Begründung für die außergewöhnliche Zusammenstellung des Solistentrios. Sie sei von einem Bericht in der New York Times über einen kambodschanischen Jungen inspiriert, den die Roten Khmer vor die grausame Wahl gestellt hatten, dass entweder seine Schwester verstümmelt oder er selbst hingerichtet würde. Entsprechend verkörperten Knabensopran und Sopranistin (trotz ihres hörbaren Altersunterschieds) das Geschwisterpaar, während der verstorbene Vater im Solotenor repräsentiert sei. Diese eigentümliche Lesart fand 1986 ihren Niederschlag in einer Choreografie von Kenneth MacMillan für das American Ballet Theatre.
Man kann darüber streiten, inwieweit Lloyd Webbers eklektizistisches Experiment aufging. Bisweilen erwächst aus dem bunten Patchwork scheinbar unvereinbarer Elemente eine wundersame Harmonie höherer Ordnung, an anderen Stellen zerbirst das fragile Gebäude durch die Fliehkraft seiner Einzelteile. Und doch mussten selbst die unbarmherzigsten Kritiker Lloyd Webbers zugeben, dass seine Auseinandersetzung mit der Gattung des Requiems wenigstens auf dem richtigen Wag war. So bescheinigte ihm John Rockwell in der New York Times: »Es besteht die Aussicht, dass Lloyd Webbers Streben nach ernsthafter Anerkennung ihn reinigen […] und zu einer neuen Synthese von künstlerischer Ernsthaftigkeit und populärer Anziehungskraft führen wird.« Mit seiner Psalmvertonung für die Krönungszeremonie von Charles III. im Mai dieses Jahres hatte Lloyd Webber nach knapp vier Jahrzehnten der Enthaltung von geistlicher Musik erneut die Möglichkeit zu zeigen, ob ihm diese »neue Synthese« nun gelingt.
Anything Goes?
Zur Verweltlichung des Requiems ab dem 19. Jahrhundert
Mit Mozart begann das weltliche Nachleben des Requiems außerhalb des liturgischen Totengedenkens. Die Romantiker waren wie besessen von der schaurigen Vorstellung, der von Todesahnungen Gezeichnete hätte ein Requiem für sich selbst komponiert, dessen Vollendung ihm kein anderer als der Tod selbst (oder sein irdischer Helfershelfer Antonio Salieri) versagt hätte. Da die katholische Kirche zu jener Zeit ihre Deutungshoheit über das menschliche Leben, Sterben und Nachleben zum Teil an Philosophen und Naturwissenschaftler abgeben musste, konnte Mozarts Requiem auch als Zeugnis eines existenziellen schöpferischen Kampfes verstanden werden. Als eines der ersten geistlichen Werke des 18. Jahrhunderts hielt es Einzug in den Konzertsaal, den Tempel der neuen Kunstreligion. Dieses Vorbild regte zahlreiche Komponisten an, die Texte und Melodien der Totenmesse in säkulare Formen zu überführen: Berlioz’ Grande messe des morts wollte den Gefallenen der (weltlichen) Juli-Revolution die letzte Ehre erweisen, die Missa da Requiem des bekennenden Atheisten Verdi dem italienischen Nationaldichter Alessandro Manzoni. Schumann betrauerte im Requiem für Mignon eine fiktive Romanfigur, während das Deutsche Requiem von Brahms vor allem Trost für die Hinterbliebenen suchte. Die Melodie des »Dies irae« eroberte ferner zunächst die Instrumentalmusik: von der Symphonie fantastique bis zu den Danses macabres (Totentänzen) von Liszt, Saint-Saëns und Rachmaninow. Seit der Stummfilmzeit jagt sie zudem Kinobesuchern regelmäßig Schauer über den Rücken.
Wie die Schranken von Geistlichem und Weltlichem fielen, so letztlich auch die von Kunst und Kommerz. Andrew Lloyd Webber hatte deshalb keine Skrupel, das »Pie Jesu« als Video-Clip aus seinem Requiem auszukoppeln, um ein Millionenpublikum zu begeistern. 2006 unterlegte der Post-Minimalist Karl Jenkins das »Dies irae« seines Requiems sogar einem Werbespot für ein Deodorant, in dem Schwärme von Bikinimädchen einen wohlriechenden Athleten mit ihrer Leidenschaft zermalmen. Weiter kann die Veräußerung des geistlichen Erbes nicht getrieben werden. Doch hinter Jenkins’ skandalösem Flirt verbirgt sich zugleich ein doppelbödiger Abgesang auf eine an sich selbst zugrunde gehende Konsumkultur.