Selige Zeiten
Von der Bühnenmusik zum Symphonischen Psalm – Arthur Honeggers Musik zu »König David«
Von Monika Lichtenfeld
Mézières, ein Bauerndorf im Hügelmassiv des Jorat, liegt zwölf Kilometer nördlich von Lausanne hoch über dem Genfer See. Hier gründete der waadtländische Dichter René Morax, angeregt durch Romain Rolland, 1908 das Théâtre du Jorat, eine Volksbühne, die Schauspiel und Musik nach antikem Vorbild zu verbinden suchte. In einer technisch vorzüglich adaptierten Holzscheune spielte man an Wochenenden im Sommer historische oder biblische Dramen mit regionalem Bezug, verfasst und produziert von René Morax gemeinsam mit seinem Bruder, dem Maler Jean Morax, und dem westschweizer Komponisten Gustave Doret. Publikumsinteresse und kritische Resonanz in der Öffentlichkeit wuchsen von Jahr zu Jahr, und bald gehörte es »sozusagen zur patriotischen Pflicht jedes Waadtländers, mindestens eine Vorstellung jedes neuen Dramas besucht zu haben«, wie der Schweizer Publizist Willy Tappolet berichtete.
Nach einer Zwangspause während des Ersten Weltkriegs und der frühen Nachkriegsjahre entschloss sich René Morax, die Arbeit unter neuen Vorzeichen, auf einer breiteren thematischen Basis und mit jüngeren Kräften, wieder aufzunehmen. Als Premierenstück für die Wiedereröffnung des Théâtre du Jorat im Sommer 1921 schrieb er das zweiaktige biblische Drama »Le roi David«. Für die Bühnenmusik war ursprünglich ein junger Genfer Komponist, Jean Dupérier, vorgesehen, der aber wegen der Kürze der Frist absagte. Man bat Strawinsky, der die Kriegsjahre in Clarens am Genfer See verbracht hatte, und den Dirigenten Ernest Ansermet um Rat, und beide empfahlen Arthur Honegger – damals 28-jährig, Mitglied der Pariser Groupe des Six, aber international noch kaum bekannt – als Komponisten. Die Zusammenarbeit von Morax und Honegger am Théâtre du Jorat, aus der neben »Le roi David« noch drei weitere Dramen mit Musik – »Judith« (1925), »La belle de Moudon« (1931) und »Charles le téméraire« (1944) – hervorgingen, hat die westschweizer Kunstszene nachhaltig inspiriert und gehört zu den interessantesten Kapiteln einer produktiven Künstlerfreundschaft im 20. Jahrhundert.
»Anfang 1921 erhielt ich«, so erzählt Honegger in seinem Erinnerungsbuch »Je suis compositeur« (»Ich bin Komponist«), »einen Brief von René Morax, der mit seinem Bruder Jean im Dorfe Mézières das Théâtre du Jorat gegründet hatte. Alle zwei Jahre gaben sie eine Reihe von Vorstellungen. Morax beauftragte mich mit der Komposition eines Roi David, den er im Mai desselben Jahres aufführen wollte. Ohne mir des Gewichts der mir anvertrauten Arbeit ganz bewusst zu sein, nahm ich mit Freuden an, umso mehr, als dieser Stoff mir als ,Bibelkenner‹ zusagte. Die Aufführungen dieses Werkes und zumal ihre Vorbereitung gehören zu meinen allerschönsten Erinnerungen. Selige Zeiten!«
Am 25. Februar 1921 begann Honegger mit der Komposition. Er arbeitete teils in Paris, teils in Zürich unter großem Zeitdruck Tag und Nacht und stellte die Partitur (insgesamt 27 Nummern, Aufführungsdauer etwa 75 Minuten) in kaum mehr als zwei Monaten bis zum 28. April fertig. Noch während der Niederschrift hatten die musikalischen Proben in der Schweiz begonnen. Anfang Juni kam Honegger selbst zur Einstudierung nach Mézières, und er dirigierte auch die Uraufführung des »Roi David«, zusammen mit dem Chorleiter Paul Boepple, zur Wiedereröffnung des Théâtre du Jorat am 11. Juni 1921. »Studenten, Bauern und Fachleute«, so berichtete der Komponist, »arbeiteten mit Begeisterung zusammen. Drei Maler, Jean Morax, Cingria und Hugonnet, malten die Kulissen und Kostüme. Es gab 27 Bilder, und es kamen Wagen auf die Bühne, die von lebendigen Pferden gezogen wurden. Der Erfolg krönte unsere Mühen.« Der enthusiastisch aufgenommenen Premiere folgten bis zum 17. Juli elf weitere Vorstellungen. Honegger selbst indes sah im Erfolg seines ersten großformatigen Bühnenwerks nicht so sehr die künstlerische als vielmehr die soziale Leistung, wie er rückblickend in einem Gespräch mit Bernard Gavoty bekannte: »Ich wollte beide Teile des Publikums, die Sachverständigen und die Masse, packen. An gewissen Stellen schien es mir, ich hätte mein Ziel erreicht: zum Beispiel dann, wenn ich die Bauern des Jorat das Hallelujah im Roi David singen hörte.«
Um das Werk auch andernorts und unabhängig von den besonderen Bühnenbedingungen des Théâtre du Jorat zugänglich zu machen, entschlossen sich Dichter und Komponist 1923, den »Roi David« für Konzertaufführungen umzuarbeiten. Dabei ging die dramatische Aktion in die Rolle eines Erzählers (Récitant) ein, der den Handlungsverlauf – teils in reinem Sprechtext, teils in melodramatischen Passagen – erläutert und derart die einzelnen musikalischen Nummern – Soli, Chöre und Instrumentalsätze – durch einen »roten Faden« verbindet. Honegger war nun nicht mehr an das kleine Musikerensemble von Mézières (17 Instrumente: Bläser, ein Kontrabass, Schlag- und Tasteninstrumente) gebunden. Er schrieb die Partitur für großes Orchester mit Streichern, Harfe und verstärkter Bläsergruppe um. Trotz der vielfach geschmeidigeren Orchestrierung blieb das spezifische Instrumentalkolorit gewahrt – ein herber, kantiger, mitunter fast »barbarischer« Klang, der Farbenpracht und Wildheit, Leuchtkraft und Nuancenreichtum in sich vereint.
Die Neufassung wurde entscheidend stimuliert durch den Mäzen Werner Reinhart und den Gemischten Chor Winterthur, die eine konzertante Darbietung in deutscher Sprache für Herbst 1923 planten. Hans Reinhart, ein Bruder Werner Reinharts, besorgte die Übersetzung des Dramas aus dem Französischen, und Honegger selbst kam nach Winterthur, um die Uraufführung der Oratorienfassung (»Symphonischer Psalm«) am 2. Dezember 1923 unter der Leitung von Ernst Wolters mitzuerleben. Noch wichtiger für den internationalen »Durchbruch« des »Roi David« wurde jedoch die Pariser Erstaufführung im März 1924 in der Salle Gaveau unter Robert Siohan, die dem Komponisten einen triumphalen Erfolg und ausführliche, überwiegend enthusiastische Kritiken eintrug. »Ich werde nie vergessen«, notierte Arthur Hoérée in der »Comoedia«, »welche Begeisterung an diesem außerordentlichen Abend im überfüllten Saal herrschte, den das Publikum als Schauplatz eines bedeutenden Ereignisses empfand. Ich besuchte damals die Dirigentenklasse des Konservatoriums, und Honegger hatte mich gebeten, die Pauken zu übernehmen. Farbenglanz und unbezähmbare Energie dieses Werkes hatten uns alle, bis zum hintersten Chorsänger, gepackt.« Figurierte der oratorische »König David« auf dem Winterthurer Konzertprogramm noch, in Anlehnung an die Bühnenversion, als »Dramatischer Psalm«, so wählte Honegger für die definitive, 1924 publizierte Druckfassung den Titel »Symphonischer Psalm in drei Teilen nach dem Drama von René Morax« – wohl auch, um den Vorrang der Musik gegenüber der Dichtung zu betonen.
Morax orientiert sich in seiner Dichtung eng an der alttestamentlichen Geschichte des Königs David, wie sie im 1. und 2. Buch Samuel und im 1. Buch der Könige dargestellt ist. Durch geringfügige Umstellung und Raffung von Episoden wird der Handlungsverlauf chronologisch übersichtlicher und zugleich spannungsreicher ausgeformt. Eingeschoben in die Erzählung des biblischen Geschehens durch den Sprecher erscheinen einerseits freie Psalmendichtungen (Nrn. 3, 6, 9, 11, 19–21, 24), andererseits liedhafte oder choralartige Lyrik, die inhaltlich wiederum eng auf den Bibelbericht (Nrn. 14, 22, 26–27) oder auf Psalmentexte (Nrn. 2, 15–18) Bezug nimmt. Aus dem kontrastreichen Gefüge von epischen, lyrischen und dramatisch bewegten Passagen erwächst eine facettenreiche Biographie der »historischen« Figur und zudem ein außerordentlich lebendiges Portrait des Menschen David.
Das Libretto der Oratorienfassung gliedert sich in drei Teile, von denen der erste (David als Hirte, Hauptmann und Heerführer) besonders reich an Aktion und dramatischer Pointierung der Charaktere ist. Samuel, der Prophet Jehovas, begibt sich nach Bethlehem, um den Hirtenknaben David, den jüngsten Sohn Isais, zum König zu salben; er ist dazu auserwählt, den von Gottes Gnade verlassenen Saul als Herrscher Israels abzulösen. Davids erfolgreicher Kampf gegen Goliath, den Heerführer der Philister, und der Jubel des Volkes über seinen Sieg erwecken Sauls Misstrauen, seine Eifersucht, seinen wahnwitzigen Zorn. Vor Sauls Verfolgung flüchtet David in die Wüste, vertraut sich dem Schutz des Propheten an, bewaffnet seine Anhänger, paktiert mit dem Philisterkönig Moab. Der alternde, an seinem Glück verzweifelnde Saul sucht im Schatten der Nacht die Hexe von Endor auf; sie beschwört den Geist des toten Samuel herauf, der dem König den Tod prophezeit. Im entscheidenden Kampf Israels gegen die Philister auf dem Berg Gilboa fällt Sauls Sohn. Aus Schmerz über den Verlust wie über die Niederlage seines Volkes stürzt sich der König selbst ins Schwert. Mit dem Triumphmarsch der Philister und der Klage der Israeliten über ihren toten König klingt dieser erste Teil aus.
Der zweite Teil (Das Siegesfest) setzt einen vergleichsweise statischen Kontrapunkt gegen den dramatisch bewegten ersten, zumindest was den Fortgang der Handlung betrifft. Zwei großartig entfaltete und strukturell sehr vielgestaltige Szenen markieren den musikalischen Höhepunkt der gesamten Partitur. Israel feiert seinen neuen König David mit Dankopfer, Huldigungsprozession und Freudenfest, das im Tanz vor der Bundeslade orgiastisch kulminiert. Ein Engel verkündet dem König und seinem Volk den künftigen Tempelbau (durch Davids Nachfolger Salomon) und den ewigen Bestand des auserwählten Geschlechts.
Der dritte Teil des Oratoriums (David, der König und Prophet) verknüpft wiederum eine Fülle biblischer Handlungsstränge, die aber eher in fragmentarischen Episoden, in episch lockerer Reihung vorgestellt werden. Den Schwerpunkt des Geschehens, der alles Folgende motiviert, bildet zunächst Davids Schuldverstrickung durch den Ehebruch mit Urias Weib Bathseba und die Ermordung Urias, der den Zorn Jehovas erregt und das Königshaus in Trauer stürzt. Das gemeinsame Kind Davids und Bathsebas stirbt, und wiewohl der König sein Unrecht erkennt und Buße tut, wird er von Gottes Strafe weiter verfolgt. Davids Lieblingssohn Absalom erhebt sich gegen den Vater und fällt in der Entscheidungsschlacht im Walde von Ephraim. Der Triumph des siegreichen Heeres wird gedämpft durch die Trauer des Königs um seinen Sohn. Doch Davids Stolz ist ungebrochen und fordert erneut den Zorn Gottes heraus, der als Strafe den Todesengel der Pest nach Jerusalem schickt. Die Bitte um Erbarmen und Rettung und das Gelöbnis des Tempelbaus stimmen Jehova gnädig, so dass er die Plage von Israel nimmt. David fühlt sein Ende nahen und lässt seinen Sohn Salomon zum Nachfolger krönen. Der Dank des Sterbenden für ein reiches und erfülltes Leben verbindet sich im Finale mit der Engelsvision des kommenden Messias und dem Hallelujah-Jubel des Volkes.