Musik einer »ungebändigten Persönlichkeit«
Von Renate Ulm
Missa solemnis | Entstehungszeit: 1819 bis 1823; Widmung: »Dem Erzherzog Rudolph von Österreich, Erzbischof von Olmütz, gewidmet« / »Von Herzen – Möge es wieder – zu Herzen gehen!«; Uraufführung 26. März (7. April) 1824 in der Philharmonischen Gesellschaft in Sankt Petersburg; Teilaufführung am 7. Mai 1824 in Wien unter der Leitung von Michael Umlauf.
Ludwig van Beethoven | 16. (Taufdatum 17.) Dezember 1770 – 26. März 1827
Das Beethoven-Porträt von Joseph Karl Stieler prägt bis heute den Mythos vom genialischen Tonschöpfer: Mit wirrer, grauer Löwenmähne, in legerer Kleidung sitzt Beethoven inmitten der Natur und wartet auf die himmlische Eingebung – den Blick wie die Heiligen von Guido Reni zum Himmel gerichtet, nur etwas grimmiger. Der Komponist hält die Feder zum Schreiben bereit, notiert gleichsam als Sekretär des Schöpfers sein größtes Werk, die »Missa solemnis«. Licht fällt auf seine gewölbte Stirn – er wird erleuchtet beim Schreiben, inspiriert von oben. Beethovens Kompositionsprozess ist auf diesem Gemälde idealisiert dargestellt, denn das Warten auf den göttlichen Einfall lässt sich mit seiner Arbeitsweise überhaupt nicht in Einklang bringen. Die umfangreichen Skizzenbücher spiegeln die gründliche Detailarbeit: die Feinabstimmung der kleinsten Motive, das Abklopfen der Themen auf ihre Brauchbarkeit hin, bis sie alle seinen kompositorischen Vorstellungen standhalten und auf einen Kerngedanken wie das »Kyrie«-Motiv zurückgeführt werden können, aus dem das gesamte Werk ins ungeheuer Große herauswächst. Jede Note ist bedeutungsvoll und beziehungsreich gesetzt. Mit dem Wald im Hintergrund gibt das Porträt allerdings einen richtigen Hinweis auf Beethovens Gottessuche in der Schöpfung und seiner Liebe zur Natur.
Den Anstoß zur Komposition der »Missa solemnis« gab die Ernennung Erzherzog Rudolphs (1788–1831) zum Erzbischof von Olmütz am 24. März 1819 und zum Kardinal am 4. Juni 1819. Schon acht Jahre zuvor hätte Rudolph dieses Amt als Nachfolger von Anton Theodor von Colloredo übernehmen können, doch überließ er es damals, 1811, dem Grafen Maria Thaddäus zu Trauttmannsdorf-Weinsberg. Die Absage wurde damit begründet, dass Erzherzog Rudolph sich einerseits noch für zu jung hielt, um diese Stelle ausfüllen zu können, andererseits angeblich den Unterricht bei Beethoven vorgezogen habe. Seit etwa 1804 erhielt Rudolph bei ihm Klavierunterricht, später nahm er auch Kompositionsstunden und erwies sich in beidem als begabter Schüler. Rudolph war zudem einer der wichtigsten Mäzene Beethovens. Gemeinsam mit den Fürsten Kinsky und Lobkowitz ließ er dem Komponisten eine Art Leibrente von 1500 Talern zukommen, um ihn in Wien zu halten und »in den Stand zu setzen, dass die notwendigsten Bedürfnisse ihn in keine Verlegenheit bringen und sein kraftvolles Genie hemmen sollen«. Für die Unterstützung bedankte sich Beethoven mit zahlreichen Widmungen, u. a. den beiden letzten Klavierkonzerten, der Klaviersonate »Les Adieux«, deren Thema wie ein Signum in weiteren Rudolph gewidmeten Werken auftaucht, so in der Violinsonate op. 96 und in der »Missa solemnis«. Das Verhältnis zwischen Beethoven und seinem adligen Schüler und Gönner entwickelte sich über die Jahre hinweg zu einer sicherlich standesbedingt leicht distanzierten, aber doch intensiven Freundschaft, die sich durchaus in einem gegenseitigen Geben und Nehmen äußerte. Mit der im Jahr 1819 bekannt gewordenen Ernennung zum Kardinal, nach dem Tod von Trauttmannsdorf-Weinsberg, veränderten sich Position und Machtbefugnisse Rudolphs. Beethoven erhoffte sich durch ihn, nun Hofkapellmeister zu werden. In zahlreichen Briefen wird dieser Wunsch, endlich ein festes Amt zu bekleiden, thematisiert.
Bereits vor der offiziellen Ernennung muss Rudolph Beethoven in die Pläne, nach Olmütz zu gehen, eingeweiht und mit ihm das Für und Wider dieser Position, sein Zögern und seine Bedenken besprochen haben. Daher konnte Beethoven schon am 3. März 1819 an Rudolph schreiben: »[Ich weiß] nur zu gut, daß diese neue Würde nicht ohne Aufopferung von Seite I.K.H. [Ihro Königlicher Hoheit] angenommen wurde, denke ich mir aber, Welch erweiterter Wirkungs Kreiß dadurch ihnen u. ihren großen edelmüthigen Gesinnun-[gen] geöfnet wird, so kann ich auch nicht anders als deswegen meinen Glückwunsch […] ablegen, Es gibt beynahe kein gutes – ohne Opfer u. gerade der edlere beßere Mensch scheint hiezu mehr als andere Bestimmt zu seyn, damit seine Tugend geprüft werde. – . – der Tag, wo ein Hochamt Von mir zu den Feyerlichkeiten für I.K.H. soll aufgeführt werden, wird für mich der schönste meines Lebens seyn, u. Gott wird mich erleuchten, daß meine schwachen Kräfte zur Verherrlichung dieses Feyerlichen Tages beytragen.«
Sogleich begann Beethoven – neben anderen Kompositionen – mit der Vorarbeit zur Messe, die darin bestand, dass er Sakralwerke älterer Meister zur Anregung durchging. Rudolph überließ ihm hierfür seine wertvolle, umfangreiche Musikaliensammlung, die Beethoven auch nutzte. »Ich war in Vien [Wien], um aus der Bibliothek I.K.H. das mir tauglichste auszusuchen. Genie hat doch nur unter ihnen der Deutsche Händel und Seb. Bach gehabt«, schrieb Beethoven am 29. Juli 1819 an Rudolph und weiter: »allein Freyheit, weiter [zu] gehen, ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen großen schöpfung, zweck, u. sind wir neueren noch nicht ganz so weit, als unsere altvordern in Festigkeit, So hat doch die verfeinerung unsrer Sitten auch manches erweitert, meinem erhabnen Musik Zögling [Rudolph] darf Ein- seitigkeit nicht Vorwurf werden, et iterum venturus judicare Vivos – et mortuos – .«
Dieser Brief ist noch in anderer Hinsicht von Bedeutung, sagt er doch aus, dass dem künftigen Kardinal Rudolph wohl eine traditionelle Messe vorschwebte, dass ihm vielleicht ein neues Werk Beethovens schon reizvoll, aber in seiner mutmaßlich radikalen Textauslegung der Liturgie gerade für die Inthronisation eher bedenklich schien. Denn der neue Kardinal kannte Beethovens Einstellung zur Kirche nur zu genau und wusste darüber hinaus, dass jedes Werk Beethovens in dieser Zeit die Grenzen des bisher Gehörten überschritt. Doch Beethoven, wie das Briefzitat oben darlegt, wollte nicht im alten Stil komponieren. Er ermahnte Rudolph, in seiner aufgeklärten Kunstauffassung nicht plötzlich eine allzu konservative Haltung anzunehmen. In den weiteren Wochen kam Beethoven mit der Komposition nicht voran, er laborierte an diversen Krankheiten und war mit dem Vormundschaftsprozess um seinen Neffen Karl zu beansprucht und seelisch belastet. Rudolph, der mit seinem neuen Amt ebenfalls sehr beschäftigt war, sah seinen Lehrer seltener: »Lieber Beethoven! Da ich Hierher [nach Olmütz] bestimmt bin, so mußte ich Wien schnell verlassen [am 6. März 1820], sonst hätte ich mich, von so manchen mir daselbst werthen Gegenständen [mich] nie trennen können, damit Sie aber sehen, daß auch in der Entfernung, ich an dieselben denke, so schreibe ich Ihnen diese paar Zeilen. Es war mir leid daß ich Sie vor meiner Abreise nicht gesehen, aber überzeugt von Ihren Gesinnungen, hoffe ich daß Sie fleissig für mich komponieren werden.« Das Wort »Gegenstand« süffisant und selbstbewusst wieder aufgreifend, antwortete Beethoven: »wenn I.K.H. mich einen ihrer werthen Gegenstände nennen, so kann ich zuversichtlich sagen, daß I.K.H. einer der mir Werthesten Gegenstände im Universum sind, bin ich auch kein Hofmann, so glaube ich, daß I.K.H. mich haben so kennen gelernt, daß nicht bloßes kaltes Interesse meine sache ist, sondern wahre innige Anhänglichkeit mich allzeit an Höchstdieselben gefesselt u. beseelt hat.« Beethoven sprach mit »kaltem Interesse« sicherlich seinen Wunsch nach dem Kapellmeisteramt indirekt wieder an. Man muss ihm in diesem Falle mangelnden Realitätssinn vorwerfen: Wer hätte denn den inzwischen vollständig ertaubten Komponisten vorbehaltlos als Kapellmeister eingestellt? Rudolph wäre sofort vorgeworfen worden, seine Position für eigene Interessen auszunutzen. Glaubte Beethoven tatsächlich, dieses Amt mit all den Konzertverpflichtungen ausfüllen zu können? Als Komponist führte er einen eher eigenwilligen Lebensstil und dürfte für ein Hofamt mit seinen hierarchischen Zwängen kaum geschaffen gewesen sein. Es mag sein, dass Rudolph dies sehr wohl abgewogen hat, jedenfalls ging er mit keinem Wort in den bisher bekannten Briefen darauf ein. Das Ausklammern dieses Themas war für Beethoven aber Aussage genug. Seine Enttäuschung trug möglicherweise dazu bei, dass die Messkomposition jetzt nur noch schleppend vorankam und zur Inthronisation Rudolphs nicht fertig wurde. In seinen Briefen allerdings hielt Beethoven seine Verleger und den neuen Kardinal hin, behauptete, das Werk sei so gut wie fertig, entschuldigte sich aber, wegen Gelbsucht, Gicht und Rheuma nicht zum Abschluss zu kommen. Fast fünf Jahre nach den ersten Skizzen fand am 26. März 1824 die Uraufführung statt, aber nicht in Olmütz, sondern in St. Petersburg, nicht in einer Kirche, sondern in einem Konzertsaal. Aber was für ein riesiges, alle liturgischen Grenzen sprengendes Werk war mit einer Spielzeit von 80 bis 90 Minuten entstanden!
Kyrie und Beethovens Kernmotiv
Für seine »Meße« wählte Beethoven ein großes Orchester mit Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotten, Hörnern, Trompeten und Pauken, dazu Streicherap- parat und Orgel sowie Chor und vier Solisten. Der Chor spiegelt eine Art Gemeinde, aus der die Solisten als einzelne Individuen hervortreten und ganz persönliche Empfindungen ausdrücken: Schaudern vor der Allmacht Gottes, flehendes Bitten, demütiges Danken.
Trotz der Größe des Orchesters wollte Beethoven das die Messe eröffnende »Kyrie« »mit Andacht« wiedergegeben haben: Er verlangt innere Sammlung, religiöse Versenkung und Hinwendung zu Gott. So ist das instrumentale Vorspiel gleich einer Meditation zu verstehen, in der die »Kyrie«-Rufe instrumental vorweggenommen sind und auf die nachfolgenden Anrufungen vorbereiten.
Der Sprachrhythmus des »Kyrie«, eine lange Silbe gefolgt von zwei kurzen, ist der Kern des gesamten Werks und findet sich auch in den anderen Sätzen immer dann, wenn vom »Herrn«, von Gott gesprochen wird, denn »Kyrios« bedeutet im Griechischen Herr und Gott. Diese Rhythmisierung wird zum Synonym für die göttliche Sphäre, zum Beispiel im »Gloria«: Zu den gedehnten Silben »Quoniam tu solus sanctus, quoniam tu solus dominus« (»Du allein bist der Heilige, du allein der Herr«) tritt im gesamten Orchester die »Kyrie«-Rhythmisierung, das Wort »Herr« wird instrumental heraus- gemeißelt. Auch das melodische Begleitmotiv zum »Kyrie eleison« erscheint immer wieder und wird weiterverarbeitet. Da die Andacht besinnlich sein soll, komponiert Beethoven das eröffnende »Kyrie« auftaktig, so dass die Anrufung weniger fordernd wirkt, die im weiteren Verlauf des Satzes noch ganz unterschiedliche Gestaltungsformen erhält: demütig, bittend und ehrfürchtig.
Das »Christe eleison« wirkt nach dem von Pauken und Trompeten begleiteten »Kyrie«-Motiv weicher, verbindlicher, vertrauter. Sven Hiemke erklärt dies in seiner großen Analyse als Gegenüberstellung der himmlischen und irdischen Sphäre: dort der ferne gestaltlose Gott Vater im eher unnahbaren metallischen Ton, hier der Mensch gewordene Jesus Christus in zarteren Klangfarben. Dabei ist die fließende Bewegung des »Christe eleison« aus den ersten Tönen des »Kyrie« abgeleitet, die wiederum in der »Gloria«-Schlussfuge, im »Sanctus«, im »Osanna« und im »Agnus Die« als Symbol für Christus wiedererscheint. Beethoven greift bei der Wiederholung des »Kyrie« auf den Anfang zurück, lässt diesen Satzteil aber viel sanfter ausklingen, als hätten sich die«Christus«-Anrufungen auch auf das »Kyrie« ausgewirkt.
»Gloria« und Beethovens Erlösungsgedanke
Das textreiche »Gloria« vertonte Beethoven in prägnanten musikalischen Bildern, die eine intensive Beschäftigung mit der Liturgie und den religiösen Heilsbotschaften, aber auch das geistige Durchdringen christlicher Kernaussagen in Verbindung mit persönlich angeregter Textausdeutung verraten. Beginnt das »Gloria« noch ganz konventionell im Fortissimo mit Jubelchor bei vollem Orchester in D-Dur, so trübt es sich im »Et in terra pax hominibus bonae voluntatis« (»Und auf Erde Friede den Menschen, die guten Willens sind«) ein. Leise und nachdenklich deklamiert der Chor diesen Text ohne strahlende Bläserbegleitung, nur auf dem dunklen Grund eines Horn-Ostinatos. Diese Textstelle war Beethoven besonders wichtig, verweist sie doch schon auf das »Dona nobis pacem« im »Agnus Die«. Jeder, der sie hört, wird darauf aufmerksam, kann sich ihr nicht entziehen. Dass ausgerechnet die kriegerischen Instrumente Pauken und Trompeten wieder zur Jubelstimmung überleiten, macht diese Passage noch einprägsamer. Nach fröhlichem »Laudamus te, benedicimus te« wird das »Adoramus te« wieder ebenso zart und zurückgenommen intoniert wie zuvor das »Et in terra pax«. Was im ersten Moment nicht verständlich ist, erklärt die lateinische Übersetzung des Wortes »adorare« in Verbindung mit dem Wort »pacem«: »um Frieden flehen«. Dies scheint hier von Beethoven gemeint, der diese Worte exakt so komponiert wie zuvor die Bitte um den Weltfrieden.
Nach den Anbetungen senkt sich ein zartes Instrumentalintermezzo »cantabile« und »dolce« herab, gespielt von den Klarinetten, Fagotten, Hörnern und den tiefen Streichern, als erhielten die Gläubigen den Segen und erlebten das Mysterium der Anwesenheit Gottes. Sinnfälliger kann das darauffolgende »Gratias agimus« nicht umgesetzt werden, mit dem sich die Schar der Gläubigen zum herzklopfartigen Pizzicato der Streicher dafür bedankt. Bei jeder Wiederholung wird der »Gloria«-Jubel um einen Ton höher angesetzt, so dass die Musik zunehmend zu leuchten und zu strahlen scheint. Das »Qui tollis peccata mundi, miserere nobis« (»Du nimmst hinweg die Sünden der Welt, erbarme dich unser«) gestaltet Beethoven als dramatische Szene, die durch die Erwähnung des Lammes von den Holzbläsern pastoral gefärbt ist. Die Menge der Sünder zittert lautmalerisch zu einem schnell repetierten verminderten Akkord und ruft zu stockenden Akkorden um Erbarmen, wenn die Posaune des Jüngsten Gerichts bläst. Die Hoffnung auf Erlösung keimt in einem langgezogenen hohen Oboenton, zu dem das Solistenquartett in anrührenden melodischen Bögen das »miserere nobis« gestaltet und der Chor wie ergriffen und überwältigt diese Worte deklamiert. Hier fühlt man sich an »Fidelio« erinnert: Bedeutete es dort das Öffnen des Kerkers und die Freiheit, überträgt Beethoven diese Stimmung auf die seelische Erlösung von den zuvor schwer lastenden Sünden. Auffallend ist, dass Beethoven den letzten »Miserere«-Einwürfen noch ein dramatisches »ah« und »o« voranstellt.
Als Rückgriff auf das Kernmotiv des Kyrie ist die Rhythmisierung des »Quoniam tu solus sanctus« zu verstehen und zugleich als machtvolle Darstellung der Trinität: unumstößlich, feierlich, erhaben. Im Anschluss an die Doxologie entwickelt sich eine große kunstvolle Fuge zu den Worten »in gloria Dei patris, amen«, an die Beethoven in einem kurzen Presto-Satz mit dem »Gloria in excelsis« einen Bogen zum Anfang schlägt – eine bis dahin noch nie vorgenommene Verknüpfung innerhalb des »Gloria«.
»Credo« und Beethovens Glaubenszweifel
Das »Credo«, das liturgische Glaubensbekenntnis, ist das Herzstück jeder Messe, außerdem beantwortet die Vertonung des »Credo« (»Ich glaube«) Goethes berühmte Gretchenfrage: »Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?« Denn in dem, wie und was ein Komponist vertont, was er geflissentlich weglässt, teilt sich meist seine Haltung zur Kirche und zur Religion mit.
Beethoven eröffnet das »Credo« mit einer Kadenzwendung, die das starke tonale Fundament darstellt, als wollte er kundtun: »Hier stehe ich als gläubiger Christ auf sicherem Grund.« Doch die weitere Harmonik widerspricht dem, zu schwankend ist sie. Wie wenn sich Beethoven nun gegen seine eigenen Zweifel wehrte, schrieb er so viele »Credo«-Rufe, als versuchte er sich selbst durch ihre pure Menge im Glauben zu bestärken. Die sensiblen Textausdeutungen sind oft vom Solistenquartett emotional hervorgehoben und vom Chor responsorial im leisen Ton deklamiert, wie eine Bestätigung oder eine Intensivierung. Im »Crucifixus« (»Adagio espressivo«) legt Beethoven besonderen Wert auf die Worte »pro nobis«, die das Unfassbare nochmals vor Augen führen, dass Christus sich nur »für uns« kreuzigen ließ. Der Trauermarsch zum »sepultus«, das freudige Erschrecken über die Wiederauferstehung, die jubelnde Aufwärtsbewegung zur Himmelfahrt, die eherne Posaune zum Jüngsten Gericht – all die Bilder der Passionsgeschichte spiegeln sich eindringlich in der Missa wider. Doch dann kommt der Knackpunkt in Beethovens Messvertonung: das Glaubensbekenntnis zum heiligen Geist und zur heiligen christlichen Kirche. Zunächst vertont Beethoven energisch die Worte »cujus regni non erit finis« (»Und seines Reiches wird kein Ende sein«), wobei er noch drei deutliche »non« hinterherschickt, die sich fast mit dem nächsten »Credo« verbinden. Natürlich schreibt Beethoven eine Zäsur, dennoch hallt das »non« im Fortissimo in instrumentalen Echos nach und mündet ins »Credo«. War das etwa ein »non credo«? Beethoven, der kein Kirchgänger war, stand der katholischen Kirche sehr skeptisch gegenüber, wie in zahlreichen Anekdoten festgehalten ist. Aber ist es möglich, dass er sich hier so deutlich distanzierte und harmonisch auch noch einen Trugschluss schrieb? Beethoven wird man keinen unbeholfenen Umgang mit Worten und Musik unterstellen können … Hinzu kommt, dass der liturgische Text, den er im vorangegangenen Teil sehr ausführlich mit zahlreichen Wiederholungen und musikalischen Bildern über 264 Takte hinweg ausführte, bei der Erwähnung der katholischen Kirche sehr knapp abgespult wird: Auch werden die Worte in tiefer Lage, in ganz kurzen Notenwerten und in wenigen Takten von vielen »Credo«-Rufen überdeckt, so dass sie eigentlich unhörbar sind … Die Irritation ist schnell vorbei, denn schon beginnt die prachtvolle »Amen«-Fuge, die – ein Wunderwerk an Polyphonie – fast nicht mehr enden will, denn immer wieder setzt sie neu ein, als wollte Beethoven die Ewigkeit, die Unendlichkeit kompositorisch erfassen.
»Sanctus« und Beethovens Humanitätsgedanke
Wie schon der Beginn der Messe, so soll auch das »Sanctus« »Mit Andacht« musiziert werden. Die somit geschaffene Verbindung zwischen »Kyrie« und »Sanctus« unterstreicht Beethoven mit dem »Kyrie«-Motiv in den Posaunen, bevor das Solistenquartett wie demütig erstarrt das »Sanctus« (»Heilig«) intoniert und furchtsam zu den 64tel-Tonrepetitionen in den Streichern und der Pauke vor der himmlischen Macht zu erbeben scheint. Die angstvolle Spannung löst sich erst im fröhlichen »Pleni sunt coeli et terra gloria tua« mit anschließendem »Osanna«-«Presto«. Ungewöhnlich für eine Messvertonung ist das von den dunklen Streichern, Flöten und Fagott ausgeführte Präludium. Beethoven bereitet auf das »Benedictus« vor, indem er mit dem instrumentalen Zwischenspiel das Warten auf den Messias versinnbildlicht und zugleich die ganze Aufmerksamkeit auf das Erscheinen Christi lenkt.
Als »Symbol der eucharistischen Gegenwart Christi« (Sven Hiemke) erklingt nun ein ätherisches Violinsolo, das von den höchsten Tönen herabzuschweben scheint: Jesus, der Sohn Gottes, kommt zu den Menschen, um sich für sie zu opfern. Das Herannahen der mystischen Erscheinung, die Allgegenwart Gottes, die spürbar wird, kommentieren die Gläubigen, die in seinem Namen (»in nomine Domine«) zusammenkommen. Die umfangreiche Anlage des »Benedictus« ist ein Zeichen dafür, dass Beethoven diesem Kernsatz der Liturgie große Bedeutung beimaß: Die Humanität ist für ihn die zentrale Aussage des Christentums.
»Agnus Dei« und Beethovens Friedenswunsch
Im »Agnus Dei« baut Beethoven eine düstere, apokalyptische h-Moll-Stimmung als Sinnbild der um Vergebung für ihre Sünden bittenden Menschen auf. An diese seelische Bedrängnis schließt sich die »Bitte um innern und äußern Frieden« an mit dem »Dona nobis pacem«. Der Friedenswunsch, der im »Gloria« schon mit »et in terra pax hominibus bonae voluntatis« und »adoramus te« anklang, erhält im »Agnus Dei« seine größte Entfaltung. Doch dann werden die frommen Gesänge vom Kanonendonner und von Militärfanfaren unterbrochen. In einem Rezitativ von Alt und Tenor wird »timidamente (ängstlich)« um Erbarmen gefleht. Beethoven arbeitet diesen Moment szenenhaft heraus, um die so verständliche liturgische Bitte um den »innern Frieden« auch auf den »äußern Frieden«, den Weltfrieden, auszuweiten. Im nachfolgenden »Presto« klingt ein weiteres Mal Kriegsmusik an, die sich jedoch immer weiter zu entfernen scheint, als wären die zahlreichen Bitten um Frieden endlich erhört worden. Wenn am Ende ein letztes Mal ein Grollen in der Pauke zu vernehmen ist, halten alle nochmals wie erschrocken inne und beschwören leise murmelnd den Frieden. Dann ertönen in den Streichern Pizzicato-Töne wie die Regentropfen in der »Pastorale« und machen klar: Dies war kein Kriegslärm mehr, nur ein fernes Gewitter, und mit einem letzten »Dona nobis pacem« der nun erleichterten Menschen endet das Werk.
Aufgrund ihrer Grenzen sprengenden Dimensionen und ihrer kritischen Haltung zur Kirche war die »Missa solemnis« nicht mehr für den Gottesdienst geeignet, und schon gleich gar nicht für die Inthronisation eines Kardinals. Mag sein, dass dies Beethoven bei der Komposition des »Credos« erst im Laufe des Kompositionsprozesses selbst bewusst geworden ist, von da an verzögerte sich nämlich die Fertigstellung um Jahre. Sein größtes Werk – wie Beethoven es den Verlegern gegenüber nannte – ist ein beeindruckendes Zeugnis seiner Glaubensauffassung, seines Pantheismus, seiner Distanz zur katholischen Lehre, seines tief empfundenen Humanismus und – am Ende vor allem – seines Pazifismus, der das Kant’sche Postulat verinnerlichte, dass Frieden nicht sein kann, es sei denn, er werde gestiftet. Trotz seiner Enttäuschung, nicht zum Kaiserlichen Kapellmeister berufen worden zu sein, widmete Beethoven die »Missa solemnis« dem Erzbischof von Olmütz mit den Worten »Von Herzen – Möge es wieder – zu Herzen gehen!« Bei seinem ehemaligen Kompositionsschüler durfte er annehmen, dass dieser sein Werk vollkommen verstehen würde: seine Glaubenskämpfe, seine Hoffnung und seine Absicht, »bey den Zuhörern Religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen«.