Zwei Seelen in einer Brust
Von Jörg Handstein
Franz Liszt | 22. Oktober 1811 in Raiding / Doborján (Königreich Ungarn) – 31. Juli 1886 in Bayreuth
Eine Faust-Symphonie | Entstehungszeit: Skizzen und Konzeption in den 1840er Jahren, Niederschrift der ersten drei Sätze von August bis Oktober 1854, Komposition des Schlusschores unklar, spätestens im Frühjahr 1857. Widmung: Hector Berlioz. Uraufführung: 5. September 1857 in Weimar unter der Leitung des Komponisten
»Heute steht die deutsche Nation an den Stufen eines Denkmals, das unsere Festtage in einem Glanze leuchten lässt, das seine Strahlen über das gesamte Vaterland, ja über die ganze gebildete Menschheit ausströmt.« Erfüllt von der Bedeutung seiner Worte hält der Redner inne. Sein Blick schweift über die Menge und fixiert das Denkmal von Ernst Rietschel. In Bronze gegossen, reichen sich Goethe und Schiller die Hand vor dem Hoftheater. Ist es nicht ein Tempel des Wahren, Guten, Schönen? Und ist Weimar nicht die Wiege der deutschen Kultur, die ideelle Hauptstadt Deutschlands? Über dem Platz wehen bunte Fahnen, junge Leute schwenken die Hüte, die Honoratioren auf der Tribüne schwellen die ordengeschmückte Brust. Die Enthüllung des Goethe-Schiller-Denkmals am 4. September 1857 ist ein Ereignis ersten Ranges. Am nächsten Tag führt Hofkapellmeister Franz Liszt zwei neue Werke auf: die Symphonische Dichtung »Die Ideale« nach Schiller und, als Krönung der Festlichkeiten, »Eine Faust-Symphonie« nach Goethe.
Schon als Liszt noch rastlos durch Europa zog, schwärmte er: »Weymar, mein Fixstern, Weymar, die Heimat des Ideals.« 1848 wurde er dann Kapellmeister am Hof von Herzog Carl Alexander. Hier hatte er nicht nur vor, endlich in Ruhe größere Werke zu komponieren, sondern auch »die große Kunstperiode Weimars: Goethe – Schiller, einigermaßen fortzusetzen«. Dieses hohe Ziel verfolgte Liszt auf zwei Wegen: Er förderte die damals modernste Musik, etwa von Wagner, Berlioz und Schumann, und er entwickelte das Konzept der Symphonischen Dichtung, das die Orchestermusik auf Augenhöhe zur Weltliteratur bringen sollte. Angeregt von Mythen, Bildern und literarischen Stoffen, vermittelt der Musiker – oder vielmehr »Tondichter« – nun Ideen, »die durch einen poetischen oder philosophischen Faden untereinander verbunden sind«. Dieser Faden aber sollte in ein Gewebe geknüpft werden, das auch rein musikalisch zusammenhält. Bestimmte Grundmotive sollten sich variabel dem Fluss der Gedanken anpassen, und eine flexible Sonatenform sollte das ideelle Geschehen zwanglos in sich aufnehmen. Der Ausgangspunkt war die programmatische Ouvertüre, das Ziel eine neue Gattung von höchstem symphonischem Anspruch. Dabei schwebte Liszt nichts Geringeres vor als die geistige Veredelung der Hörer – der Konzertsaal nach Schiller »als moralische Anstalt«. Wie der mythische Sänger Orpheus, so Liszt im Programm zu seiner gleichnamigen Tondichtung, soll der Komponist »der Menschheit die milde Gewalt der Kunst, den Glanz ihrer Glorie, ihre völkererziehende Harmonie offenbaren«.
Die Realität sah anders aus. Das Weimarer Orchester war klein und marode, viele Musiker litten Hunger, und alle Versuche von Liszt, dies zu ändern, scheiterten an der Sparsamkeit des sich so kulturell gebärdenden Hofes. Und gerade weil die Konzerte viel neue und anspruchsvolle Musik enthielten, machte sich das Publikum rar. Für die Weimarer war Liszt vor allem ein verrückter Ausländer, der in wilder Ehe mit einer zigarrenrauchenden, papageienhaft gekleideten Fürstin lebte, ebenfalls Ausländerin. Zwar rissen sie ihm nicht den Kopf ab, wie die Mänaden dem Orpheus, aber ein inszenierter Tumult bei der Uraufführung von Peter Cornelius’ »Barbier von Bagdad« sollte ihn 1858 zum Rücktritt zwingen. Die Weimarer zeigten von Beginn an wenig Neigung, sich mittels »Zukunftsmusik« veredeln zu lassen … Dennoch ließ sich Liszt nicht aus dem Konzept bringen und komponierte von 1848 bis 1854 eine ganze Serie von Symphonischen Dichtungen. Er wollte sich (und wohl auch das Publikum) zunächst mit einsätzigen Werken vorbereiten, bevor er sich an großformatige Symphonien wagte. Nach der Niederschrift der letzten Noten der (noch dreisätzigen) »Faust-Symphonie« am 19. Oktober 1854 berichtet er: »Das Ding oder Unding ist sehr lang geworden, und ich werde jedenfalls die 9 symphonischen Dichtungen in Druck und Aufführungen vorangehen lassen, bevor ich den Faust in Bewegung setze.«
Um die Entstehung dieses »Faust« nachzuvollziehen, muss man zurück in das Paris um 1830. Der junge Franz Liszt ist der Rising Star am Virtuosenhimmel. Wenn er konzertiert, fliegen ihm Blumensträuße und weibliche Herzen entgegen. Damen fallen in Ohnmacht oder prügeln sich um ein von ihm fallen gelassenes Schnupftuch. Liszt genießt diese Rolle, aber schon damals unterscheiden ihn sein Bildungshunger und ein emphatisches Kunstverständnis vom gewöhnlichen Virtuosen. Nach dem Erlebnis eines Paganini-Konzerts schreibt er einem Freund: »Seit fünfzehn Tagen arbeiten mein Geist und meine Finger wie zwei Verdammte – Homer, die Bibel, Platon, Locke, Byron, Hugo, Lamartine, Chateaubriand, Beethoven, Bach, Hummel, Mozart, Weber, sie alle sind um mich herum. […] Ach! Wenn ich nicht verrückt werde, wirst du einen Künstler in mir wieder finden!« Hector Berlioz, der bereits »Huit scènes de Faust« komponiert hat, macht ihn auf Goethes Drama aufmerksam, das 1827 in der Übersetzung von Gérard de Nerval herausgekommen ist. »Faust« erscheint Liszt also im Licht der französischen Romantik, die geprägt ist von flammenden Leidenschaften, innerer Zerrissenheit und Weltschmerz, von religiöser Schwärmerei und der Lust am Diabolischen und Grotesken. Die »drei Charakterbilder« der Symphonie lassen sich nicht eins zu eins auf Goethe zurückführen. Sie sind romantisch und stark subjektiv gefärbt: Trägt nicht auch Liszt zwei Seelen in der Brust, die Gier nach Lebenslust und den Drang nach Höherem? Auf seinem Weimarer Reisepass wird er sich an erster Stelle als »Doktor der Philosophie« ausweisen …
Ein fast halbstündiger Sonatensatz, fünf Themen, ein äußerst vielgestaltiger, ja verwirrender Aufbau: Es ist klar, dass der erste Satz keinen Alltagsmenschen porträtiert. Die Form, zusammengehalten von einem zunächst kaum durchschaubaren System von gedanklichen Bezügen, spiegelt die Komplexität von Fausts Charakter. Langsam tasten sich Dreiklänge aus einem fahlen Dunkel empor. Sie berühren alle zwölf Töne, und auch ihre übermäßige Quinte vereitelt jede Zuordnung zu einer Tonart – ein halt- und zielloses Grübeln, das in eine »dolente« klagende Figur der Oboe übergeht. Wie vergeblich das Streben nach Erkenntnis! Nach dem späteren Kontext dieses Klagemotives zu schließen, klingt hier auch Fausts Sehnsucht nach Liebe an. In der Harmonie erscheint wieder die übermäßige Quinte: Die zwei scheinbar gegensätzlichen Wesenszüge hängen also geheimnisvoll zusammen. Was Faust als Denkenden wie Liebenden umtreibt, verkörpert dieses labile, zweideutige, auflösungsbedürftige Intervall. »Allegro agitato ed appassionato assai« beginnt nach ein paar Minuten das erste Thema des schnellen Hauptteils. Die flackernde Chromatik, die rhythmische Unruhe, das wilde Auf und Ab bedürfen wohl kaum der Erklärung: Die Spielanweisung dient zugleich Fausts Charakterisierung. Die recht plötzlich einsetzende, gesangliche Melodie in den Holzbläsern scheint das Seitenthema zu sein. Dann aber wird es kompliziert: Denn das Leidenschaftsthema fährt immer wieder »furioso« dazwischen und setzt damit schon den dramatischen Ablauf der Durchführung in Gang. Und nach einer stillen Episode gesellen sich noch zwei weitere Themen hinzu: eine aus dem Klagemotiv abgeleitete, von den Holzbläsern lieblich harmonisierte Melodie, der die Streicher sehnsüchtig nachhängen, sowie eine feierliche, in vollem Blech strahlende Fanfare. Wie in anderen Werken von Liszt verweist ein solches »Grandioso« auf ein Ideal, ein hehres Ziel, das es zu erreichen gilt. Es könnte, wie etwa in »Les Préludes« oder »Tasso«, zu einem triumphalen Schluss führen. Aber all die Verwicklungen, Konfrontationen und dramatischen Wendungen führen nicht zum Durchbruch. Stattdessen ruft der Schluss mit tragischer Wucht die Ausgangssituation zurück: Resignierend, über grollenden Pauken, verklingt die Fanfare, und ein letzter Schub düsterer Leidenschaft mündet in die noch einmal heftig sich aufbäumenden Motive des Grübelns und der Klage, bis jenes im Dunkel verlischt. »Da steh ich nun, ich armer Tor …«
Die beiden dem zweiten Satz zugrunde liegenden Themen zeigen Gretchen in scharfem Kontrast zu Faust als sanfte, anmutige Gestalt und eher schlichtes Gemüt; »dolce semplice« singt die Oboe eine Art Cavatine, und die Streicher folgen »dolce amoroso« mit einer sanft sprechenden Phrase. Damit blendet Liszt Gretchens Konflikt und Tragödie völlig aus. Der Satz malt gegen Goethe das flache Bild eines unschuldigen Engels, ein Ideal der Helle und Reinheit, eine synthetische Figur aus den Männerträumen der Romantik. Erst das Klagemotiv (»patetico« in den Hörnern) dringt wieder in tiefere, dunklere Ausdrucksschichten vor. Fausts Themen passen sich dem glatteren melodischen Fluss an. Er scheint ruhiger zu werden unter Gretchens Einfluss, und am Schluss schwebt ihm wieder sein »Grandioso«-Ideal vor, verwandelt in eine zarte Violin- und Bläserfigur.
Dann aber ein Grummeln in den Bässen, die verminderte Quinte, der »Diabolus in Musica«: Vorhang auf für Mephistopheles! Doch als ob er über keinen eigenen Charakter verfüge, tritt er nicht mit eigenen Themen auf. Der Geist, der stets verneint, genügt sich darin, die Themen Fausts »ironico« in lustige bis schreckliche Zerrbilder zu verwandeln. Oder ist der Teufel eine Seite von Faust selbst, ein Schatten der zwei Seelen? Nach dem einleitenden Gekicher der Holzbläser hüpft, zuerst im Fagott, das Motiv der Liebessehnsucht herein. Es folgen die vergrübelten Dreiklänge, die in chromatischer Verkleidung kaum zu erkennen sind. Schließlich beginnt der Tanz mit Fausts Leidenschaftsmotiv als rhythmisch unberechenbares, brutal sich steigerndes »Scherzo«. Das ist aber nur der Auftakt zu immer verrückteren Verrenkungen der Themen. Mit dieser Negativierung von Musik machte Liszt, ausgehend von Berlioz, einen großen Schritt hin zu Gustav Mahler und zur Moderne. Natürlich konnte er es dabei nicht belassen. Nach seinem idealistischen Denken musste die musikalische Harmonie wiederhergestellt werden. Das gewährleistet Gretchens Melodie, deren Reinheit inmitten des höllischen Reigens ungetrübt bleibt. Wie aber konnte Liszt diesen enormen Satz noch apotheotisch überhöhen? Ein langes »Finale« hätte das Gesamtkonzept der Symphonie gesprengt. Richard Wagner war der Meinung, das leise Ausklingen des Satzes mit der kurzen Gretchen-Reminiszenz, »ohne alle gewaltsame Aufmerksamkeitserregung«, hätte genügt. Doch Liszt, angeblich beeinflusst von seiner Fürstin, hängte später noch den Schlusschor des »Faust II« an, wobei das Tenor-Solo auch nur das berühmte hinanziehende »Ewig- Weibliche« in den Fokus der lichtstrahlenden Apotheose rückt. Vielen Kommentatoren gilt dieser Chor als ästhetisch fragwürdig, und in der Tat verkürzt er Goethes komplexen, vieldeutigen Schluss auf ein allzu simples Klischee. Die Symphonie endet damit ganz im Einklang mit unserem Festredner, der an den Stufen des Denkmals auch davon schwärmte, wie Goethe »das Ideal der Weiblichkeit zum Ideal der Menschlichkeit erhob«.
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche
Hier wird’s Ereignis;
Das Unbeschreibliche
Hier ist es getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.
Johann Wolfgang von Goethe, aus: Faust II