Berio – Coro

Sir Simon Rattle dirigiert BR-Chor und BRSO bei der musica viva
Freitag
13
Oktober 2023
20.00 Uhr
München, Isarphilharmonie im Gasteig HP 8

Konzerteinführung: 18.45 Uhr

Konzert in München

Programm

Vito Žuraj
Automatones
für Orchester

Uraufführung. Kompositionsauftrag der musica viva des Bayerischen Rundfunks

Luciano Berio
Coro
für 40 Stimmen und 44 Instrumente

Mitwirkende

Chor des Bayerischen Rundfunks
Peter Dijkstra / Max Hanft Einstudierung
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Sir Simon Rattle Leitung

Konzertvideo

BR-Chor und BRSO unter der Leitung von Sir Simon Rattle bei der musica viva am 13.10.2023 (Foto: Astrid Ackermann)

Die Dirigentenkarriere von Sir Simon Rattle steht von Beginn an für Aufbruch und Erneuerung – und auch die Musik der Moderne in all ihren Facetten spielt dabei bis heute eine große Rolle. Keine Überraschung also, dass sich Rattle bei seinem Amtsantritt als Chefdirigent von Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks auch einem Konzert der musica viva widmet.

Auf dem Programm steht die Uraufführung von Automatones, geschrieben von Vito Žuraj im Auftrag der musica viva des Bayerischen Rundfunks. Außergewöhnliches ist zu erwarten, schließlich sorgt der 1979 im slowenischen Maribor geborene Rihm-Schüler immer wieder für Furore: »So viel Spaß kann zeitgenössische Musik machen« (Offenbach-Post).

Nach der Pause dirigiert Rattle Coro von Luciano Berio, in dem Chor und Orchester gemischt als kollektiver musikalischer Organismus auf dem Podium platziert werden, um die Trennung von Chor- und Orchesterstimmen optisch und klanglich zu überwinden. Anonyme, volksliedhafte Texte, die den zutiefst menschlichen Drang nach Freiheit widerspiegeln, treffen hier auf die bewegende Lyrik Pablo Nerudas, dessen Tod mit der blutigen Niederschlagung der chilenischen Allende-Demokratie durch Augusto Pinochet im September 1973 zusammenfiel: »Ich dachte dabei nicht an Nationen, sondern an die Begegnung von Menschen, mit ihren jeweils eigenen Geschichten, mit ihren Leidenschaften und ihrer zerstörten Heimat«, so Berio.

Ein brillant komponiertes Bekenntniswerk in »tragische[r] Stimmung« (Berio), das auch heute nichts von seiner Aktualität verloren hat.

Berio über »Coro« / Werkeinführung / Biografie

Luciano Berio über »Coro«

Coro ist eigentlich eine große Ballade, und wie jede Ballade hat sie einen eigenen Charakter, ihre eigenen Regelmäßigkeiten und Stimmungen. Bestimmte Texte und harmonische Felder wiederholen sich mehrere Male, erzeugen aber immer unterschiedliche musikalische Situationen und »Stimmungen«. Es findet eine Rotation und gleichzeitig eine kontinuierliche Transformation von Material statt. Gegen Ende des Stückes, wenn Pablo Neruda uns immer wieder aufs Neue an das Blut auf der Straße erinnert und der Text des Volks von Liebe und Arbeit erzählt – von Dingen also, die die Basis unseres Lebens bilden –, begegnen sich die beiden Dimensionen des Werkes und werden eins. Ich dachte dabei nicht an Nationen, sondern an die Begegnung von Menschen, mit ihren jeweils eigenen Geschichten, mit ihren Leidenschaften und ihrer zerstörten Heimat. Ich muss zugeben, dass es in Coro eine tragische Stimmung gibt.

 

Über »Coro« von Luciano Berio
Von Christine Mast

»Ich denke, dass es manchmal wichtig ist, sich selbst eine gewisse Indifferenz gegenüber einem bestimmten Text zu suggerieren, damit ein bestimmtes Maß an musikalischem Abstand zu ihm bewahrt werden kann.« Bei diesem Bekenntnis Luciano Berios zu einer produktiven »Indifferenz« mag der zentrale Kindheitstraum Berios Pate gestanden haben: Einmal als Kapitän die Ozeane der Welt zu durchkreuzen. Danach hatte sich einst der Elfjährige, der in der ligurischen Küstenstadt Oneglia aufwuchs, gesehnt. Viele Häfen anzulaufen, ohne sich an einen Ort fest binden zu müssen. Hinter jeder Erfahrung, jedem Fundstück aus fernen Ländern doch immer den offenen Horizont im Blick zu behalten, vor dem alles scheinbar sich Anverwandelte den Charakter unüberbrückbarer Fremdheit bewahrt.

Berios Neigung zu einem distanzierten, fast schon im brechtschen Sinn »entfremdenden« Ausgreifen nach Textmaterial mag in dieser kindlichen Fantasie verwurzelt sein: In Coro für 40 Stimmen und 44 Instrumente verwendet er zum einen übersetzte Liedtexte der Sioux, der Zuñi – ein Volksstamm der Pueblo-Indianer – und der Navaho, andere wiederum stammen aus Polynesien, Peru, Chile, Persien, Afrika, Kroatien, Venedig, Sizilien und dem Piemont; ein hebräisches Textfragment ist dem alttestamentarischen Hohelied entnommen. Keineswegs aber handelt es sich bei dieser Zusammenstellung von Passagen aus Texten über Liebe, Arbeit und Bedrohung um ein Beispiel für unbekümmerten, gar naiven Exotismus, denn dramaturgisch verklammert wird diese Collage aus »documenti popolari« – so Berios Sammelbegriff für Zeugnisse traditioneller Dichtung aus unterschiedlichen Epochen und Kulturkreisen – durch Verse des chilenischen Dichters Pablo Neruda.

Mit seiner Entscheidung, eine Montage aus Zeilen verschiedener Gedichte Nerudas aus dessen Sammlung Aufenthalt auf Erden als Rahmen für Coro zu wählen, mischt Berio den hellen Farben seines kindlichen Kapitänstraumes den dunklen Unterton der Desillusionierung bei. Nach Nerudas eigenem Empfinden sprach »die Einsamkeit eines in eine gewalttätige, fremde Welt verpflanzten Ausländers« aus seinen frühen, zwischen 1925 und 1931 entstandenen Gedichten, die teils während seiner Verpflichtung als Konsul in Asien entstanden waren. Und in einem späteren Gedicht derselben Sammlung, Spanien im Herzen – Hymne auf den Ruhm des Volkes im Krieg findet Nerudas antifaschistische Position im spanischen Bürgerkrieg ihren entschiedenen Ausdruck. Berio klammert die unmittelbaren Zeitbezüge von Aufenthalt auf Erden durch seine Auswahl zwar weitgehend aus, doch gelingt es ihm durch eben diese Reduktion, Nerudas Dichtung mit den traditionellen Texten so weitgehend zu einer Einheit zu verschmelzen, dass einzelne, konkretere Gedichtzeilen – etwa: »Kommt und seht euch das Blut auf den Straßen an« – wie unerwartete, scharfe Kanten aus dem feinmaschigen Gewebe seiner Komposition herausragen.

Als großen musikalischen Organismus, gar eine Art »Klangmaschine« hat Berio Coro konzipiert. Einen organischen Eindruck erweckt bereits das unmittelbare Miteinander von Stimmen und Instrumenten: Die in traditioneller Aufführungspraxis übliche räumliche Trennung von Chor und Orchester ist in Coro aufgehoben zugunsten einer engen klanglichen Verschränkung von Sängern und Instrumentalisten. Mit Ausnahme von Klavier, Orgel und Perkussionsgruppe bildet jedes einzelne Orchesterinstrument mit je einem der 40 Sänger ein Klangpaar; dabei deckt sich bei jedem Paar der Stimmumfang des Sängers ungefähr mit dem mittleren Spielbereich des Partner-Instruments.

Indem Berio den Fachterminus Coro zum Titel für seine Komposition wählt, sprengt er zu gleich dessen musikhistorisches Bedeutungsfeld, denn hier bilden alle Musiker gemeinsam einen »chorischen« Klangkörper. Was das heißt, erschließt sich bei genauem Hinhören: Ganz im Sinne der antiken Wortbedeutung von »Chor«, die auf ein kommentierendes Element innerhalb der griechischen Tragödie zielt, entfaltet sich Coro als kontinuierlicher, wechselseitiger Kommentar von Text und Klang.

In 31 Episoden ganz unterschiedlicher Dauer präsentiert Berio die Texte auf verschiedenen Verständlichkeitsebenen und erneuert kontinuierlich die Verbindungslinien zwischen der poetischen und der akustischen Dimension der Worte. Dabei werden die Verse Nerudas in den Gesangsstimmen ausschließlich chorisch vorgestellt, während die »documenti popolari« teils solistisch, teils chorisch, aber auch in vielen Zwischenstufen verarbeitet sind.

Unmittelbare, zitatartige Bezüge zu den musikalischen Formen der traditionellen Lieder, denen die Texte entstammen, sind dagegen kaum wahrzunehmen; einzig in der fünften Episode erscheint ein kurzes Melodiefragment aus einem mazedonischen Volkslied. Vielmehr hat sich Berio maßgeblich vom ästhetischen Gestus einer zentralafrikanischen musikalischen Praxis zur Komposition von Coro anregen lassen: In ungefähr 40-köpfigen Gruppen musizieren Mitglieder des Stammes Banda Linda, dabei spielt jeder Musiker nur einen kurzen Ausschnitt des musikalischen Materials. »Das Prinzip und die Idee« des so entstehenden, heterofonen Klangprozesses wollte er, so Berio, »auf weitere musikalische Aspekte übertragen und auf andere musikalische Kulturen ausdehnen. In Coro […] hat das Banda Linda-Idiom eine wesentliche Weiterentwicklung erfahren, indem es mit musikalischen Verfahren und Techniken anderer Kulturen in Beziehung gebracht […] wurde.« Dass aber hinter den Zeugnissen einer Kultur immer einzelne Individuen mit ihren Hoffnungen und Erfahrungen stehen, dieses Wissen hält Berio in Coro beständig präsent.

Wie ein Kunstlied hebt die Komposition an, mit einem Sopran-Solo zu Klavierbegleitung, wenig später zum Duett ergänzt durch eine solistische Altstimme. Das Subjekt einer traditionell westeuropäischen Kulturtradition scheint sich hier auszusprechen, ganz im Kontrast zu den folgenden, gelegentlich nahezu sakral anmutenden Klangfeld-Passagen.

Kunstlied versus Sakralkomposition: In dieser Gegenüberstellung spiegeln sich aus der Ferne auch die unterschiedlichen kompositorischen Vorlieben von Berios Vater Ernesto und seinem Großvater Adolfo, beide Organisten – und es scheint, als habe Luciano Berio in das breite Spektrum seines dialogischen Komponierens mit reichem Ertrag noch die eigenen familiären Wurzeln einbezogen.

Luciano Berio (1925–2003)

Es ist eine ästhetische Position der Offenheit, die Luciano Berio formuliert. Jedes Musikstück steht in einem umfassenden Traditionszusammenhang. Aus diesem Zusammenhang heraus, manchmal auch in Opposition zu ihm, öffnen sich vielfältige Möglichkeiten des Verständnisses und des Zugangs. Die Vereinigung von Kunst und authentischer Volksmusik, das Einbeziehen von Jazzelementen oder komplexer afrikanischer Rhythmik in avantgardistische Kompositionen, verschiedene Verfahren der Montage und des Zitats, das Ignorieren von Gattungsgrenzen – all dies sind kompositorische Verfahren und Konzepte Berios, die seine Originalität und seinen Willen zum Verlassen ausgetretener Pfade zeigen. Berio stammte aus einer Musikerfamilie, in der schon Vater und Großvater als Organisten und Komponisten tätig waren. Es war nur folgerichtig, dass Luciano Berio sich am Mailänder Konservatorium einschrieb, um Musik zu studieren. Nachdem sich der 19-Jährige in den chaotischen letzten Kriegstagen eine Handverletzung zugezogen hatte, war an die zunächst ins Auge gefasste Pianisten Karriere nicht mehr zu denken und Berio wandte sich intensiv dem Kompositionsstudium zu. In den 1950er Jahren besuchte er die Darmstädter Ferienkurse und nahm an den intensiven Diskussionen um Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono teil. Vielleicht noch tiefgehender waren die Anregungen, die Berio von der Literatur empfing. Wichtig war zum einen die Lektüre etwa von Joyce, Proust oder Beckett. Zum anderen stand Berio mit drei italienischen Schriftstellern und Theoretikern in einem fruchtbaren Austausch, der seinen Niederschlag auch in musikalischen Werken fand: mit Edoardo Sanguineti, Italo Calvino und Umberto Eco. Alle vier verband die Idee vom Kunstwerk als einer von Brüchen durchzogenen, vielgestaltig schillernden Einheit einander durchdringender Sinnebenen. Seine vielleicht berühmteste Komposition Sinfonia ist ein Paradebeispiel für ein vielgestaltiges, aus vielen Perspektiven erlebbares Werk, eine faszinierende, labyrinthische Collage aus Stilzitaten und Texten von Samuel Beckett bis Gustav Mahler. Am 27. Mai 2003 starb Luciano Berio in Rom.

Werkdaten: Luciano Berio – »Coro«

Entstehungszeit: 1975–77

Auftraggeber: Westdeutscher Rundfunk, Köln

Widmung: per Talia

Uraufführung: 24. Oktober 1976 in Donaueschingen im Rahmen der Donaueschinger Musiktage durch den WDR Rundfunkchor und das WDR Rundfunkorchester Köln unter der Leitung von Luciano Berio

 

gesangstext

 

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