Sir Simon Rattle dirigiert
Bachs Matthäus-Passion

Abonnementkonzerte des BRSO
Donnerstag
26
September 2024
18.00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz

Konzerteinführung um 16.45 Uhr
Moderation: Michaela Fridrich

Konzert in München
Freitag
27
September 2024
18.00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz

Konzerteinführung um 16.45 Uhr
mit Georg Nigl
Moderation: Michaela Fridrich

Konzert in München

Programm

Johann Sebastian Bach
Matthäus-Passion
für Soli, Doppelchor und Doppelorchester, BWV 244

Erster Teil: Nr. 1–29
Pause
Zweiter Teil: Nr. 30–68

Mitwirkende

Mark Padmore Tenor (Evangelist)
Georg Nigl Bariton (Jesus)
Camilla Tilling Sopran
Magdalena Kožená Mezzosopran
Andrew Staples Tenor
Roderick Williams Bariton
Augsburger Domsingknaben
Stefan Steinemann Einstudierung
Chor des Bayerischen Rundfunks
Peter Dijkstra Einstudierung
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Sir Simon Rattle Leitung

Den »Mount Everest der Musik« nannte der amerikanische Regisseur Peter Sellars Bachs Matthäus-Passion einmal. Nun erklimmt Simon Rattle diesen Gipfel der abendländischen Musik mit seinen beiden Münchner Ensembles, dem BRSO und dem BR-Chor. Auch die erlesene Riege der Gesangssolisten lässt die Erwartung steigen. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Evangelisten zu, der das Passionsgeschehen nicht nur erzählt, sondern als Zeuge innerlich selbst beteiligt und berührt ist. Mit dem britischen Tenor Mark Padmore übernimmt den Part einer der charismatischsten Evangelisten unserer Tage.

Gesangstext – Matthäus-Passion

Mitwirkende

Chorsolisten / Orchesterbesetzung
Interpreten

Werkeinführung

Johann Sebastian Bach (Ölbild von Elias Gottlob Haußmann, 1748)

Johann Sebastian Bach
* 21. März 1685 in Eisenach
+ 28. Juli 1750 in Leipzig

Matthäus-Passion
Entstehungszeit: vermutlich um 1727 (= BWV 244b). Dem heutigen Konzert liegt das um 1736 für weitere Aufführungen (1736, 1742) überarbeitete Material in der Handschrift des Komponisten zu Grunde (= BWV 244)
Uraufführung: wahrscheinlich am Karfreitag, 11. April 1727
Gesicherte Aufführung am Karfreitag, 15. April 1729, in der Leipziger Thomaskirche

»Aus Liebe will mein Heiland sterben«
Gedanken zu Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion
Von Matthias Keller

Felix Mendelssohn Bartholdys Wiederentdeckung und Wiederaufführung der Bach’schen »Matthäus-Passion« im Jahr 1829 wird bis heute als musikhistorische Glanzleistung gewürdigt: als Verneigung nicht nur vor der Person des berühmten Thomaskantors, der zum damaligen Zeitpunkt weitgehend in Vergessenheit geraten war, sondern auch vor einer verloren gegangenen Ära kollektiver Frömmigkeit und intakten Kirchenlebens. Doch wird dabei gerne übersehen, dass die »Matthäus-Passion«, wenngleich wohl das bedeutendste und gewaltigste Werk Johann Sebastian Bachs, zu dessen Lebzeiten keineswegs sehr erfolgreich war, geschweige denn berühmt. Die Zahl ihrer Aufführungen unter Bach selbst beschränkt sich vielmehr auf drei beziehungsweise vier, je nachdem, ob man nun bereits das Jahr 1727 als Ursprungsjahr in Betracht zieht oder die bislang einzig belegbare Aufführung am Karfreitag 1729 in der Leipziger Thomaskirche. Eine weitere Darbietung erlebte das Stück 1736 und nochmals vermutlich 1742, wie bestimmte Änderungen und Ergänzungen des Notentextes von Bachs Hand nahe legen. Überhaupt liefern diese meist aufführungspraktischen Überarbeitungen heute die wichtigsten Anhaltspunkte zur Entstehungsgeschichte des Stückes. Denn die autographe Reinschrift der Partitur datiert erst aus dem Jahr 1736, was in etwa dem Endstadium ihrer Entwicklung entsprechen dürfte.

Für Bach selbst war die »Matthäus-Passion« freilich von zentraler Wichtigkeit. Gerade deshalb stellt sich die Frage, weshalb ein Werk, welches mit dem Hauptereignis des Leipziger Kirchenjahres korrespondierte, so wenig zeitgenössisches Echo fand. Eine mögliche Antwort hierauf gibt der Blick in die spezifische Leipziger Tradition, wie Bach sie bei seinem Dienstantritt 1723 vorfand. Zwar war dort in der Neuen Kirche bereits 1717 Telemanns »Brockes-Passion« (benannt nach dem Hamburger Ratsherren und Textdichter Barthold Hinrich Brockes) als Prototyp einer neuartigen »musizierten Passion« aufgeführt worden, doch blieb dies ein singuläres Ereignis. Gemessen an Städten wie Hamburg, Lüneburg oder auch Weimar war Leipzig eher ein konservatives Terrain, wo man vor allem seitens des Klerus jener neu in Mode kommenden Gattung misstraute – insbesondere wegen ihres mitunter frei poetisierenden Textgehalts und ihrer üppig-konzertanten Ausstattung: »Behüte Gott ihr Kinder! Ist es doch, als ob man in einer Opera oder Comödie wäre.«

Demgegenüber versinnbildlicht die »Matthäus-Passion« einmal mehr Bachs eigenes künstlerisches Ethos und die unbeugsame Haltung, mit der er an inhaltlichen Zielen festgehalten hat. Denn die jeweiligen Überarbeitungen der »Matthäus-Passion« weisen nicht etwa aufführungspraktische Reduktionen auf, sondern – im Gegenteil – diverse Erweiterungen. Die bekannteste mag der hinzugefügte Choral »O Mensch, bewein dein Sünde groß« (Nr. 29) sein, jener ursprünglich zur »Johannes-Passion« gehörende Satz, der hier nun zum großartigen Beschluss des Ersten Teils wird. Auch wiesen in der Frühfassung (1727 bzw. 1729) noch beide Chorhälften eine gemeinsame Continuo-Begleitung auf, und es waren außerdem im Eröffnungschor »Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen« Flöten und Oboen überwiegend unisono geführt. Der zweifache Basso continuo erforderte zur Verdeutlichung der insgesamt doppelchörigen Anlage zugleich eine weitere tragbare Orgel als Begleitinstrument. Diese wurde später (in der erwähnten nochmaligen Revision um 1742) durch ein Cembalo ersetzt, was allerdings gleichzeitig eine Verstärkung des Soprans in Chor II notwendig machte (Soprano in ripieno) und die Hinzufügung der Viola da gamba als zusätzlichem Continuo-Instrument in der Arie »Geduld! Wenn mich falsche Zungen stechen« (Nr. 35) wie auch im vorangehenden Rezitativ »Mein Jesus schweigt« zur Folge hatte. All das jedoch steht – wie gesagt – im Widerspruch zu den erwähnten Rahmenbedingungen, in denen sich der Thomaskantor Bach bewegte und welche ihn schon frühzeitig vom »Onus« (Last, Bürde) solcher Geschäfte sprechen ließen. Die kompositorische Lust drohte demnach angesichts aufführungstechnischer Hindernisse oftmals zur Last zu werden und mündete schließlich in jene sogenannten Pasticcio-Aufführungen, bei denen Bach in seinen späteren Amtsjahren auf Versatzstücke von fremder Hand zurückgriff.

Was aber, so könnte die entscheidende Frage lauten, mag seinerzeit zu den angesprochenen Vorbehalten gegenüber einer »musizierten Passion« geführt haben? War es womöglich jene angedeutete Angst vor Entfrommung und Säkularisierung? Spielte vielleicht auch jener seit Luther stets herrschende Zwist zwischen Klerus und Kirchenmusikern über die jeweilige Vorrangstellung mit hinein? Es kann zumindest kaum Zweifel darüber bestehen, dass Bachs »Matthäus-Passion« weit mehr sein will als musikalisches Ornament zu liturgischem Ritus. Davon zeugt schon ihre doppelchörige Anlage, die ja nicht nur hinsichtlich der beiden Chöre überdimensional anmutet, sondern auch hinsichtlich der getrennt beziehungsweise dialogisch musizierenden Orchesterapparate. Dass hier programmatische Absichten zugrunde liegen, erfährt der Hörer gleich im Eingangschor der Passion, wo sich zum schleppenden jambischen Klagegesang beider Chöre und Orchester eine dritte Kraft hinzugesellt, nämlich der (im Autograph mit roter Tinte hervorgehobene) Cantus firmus »O Lamm Gottes, unschuldig«. Gerade durch diesen Choral, in der Thomaskirche von der zweiten Orgelempore aus gesungen – also von der Altarseite her – unterstreicht Bach sein Anliegen: Nicht länger soll sich das Passionsgeschehen in der Wortverkündigung erschöpfen, sondern es soll, durchaus im Sinne Luthers, als »mea res agitur« wirksam werden: als meine persönliche Sache, die da verhandelt wird. Wobei gerade durch die räumliche Komponente ein »Hier und Jetzt« erzielt wird, in dessen (akustischer) Mitte sich die Gemeinde selbst befindet. Diese Gemeinde emotional zu erreichen und zur Stellungnahme zu zwingen, gehört sicherlich zu den Zielen der »Matthäus-Passion«. Und wenngleich von ihrem personellen Aufgebot weitaus größer disponiert als die »Johannes-Passion«, ist doch ihr Gestus weniger »theatralisch«. Vielmehr zielt ihre Dramatik zutiefst nach innen. Deshalb scheint es auch wenig dienlich, die angesprochene doppelchörige Disposition in widerstreitende Parteien aufzuspalten, wie dies der Eingangschor »Kommt, ihr Töchter« vielleicht zunächst nahe legt: hier der erste Chor, der den Klagegesang anstimmt und gewissermaßen das geistliche Zion repräsentiert, dort der zweite Chor, dessen Fragegestus (»Wen?« – »Wie?« – »Wohin?«) die irdische Gemeinde verkörpert, die nach Orientierung suchende Schar der Gläubigen, und schließlich als Überbau und theologische Botschaft der Fernchor, dessen »O Lamm Gottes, unschuldig« auf das himmlische Jerusalem verweist. Tatsächlich verschmelzen später beide Chöre zu einem interaktiven, polyphonen Geflecht, bei dem zwar weiterhin Chor I tendenziell der affirmative Part zufällt (Nr. 27b: »Sind Blitze, sind Donner«), während Chor II vorwiegend dem Fragegestus nahe steht, zersetzt von Zweifeln und Unverständnis (Nr. 27a: »Lasst ihn, haltet, bindet nicht!«). Vom Gesamtkonzept her gesehen ist Bachs Botschaft jedoch eine andere: Im Zentrum steht für ihn die Frage der Identifikation, des »Was geht es mich persönlich an?«. Hierauf zielen letztlich die vierstimmigen, von beiden Chören gesungenen Choräle ab. Sie holen das Geschehen zwischendurch immer wieder auf den Boden des Gemeindelebens zurück, repräsentieren sie doch das Vertraute und liturgisch Eingeübte. Gleichzeitig liefern sie aber auch den entscheidenden Querverweis auf die Aktualität des Passionsgeschehens, am deutlichsten nachvollziehbar vielleicht an jener Stelle, wo es choraliter heißt »Ich bin’s, ich sollte büßen« (Nr. 10) – gewissermaßen als Antwort auf den vorausgehenden Chor der Apostel »Herr, bin ich’s?«. Dieser Part fällt hier Chor I zu, so wie an anderer Stelle Chor II in den vermeintlichen »Gegenpart« mit einstimmt – eben entgegen dem theatralischen Prinzip (»Sind Blitze, sind Donner«). Hier hat dann auch der bereits erwähnte, groß angelegte Choral »O Mensch, bewein dein Sünde groß« (Nr. 29) seinen überaus gewichtigen Platz – als Beschluss des Ersten Teils der Passion, dem bei den Leipziger Aufführungen jeweils die Predigt folgte. Erstmals sind hier beide Chöre und Orchester wieder vereinigt, wird also ein formaler Bogen zurück zum Eingangsstück geschlagen, in dessen Zentrum ja ebenfalls ein Gemeinde-choral (Soprano in ripieno) stand. In »O Mensch, bewein dein Sünde groß« ist die Melodie allerdings mit den anderen Teilen harmonisiert, befindet sich also in derselben Tonart E-Dur. Im Eingangschor dagegen steht dieser Cantus firmus mit seinem Verweis auf das unschuldige Gotteslamm in programmatischem Gegensatz: e-Moll, Bachs angestammte »Leidens-Tonart«, kontrastiert von einem basslos schwebenden G-Dur als sinnlich nachvollziehbarem Ausblick auf ein himmlisches Jenseits.

Den Verzicht auf den Bass setzt Bach in der »Matthäus-Passion« mehrfach als Mittel zur Kennzeichnung irdischer Entrücktheit ein. Damit gehört er zu den vielen Korrespondenzen, die den Bauplan des Stückes prägen. Denn einer geradezu überbordenden Formenvielfalt – vom vierstimmigen Chorsatz über verschiedene Rezitativformen und Ariosi bis hin zu Arien, motettischen und madrigalistischen Sätzen, Turba-Chören und groß angelegten Choralbearbeitungen – steht hier eine äußerst konzentrierte Materialbegrenzung gegenüber. So schafft Bach etwa durch die fünfmalige Verwendung der Melodie des Kirchenlieds »Herzlich tut mich verlangen« und die jeweils zweifache Benutzung von »Herzliebster Jesu«/«O Welt, sieh hier dein Leben« eine subtile Ebene der Entsprechungen, die der dynamischen Entfaltung des Passionsberichtes sehr zugute kommt. Die vielleicht deutlichste Reduktion aber besteht in eben jenen continuofreien Passagen, die den Hörer – zumal den in barocker Generalbassästhetik geübten – plötzlich in eine andere Sphäre versetzen. Die Rede ist hier vor allem von der Duett-Arie »So ist mein Jesus nun gefangen« (Nr. 27a) und der Sopranarie »Aus Liebe will mein Heiland sterben« (Nr. 49): Beide sind im satztechnischen Sinne »bodenlos« instrumentiert, also ohne Basso continuo, wobei die Duett-Arie noch dadurch dramatisch gesteigert wird, dass Solo-Sopran und -Alt von continuogestützten Choreinwürfen (»Lasst ihn, haltet, bindet nicht!«) durch-
brochen werden. Weitere Bezüge stellt Bach durch das Weglassen bestimmter Elemente her, sei es der Verzicht auf ein einleitendes Arioso in den drei betrachtenden Arien (Nr. 8: »Blute nur, du liebes Herz!« – Nr. 39: »Erbarme dich, mein Gott« – Nr. 42: »Gebt mir meinen Jesum wieder!«), der Verzicht auf ein Dacapo und die dadurch erzielte Betonung des prozesshaften Charakters oder schließlich das Schweigen der Streicherstimmen, die bisher durchgängig die Jesus-Worte begleiteten, nicht aber im entscheidenden Satz »Eli, Eli, lama, asabthani?« (Nr. 61a). Weshalb? Weil Jesus in diesem entscheidenden Moment den anderen Beteiligten gleichgestellt wird: als ein Mensch von Fleisch und Blut, ein Sterblicher wie du und ich, mit der allzu menschlichen Frage: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Über die Zusammenarbeit zwischen Bach und seinem Textdichter Christian Friedrich Henrici (1700–1764, genannt Picander) können kaum Zweifel bestehen, wobei es von den textlichen Vorentwürfen anno 1725 (»Erbauliche Gedancken Auf den Grünen Donnerstag und Charfreytag über den Leidenden JESUM, In einem Oratorio Entworffen Von Picandern«) bis zur endgültigen zweichörigen Fassung noch ein weiter Weg war. Und wenn man heute, im Zeitalter mediengerechter Vermarktung, immer wieder darüber nachdenkt, wie man die »Matthäus-Passion« publikumswirksam »aufbereiten« könnte – von John Neumeiers Ballettidee über diverse Inszenierungsversuche bis hin zu anderen Verbeugungen vor der visualisierten Gesellschaft – so sollte man vielleicht bei Bach und Henrici selbst beginnen. Denn schon dort herrschte eine gewisse Uneinigkeit über die angemessene Umsetzung des Themas. Während Picanders Ansatz mehr auf eine Personifizierung der jeweiligen Parts abzielte, ging es Bach um theologisch hautnahe Vermittlung, um »aneignende Deutung«, wie es der Theologe Peter Kreyssig formulierte. Aneignung aber meint bei ihm Verinnerlichung statt äußeres Abbilden. Deshalb ist auch der Evangelist hier nicht einfach Erzähler oder Berichterstatter, sondern ein beteiligter Zeuge, so wie auch die Hörgemeinde nicht etwa eine Aufführung erleben, sondern existenziell mitten im Passionsgeschehen stecken soll.

Dies allerdings heute noch zu erreichen, erscheint schwierig: nicht nur, weil sich zeitgenössisches Konzertgeschehen längst vom Curriculum des Kirchenjahres abgekoppelt hat und es praktisch zu jeder (falschen) Jahreszeit und an jedem nur erdenklichen Ort möglich erscheint, die »Matthäus-Passion« aufzuführen. Sondern insbesondere, weil es immer problematischer wird, einer konsumorientierten Gesellschaft den unbequemen Kern dieses Werkes näher zu bringen – »mea res agitur« – und einen Gott, der offenbar nicht nur der »liebe Gott« ist, sondern zugleich Dulder unendlicher Ungerechtigkeiten auf der Welt! Leiden, und wäre es nur das Absitzen der vierstündigen Passion auf harten Kirchenbänken, ist nicht mehr angesagt, die persönliche Identifikation ein Verstoß gegen moderne Verdrängung und Versachlichung. Insofern ist auch die Frage nach dem Schlussapplaus weniger eine ästhetische als eine inhaltliche, markiert sie doch die Trennlinie zwischen »Darstellern« und Konsumenten.

Die erste Seite aus Bachs Matthäus-Passion mit dem Eingangschor »Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen«. Zu sehen ist der Beginn der um 1736 vom Komponisten in Reinschrift angefertigten und noch von ihm selbst wegen Lagerschäden erstmals reparierten Handschrift. Hervorgehoben ist eine Stelle, an der der Tintenfraß zutage tritt: In der unteren der beiden Notenzeilen sind von der Rückseite durchgeschlagene Achtelnoten zu erkennen.

Tintenfraß – die Passion einer Handschrift
Mit neueren Restaurierungstechniken trotzen Bachs Autographe den Jahrhunderten
Von Alexander Heinzel

Schwarze Tinte, einst bei Kerzenlicht mit dem Federkiel aufs raue Papier gekratzt: Linien, Balken, Notenköpfe und Verse wachsen schon beim ersten Betrachten zusammen zu einem filigranen Muster – Notenblätter von ganz spezieller optischer Harmonie, in der sich für jedermann sichtbar Kunst und Konstruktion, Kreativität und Intellekt durchdringen. Seiten, die dennoch kaum mehr als eine Ahnung davon vermitteln, welcher musikalische Kosmos sich im kalligraphischen Meisterwerk verbirgt. Bachs Notenhandschrift ist gezügelt schwungvoll, enorm verdichtet, aufs nötigste reduziert und dennoch vollendet eindeutig. Dass diese optische Harmonie wie so manch anderes Kleinod vom Zerfall bedroht ist, dieses Schicksal ereilte nicht wenige von Bachs Autographen – auch dasjenige der »Matthäus-Passion«. Wohl ist der gestrenge Thomaskantor als sparsamer Zeitgenosse einer minderwertigen Tinte aufgesessen (ohne zu ahnen, dass sie es sein würde), die bei etlichen seiner Notenhandschriften einen schleichenden und zunächst rätselhaften Prozess der Selbstzerstörung verursacht.

Dabei waren sich alle, die das kostbare Passions-Autograph ihr Eigen nannten, seines unermesslichen Wertes voll bewusst. Zunächst erbte die Handschrift Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel. Nach dessen Tod 1788 interessierte sich der erste Bach-Biograph Johann Nikolaus Forkel vor allem für die »Claviersachen« aus dem Nachlass, die »Matthäus-Passion« und andere Vokalwerke jedoch überging er achtlos. Nicht so der Musiker, Privatgelehrte und Musikaliensammler Georg Johann Poelchau (1773–1836), der über die Jahre die bedeutendste Kollektion an Bach-Autographen zusammentrug, die je ein Privatmann besessen hatte. Mit der Übersiedlung Poelchaus nach Berlin und seinem Wirken als Solist und Bibliothekar an der dortigen Sing-Akademie kam die »Matthäus-Passion« dann in das Blickfeld des Zelter-Mendelssohn-Kreises. 1823 lag eine Abschrift der Passion unterm Weihnachtsbaum des kaum 15-jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy. Sie wurde später zur Grundlage für die legendäre erste Wiederaufführung der »Matthäus-Passion«. Poelchau indes versah das 83-seitige Autograph mit einem goldverzierten Ledereinband, der es wenigstens vor äußeren Einflüssen und mechanischer Zerstörung schützte. 1841, nach Poelchaus Tod, fuhr es dann schließlich in den vermeintlich sicheren Hafen institutioneller Obhut: das Musikalische Archiv der Königlichen Bibliothek zu Berlin.

Aber längst nahm das chemische Zersetzungswerk der minderwertigen Tinte seinen Lauf. Hässlich schlugen sich die Notenköpfe durch das empfindliche Material und ließen die Notenschrift der jeweiligen Rückseite unleserlich werden. Tintenfraß, so die dramatische Diagnose, drohte die Handschrift zu zerstören. Während in Berlin die ersten Bombennächte des Zweiten Weltkriegs die Bevölkerung in die Luftschutzkeller trieben, machte sich Hugo Ibscher, der Begründer der Papyrusrestaurierung und weltweit anerkannte Koryphäe auf seinem Gebiet (»Papyrus-Doktor«), an eine waghalsige Rettungsaktion. Er rührte Reisstärke an und benutzte die klebrige Flüssigkeit, um die vom Zerfall bedrohten Seiten der Handschrift mit hauchfeiner, durchsichtiger Lyoner Chiffonseide zu überkleben und damit zu stabilisieren – was dem Papier Festigkeit gab, aber das ätzende Verhalten der Tinte nicht wesentlich beeinflusste. Als man sich 60 Jahre später in der Staatsbibliothek zu Berlin für eine grundlegende Restaurierung der Handschrift entschied, hatte man bereits ganz andere, noch stärker in die Substanz eingreifende Methoden an der Hand: Neben einer chemischen Neutralisierung der Tinte wurde die Technik des Papierspaltens entwickelt. Bevor man daranging, dem Tintenfraß damit zu Leibe zu rücken, mussten jedoch die alten Chiffonseiden wieder abgelöst werden. Dann wurden so genannte Trägerpapiere von außen aufgebracht, um in einem weiteren Arbeitsschritt das Papier wie ein Frühstücksbrötchen aufzuschneiden und die beiden Hälften ihrerseits wieder auf ein »Kernpapier« aufzubringen. Löcher und Fehlstellen ergänzte man zusätzlich durch dünnes Zellulosepapier. In einem letzten Arbeitsgang wurden die provisorischen Trägerpapiere wieder entfernt. 2,5 Millionen D-Mark sammelte das Bach-Patronat des Vereins Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin bis 2003 ein, um neben der »Matthäus-Passion« weiteren großen Bach-Autographen wie der h-Moll-Messe, den »Brandenburgischen Konzerten« und dem »Weihnachtsoratorium« zum Überleben zu verhelfen.

Weitere Konzerte

So. 17. Nov, 10.30 Uhr
Bamberg, Konzerthalle, Joseph-Keilberth-Saal
cOHRwürmer in Bamberg (Foto: Alexander Heinzel)
cOHRwürmer
Ein Konzert zum Mitsingen in Bamberg mit Chören aus Händels »Messias«
Sa. 23. Nov, 20.00 Uhr
München, Prinzregententheater
Chor-Abo 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Lagrime di San Pietro
Giovanni Antonini dirigiert Lasso, Monteverdi, Carissimi
Sa. 1. Feb, 20.00 Uhr
München, Prinzregententheater
Chor-Abo 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Hrvatska Misa – Kroatische Messe
Ivan Repušić dirigiert Frano Paraćs »Dona nobis pacem« und Boris Papandopulos »Kroatische Messe« d-Moll, op. 86
Sa. 22. Mrz, 20.00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz
Chor-Abo plus 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Sir Simon Rattle – musica viva
Sir Simon Rattle präsentiert mit BR-Chor und BRSO Werke von Pierre Boulez, Luciano Berio und Helmut Lachenmann
Sa. 5. Apr, 20.00 Uhr
München, Prinzregententheater
Chor-Abo 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Kreuzwege
Peter Dijkstra dirigiert »Via crucis« von Franz Liszt und »The Little Match Girl Passion« von David Lang
Sa. 24. Mai, 20.00 Uhr
München, Prinzregententheater
Chor-Abo 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Joik – Götter, Geister und Schamanen
Peter Dijkstra dirigiert Chormusik von Holst, Holten, Martin, Sandström und Mäntyjärvi
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