Sir Simon Rattle dirigiert Bach-Kantaten
Keine Konzerteinführung
Keine Pause

Programm
- Chor. Liebster Gott, wenn werd ich sterben?
- Arie (Tenor). Was willst du dich, mein Geist, entsetzen
- Rezitativ (Alt). Zwar fühlt mein schwaches Herz
- Arie (Bass). Doch weichet, ihr tollen, vergeblichen Sorgen!
- Rezitativ (Sopran). Behalte nur, o Welt, das Meine!
- Choral: Herrscher über Tod und Leben
- Chor. Was Gott tut, das ist wohlgetan
- Rezitativ (Bass). Sein Wort der Wahrheit stehet fest
- Arie (Tenor): Erschüttre dich nur nicht, verzagte Seele
- Rezitativ (Alt). Nun, der von Ewigkeit geschloss‹ne Bund
- Duett (Sopran, Alt). Wenn des Kreuzes Bitterkeiten
- Choral. Was Gott tut, das ist wohlgetan
- Chor. Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht
- Rezitativ (Alt). Mein Gott, verwirf mich nicht
- Arie (Sopran). Wie zittern und wanken der Sünder Gedanken
- Rezitativ (Bass). Wohl aber dem, der seinen Bürgen weiß
- Arie (Tenor). Kann ich nur Jesum mir zum Freunde machen
- Choral. Nun, ich weiß, du wirst mir stillen
Mitwirkende
Gesangstexte
Werkeinführungen

Johann Sebastian Bach
* 31. März 1685 in Eisenach
+ 28. Juli 1750 in Leipzig
»Liebster Gott, wenn werd ich sterben?«, BWV 8
Choralkantate aus dem zweiten Leipziger Kantatenjahrgang zum 16. Sonntag nach Trinitatis
Entstehungszeit: vor dem 24. September 1724 (erste Fassung), Umarbeitung zur zweiten Fassung (alternative Instrumentierung, Transposition nach D-Dur) vor dem 17. September 1747
Uraufführung der zweiten Fassung: 17. September 1747 in Leipzig
»Was Gott tut, das ist wohlgetan«, BWV 99
Choralkantate aus dem zweiten Leipziger Kantatenjahrgang zum 15. Sonntag nach Trinitatis
Entstehungszeit: vor dem 17. September 1724
Uraufführung: 17. September 1724 in der Leipziger Thomaskirche
»Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht«, BWV 105
Kantate aus dem ersten Leipziger Kantatenjahrgang zum 9. Sonntag nach Trinitatis
Entstehungszeit: vor dem 25. Juli 1723
Uraufführung: 25. Juli 1723 in der Leipziger Nikolaikirche
Kantaten für die Ewigkeit
Bach und die Leipziger Kirchenmusik
Von Jörg Handstein
Am 22. Mai 1723 parkte ein ganzer Tross von Kutschen und Umzugswägen vor der Thomaskirche zu Leipzig. Johann Sebastian Bach und seine Familie – Ehefrau Anna Magdalena, fünf Kinder und die Schwägerin Friedelena – bezogen die neue Dienstwohnung in der angrenzenden Schule. Das Ereignis stand sogar in der Zeitung: Endlich war die offene Stelle des Thomaskantors wieder besetzt, und zwar mit dem »gewesenen Fürstlichen Capell-Meister« aus Köthen. Bach selbst bekannte später, dass es ihm »anfänglich gar nicht anständig seyn wolte, aus einem Capellmeister ein Cantor zu werden«. Denn das war ganz klar ein sozialer Abstieg. Aber er hatte sich nun einmal um die Stelle beworben: Der Fürst bezahlte neuerdings lieber Soldaten als Musiker, und die neue Fürstin schien gar eine »Amusa« zu sein. Wieviel Verdruss ihm seine neuen Chefs bereiten sollten, konnte Bach jetzt noch nicht ahnen.
Die Obrigkeit und die Musik
Die bedeutende Handelsmetropole Leipzig war eine attraktive Stadt. Allein die Einkaufsmöglichkeiten, die Gastronomie, die wunderbaren Lustgärten vor den Toren boten einen hohen Lebensstandard. Jedenfalls für die Besserverdienenden. Bach erwartete noch höhere Einkünfte als in Köthen, wo er und seine Frau, die Hof-Sängerin, bereits 700 Taler bezogen hatten. Und als Thomaskantor dirigierte er nun den Knabenchor mit dem besten Ruf Deutschlands. Die Aufgaben eines Kantors waren vielfältig. Die Stadtväter und die Kirchenobrigkeit wünschten einen funktionierenden Beamten, der für Disziplin und reibungslose Abläufe sorgt. Zur »Beybehaltung guter Ordnung in den Kirchen«, so heißt es im Anstellungsvertrag, sollte die Musik nicht zu lang sein und nicht »opernhaftig herauskommen«. Es genüge, wenn sie »zur Andacht aufmuntere«. Die Komposition neuer oder gar neuartiger Stücke betrachteten sie nicht als Hauptaufgabe eines Kantors, und Kunstwerke erwarteten sie schon gar nicht. Bach hatte jedoch schon immer Musik von außergewöhnlicher Komplexität geschaffen, eindringlich und vielschichtig.
Die wichtigste Musikgattung in der damaligen lutherischen Kirche war die Kantate, auch »Haupt-Music« oder einfach »Music« genannt. In den Messgottesdiensten folgt sie auf die Lesung aus den Evangelien, ja deutet und bebildert sie ganz ähnlich wie die Predigt. Auch die Kantate sollte den Zuhörer erbauen, belehren und verbessern – so hoffte man jedenfalls. Jeder Sonn- und Feiertag des Kirchenjahres hat ein eigenes Thema, und jede Kantate ist an einen bestimmten Tag gebunden. Die Dichter veröffentlichten oft ganze Jahrgänge, so etwa Erdmann Neumeister (1671–1756): Geistliche Cantaten über alle Sonn- Fest- und Apostel-Tage, zur Beförderung Gott-geheiligter Haus- und Kirchen-Andacht. Rund 60 solcher Tage hat das Kirchenjahr, da musste sich ein komponierender Kantor ganz schön ranhalten. Immerhin konnte ein Profi solche Gebrauchsmusik schnell von der Stange fertigen. So kam etwa Telemann insgesamt auf 29 Jahrgänge, das macht rund 1740 Kantaten! Bach hinterließ nach Auskunft seines Sohnes nur 300, von denen sich gut 200 erhalten haben. Aber manchmal ist weniger auch mehr. Man kann diese Gruppe als einen Schatz betrachten, der in seinem Reichtum immer wieder neue Gedanken und musikalische Kostbarkeiten entdecken lässt. Nicht zufällig sind Bachs Kantaten die einzigen heute noch wirklich lebendigen Werke dieser Art. Sir Simon Rattle hat drei aus den ersten Leipziger Jahren ausgewählt, die in vieler Hinsicht bemerkenswert sind.
»Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht«, BWV 105
Bach ging mit großem Elan an den Start, und von Beginn an zeigte er, dass er sich immer noch als »Capellmeister« verstand. So orientiert er sich beim Orchesterpart an den Möglichkeiten einer Hofkapelle, obwohl sich die reiche Stadt Leipzig nur acht unterbezahlte Musiker leistete: vier Stadtpfeifer, drei sogenannte »Kunstgeiger« und einen Gesellen. Wenigstens zehn Streicher hätte Bach gerne gehabt, und so musste er sich ständig um Verstärkung kümmern. Von den braven, aber nicht besonders motivierten Musikhandwerkern schätzte er allein den Trompetenvirtuosen Johann Gottfried Reiche (1667–1734), der ihn zu grandiosen Partien inspirierte (siehe auch das Interview im Anschluss an die Werkeinführungen). So bereits in seiner sechsten für Leipzig geschaffenen Kantate, uraufgeführt am 25. Juli 1723. Das Thema jenes Sonntags war das Gleichnis vom ungerechten Verwalter aus dem Lukas-Evangelium (Kap. 16): Jener Verwalter wird beschuldigt, den Besitz seines Herrn verschleudert zu haben und muss sich nun vor seinem Chef (also Gott) verantworten. Der Kantatentext leitet daraus eine Reihe von leicht nachvollziehbaren Gefühlen und Gedanken ab: Angst vor Bestrafung, Schuldbewusstsein, ja Gewissensnot und letztlich die tiefe Verunsicherung, was vor Gott richtig und falsch sei. »Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht«: Den eröffnenden Psalmvers (Ps. 143,2) vertont Bach in einem gewichtigen Chorsatz in der Form von Präludium und Fuge. Und er beginnt mit dem dunklen, wuchtigen Pathos einer Passionsmusik, ja mit mancher Ähnlichkeit zu seiner Johannes-Passion – warum, wird sich noch zeigen. Seufzend und bedrückt von schmerzlichen Dissonanzen schleppen sich die Stimmen dahin, zusammengedrängt in dichter Polyphonie: Ein Bild der ganzen schuldbeladenen Menschheit. Der schnelle Teil ist eine sogenannte »Permutationsfuge«, in der keine beliebigen, sondern immer nur dieselben Kontrapunkte kombiniert werden dürfen, was hier wohl die Festigkeit und Strenge des göttlichen Gesetzes symbolisiert.
»Wie zittern und wanken« dagegen die Instrumente und die Sopranstimme in der ersten Arie! Der Tonsatz ist von gläserner Transparenz und Zerbrechlichkeit, was sich auch dem fehlenden Bass-Fundament verdankt. So lässt Bach förmlich spüren, wie dem verunsicherten Sünder ein existenzieller Halt entzogen wird. Gleichwohl lädt diese schwebende, traumverlorene Musik – eine von Bachs schönsten Arien – ein zu meditativer Versenkung. »Wohl aber dem, der seinen Bürgen weiß« – das zentrale Rezitativ enthält die entscheidende Botschaft der Kantate: Mit seinem Opfertod am Kreuz tilgt Jesus unsere Schuld wie ein Freund, der für unsere Schulden bürgt und aufkommt. Auch dieses Stück könnte man sich leicht in einer Passion vorstellen und erneut gibt ihm Bach musikalisches Gewicht mit einer Art begleitendem Präludium.
Die zweite Arie gibt sich in starkem Kontrast zur ersten ganz bodenständig. Wobei das Hauptmotiv über »Kann ich nur« simpler nicht sein könnte. Der Tanzcharakter und die schlichte Melodik knüpfen an das in Leipzig beliebte Singspiel an, ja die plappernden Wiederholungen bei dem Wörtchen »Mammon« (sprich: das Geld) geben dem Sänger eine geradezu szenische Präsenz. Mit Humor und Augenzwinkern hält Bach seinen reichen Zuhörern einen Spiegel vor, die trotz des Lippenbekenntnisses nicht auf die durch den Mammon ermöglichten Vergnügen verzichten wollen. Die rasanten Violinen sollen wohl hören lassen, wie die Talerchen im Säckel klingeln.
Mit dem abschließenden Choral kehrt wieder der existenzielle Ernst ein. Nun kommt das verängstigte Gewissen endlich zur Ruhe: Das Zittern der Instrumente ebbt langsam ab, die wankende Harmonik stabilisiert sich. Es siegen Gottvertrauen und Glaubensgewissheit. Dennoch lässt der chromatisch hinsinkende, fragile und fundamentlose Schluss eine bange Frage offen: Kann ich mir selber auch trauen? Bach findet nicht nur ungemein plastische und subtile Bilder für den Text, sondern denkt ihn eigenständig weiter.
Eine heikle Form
Streng genommen hat Bach gleich einmal gegen Paragraf 7 seines Anstellungsvertrags verstoßen: Arien wie die gerade beschriebene kommen nun wirklich sehr »opernhaftig« heraus. Überhaupt, in dieser Hinsicht ist der ganze Aufbau seiner Kantaten ziemlich heikel. Denn Bach folgt der modernen italienischen Form, wie sie Erdmann Neumeister nach Deutschland importiert hat: »Soll ich‹s kurz aussprechen, so sieht eine Cantata nicht anders aus, als ein Stück von einer Opera von Stylo recitativo und Arien zusammengesetzt.« Der kürzlich ausgestrahlte Fernsehfilm Bach – ein Weihnachtswunder entwickelt aus diesem Tatbestand einen dramatischen Konflikt zwischen dem eigenwilligen Kantor und einem erbosten Stadtrat: Gleich sechs solcher Kantaten in den Weihnachtsgottesdiensten – das soll Bach den Job kosten! Die Geschichte ist rein fiktiv, seine Zusammenstöße mit der Obrigkeit haben andere Gründe. Richtig aber bleibt, dass Bach einer erbärmlichen Wirklichkeit kühne, monumentale Visionen entgegensetzt.
Bachs Choralkantaten
Eine solche Vision ist auch das Projekt für seinen zweiten Leipziger Kantatenjahrgang 1724/25. Bekanntlich spielen in den reformierten Kirchen einfache Lieder für die Gemeinde eine zentrale Rolle. Schon Luther hatte solche Choräle geschrieben, und die Komponisten bauten sie schon früh in ihre Kirchenmusik ein. Sei es für die Orgel, sei es für den Chor: Choralbearbeitungen gehörten einfach zum Handwerk. Auch Bach hatte es von der Pike auf gelernt. Ein schönes Beispiel ist seine frühe Kantate Christ lag in Todesbanden (BWV 4), in der sich die Melodie des gleichnamigen Kirchenliedes kunstvoll variiert durch alle Sätze zieht. Nun will Bach das komplette Kirchenjahr mit Kantaten bestücken, die alle auf einem Choral basieren, sich formal ähneln und doch das ganze Spektrum seiner Kunst entfalten. O Ewigkeit, du Donnerwort lautet der erste Titel, ein textlicher Paukenschlag, der wohl mit Bedacht gesetzt ist. Ein derart umfassender, einheitlich konzipierter Zyklus von Kirchenmusik war noch nie dagewesen, und er sollte die Zeiten überdauern.
»Liebster Gott, wenn werd ich sterben?«, BWV 8
Bach hatte nicht vor, die altertümliche, man könnte auch sagen pedantische Form von BWV 4 in seinen Choralkantaten von 1724/25 neu aufzupolieren. Auf die modernen Rezitative und Arien wollte er nicht verzichten. Dafür machte er die Eingangschöre zu spektakulären Choralbearbeitungen. Mit allen Mitteln der vorhandenen Technik. Dergestalt fragten nun die Thomaner am Sonntag, dem 24. September 1724: »Liebster Gott, wenn werd ich sterben?«. Das Evangelium dieses Sonntags (Lukas 7,11–17) handelt von der Erweckung eines gerade gestorbenen Jünglings durch Jesus. Der Tod bedeutet für einen Christen nicht das absolute Ende, sondern eher einen Anfang, gleichsam das Tor zum ewigen Leben an der Seite Jesu. »Mit Freud fahr ich dahin« oder ähnlich heißt es daher in vielen Chorälen. Man konnte es kaum erwarten, so suggerieren diese Texte, aus dem irdischen Jammertal herauszukommen. Hier jedoch thematisiert der Dichter zunächst auch die Fragen, Sorgen und Ängste, die der Tod mit sich bringt. Er holt den Menschen also bei seinem kreatürlichen Empfinden ab, bevor er zur tröstlichen Botschaft kommt.
Die helle Dur-Tonart, der sanft belebte, pastorale Rhythmus und das melodische Fließen vermitteln sofort eine beglückende Ruhe, aber in Form von plötzlich niederdrückenden Halbtönen melden sich auch die Ängste. In der Urfassung mit zwei Oboe d‹amore schwingt zudem eine sanfte Melancholie mit; die zwei Soloviolinen in der heute zu hörenden Fassung von 1747 geben dem Satz noch einen feinen Schimmer. Mit dem Eingangschor hat Bach vor allem ein grandioses Orchestertableau geschaffen, in das er die Choralverse nur kurz einblendet. Die pulsierenden Töne in der höchsten Lage der Flöte werden meist als »Totenglöckchen« verstanden, aber es müsste schon eine Handglocke sein, so schnell ist das Gebimmel. Man könnte auch an das Ticken einer Uhr denken, gemäß des Textes das Ablaufen der Lebenszeit, die dann mit dem plötzlichen Abreißen der Töne endet. Es sind immer 24, passend zum »täglich« verfallenden »Leib«. Ihr Tempo entspricht in etwa der »Unruh« einer damaligen Taschenuhr. Die ineinandergreifenden Bewegungsmuster im Orchester könnten sogar dem ganzen Räderwerk abgeschaut sein.
In der folgenden Arie »Was willst du dich, mein Geist, entsetzen« ist das Sinnbild der Uhr dann deutlich greifbar: Ein gebrochenes Tick-Tack im Bass, die letzten Stundenschläge in der Singstimme – höchst sinnreich mit dem Dreiklang über dem »entsetzen«. Hört man genauer hin, empfindet man auch hier den Gegensatz von Ruhe und Unruhe. Denn Bach durchbricht den gleichmäßigen Fluss gleich zu Beginn durch Aussetzer und Akzentverschiebungen im Takt. Und mit dem Schwenk in die parallele Molltonart dunkelt sich auch die Melancholie noch etwas ein. »Doch weichet, ihr tollen, vergeblichen Sorgen!«: Umso befreiender löst sich die Stimmung in der zweiten Arie. Jetzt kommt die helle Freude über das nahe Ende des Erdendaseins ganz ungebrochen zum Ausdruck, für den Leipziger Stadtrat wahrscheinlich wieder empörend »opernhaftig«. In einer Oper (man fühlt sich fast an Händel erinnert) würde eine solche Arie höchst weltliche Lustbarkeiten besingen. Sie tanzt eine fröhliche Gigue und vollführt zugleich ein überschäumend virtuoses Flötenkonzert im Wettstreit mit dem Sänger. In einer Kirche muss das spektakulär gewesen sein, denn die noch neumodische Traversflöte war gerade erst in die Hoforchester eingezogen. Hier präsentiert sich Bach ganz klar als Kapellmeister, bevor er mit dem Schlusschor (»Herr-scher über Tod und Leben«) wieder die Rolle des Kantors einnimmt. Der üblicherweise kompakte Choralsatz ist hier nach Art einer Motette reizvoll aufgelockert. Ihn hat Bach vom Schöpfer der Choralmelodie übernommen, einem gewissen Daniel Vetter (1657–1721), daran noch ein wenig gefeilt und so den braven Kollegen ebenfalls verewigt.
»Was Gott tut, das ist wohlgetan«, BWV 99
»Jeder Tag hat seine Plag.« Das ist ein schöner, leider allzu oft passender Spruch, den der Thomaskantor unterschreiben kann. »Es is halt a Kreiz«, pflichtet ein bayerischer Kollege bei, während ein Aufklärungsphilosoph von der Leipziger Uni beharrt: »Alles wird gut!« Das letzte Wort hat der Thomaspfarrer: »Was Gott tut, das ist wohlgetan.« Das Thema dieser kleinen, natürlich fiktiven Szene ist genau das jenes Chorals, den Bach in fünf (!) Kantaten verwendet: Es geht um Gottvertrauen, Zuversicht und Glaubensstärke, wie es Jesus in der Bergpredigt lehrt: »Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.« (Matthäus 6,34)
Diese Bibelstelle steht nun am 17. September 1724 auf dem Programm der Sonntagsmesse. Diesmal bringt Bach die helle Freude sofort, ungebrochen, eben ganz sorglos zum Ausdruck. Es ist Musik, die man eher im Leipziger Café Zimmermann erwarten würde, ein Concerto nach italienischem Gusto, wie es Bach später dort auch aufführen wird.
Dem Streichorchester steht ein Concertino gegenüber, das mit Traversflöte, Oboe d‹amore und Violine exquisit besetzt ist. In die erste Soloepisode fällt dann überraschend der Chor ein. Leuchtend, vom Horn wie mit einem Marker nachgezogen, schwebt die Liedmelodie im Sopran über den bewegteren Stimmen. Das entspricht der klassischen Choralbearbeitung, aber im Verhältnis zu den reinen Orchesterpartien sind es nur kurze, zumeist schlichte Chorblöcke, die Bach in die selbsttragende Struktur des Concerto eingebaut hat. Wie die konzertierenden Grüppchen, ja, zwei grundverschiedene Gattungen hier ineinander spielen, macht wirklich Spaß: »Gemüths-Ergötzung« zur höheren Ehre Gottes.
»Erschüttre dich nur nicht, verzagte Seele« mahnt die erste Arie, und jetzt, in e-Moll, veranschaulicht Bach genau die negativen Affekte, die man vermeiden sollte. Die Erschütterungen durchziehen den gesamten Tonsatz vom Hauptmotiv bis ins harmonische Fundament. Ein weiteres zentrales Bild ist das des Kreuzes, Symbol für Jesu Opfertod und hier Metapher für das vom Menschen zu tragende Leid. So durchkreuzt immer wieder ein chromatisches Motiv die Linien. Und man sieht es schon in den Noten: Vor allem die Flötenstimme ist übersät mit Kreuzen, grifftechnisch eine Plage auf der weitgehend klappenlosen Traversflöte. Wenn »des Kreuzes Bitterkeiten« im Duett (Nr. 5) nun explizit genannt werden, nimmt Bach noch ein Kreuz hinzu und gelangt damit zu h-Moll, eine für ihn sehr expressive Leidenstonart. Sopran und Alt seufzen und klagen einträchtig nebeneinander, Flöte und Oboe d‹amore bilden ein zweites Pärchen, so dass sich ein Doppel-Duett oder sogar ein Quartett ergibt. Rein satztechnisch ist es also der dichteste, komplexeste Satz der Kantate, dem Empfinden nach ihr stiller Höhepunkt. Der hier ganz konventionelle Choralsatz schließt nur noch den Rahmen. Amen.
Im Vergleich mit den vorigen Kantaten nimmt Bach diesmal den umgekehrten, nicht so ergötzlichen Weg: Von ungetrübter Freude zu bitterem Ernst, von klaren, entspannten Verhältnissen zur Komplikation. Der zuvor so blendend unterhaltene Hörer soll sich einfühlen, nachdenken und in sich gehen. Dies ist auch dem nicht so gläubigen Hörer möglich, denn Bach verhandelt neben den religiösen rein menschliche, existenzielle Dinge. Nicht zuletzt das schafft den Ewigkeitswert seiner Kantaten.
Mitwirkende

Sir Simon Rattle
Bezwingendes Charisma, große Experimentierfreude und Begeisterungsfähigkeit sowie ein uneingeschränkter künstlerischer Ernst – all dies macht den gebürtigen Liverpooler zu einem der faszinierendsten Dirigenten unserer Zeit. Mit Schumanns Das Paradies und die Peri stand Sir Simon Rattle 2010 erstmals am Pult von BR-Chor und BRSO. Seitdem hat sich eine intensive Zusammenarbeit entwickelt, und seine Auftritte in München gerieten stets zu Glanzlichtern. Im Herbst 2023 übernahm der heute 70-jährige Brite mit deutschem Pass die Leitung jenes Orchesters, das er bereits seit Jugendtagen bewundert. Wie schon vor seinem Amtsantritt als Chefdirigent präsentiert sich Simon Rattle mit einem breiten Repertoire: von Rameau, Bach, Haydn und Mozart bis zur Moderne und Gegenwartsmusik, von den Klassikern der Symphonik bis zur konzertanten Oper.
Unter dem Label »hip – historically informed performance« wird er beim BRSO zudem das Spiel von Alter Musik auf Originalinstrumenten etablieren. Ebenso widmet sich Simon Rattle mit großer Leidenschaft der Musikvermittlung. Anspruchsvolle Projekte mit der BRSO Akademie, deren Schirmherr er ist, oder dem Bayerischen Landesjugendorchester sind für ihn ebenso Chefsache wie der »Symphonische Hoagascht«, bei dem er Blasmusikensembles aus Bayern mit dem BRSO zusammenführte.
Die steile Karriere von Simon Rattle begann beim City of Birmingham Symphony Orchestra. Zwischen 1980 und 1998 führte er es zu Weltruhm. Von 2002 bis 2018 war er Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, von 2017 bis 2023 Musikdirektor des London Symphony Orchestra, dem er als Conductor Emeritus verbunden bleibt. Außerdem ist Simon Rattle »Principal Artist« des Orchestra of the Age of Enlightenment, Erster Gastdirigent der Tschechischen Philharmonie und unterhält langjährige Beziehungen zu weiteren Spitzenorchestern wie den Wiener Philharmonikern oder der Berliner Staatskapelle sowie zu namhaften Opernhäusern, u. a. dem Royal Opera House in London, der Berliner Staatsoper, der New Yorker Met und dem Festival d‹Aix-en-Provence. Eine neue Zusammenarbeit führte ihn zuletzt zum Mahler Chamber Orchestra.
Simon Rattle erhielt zahlreiche hohe Ehrungen, zu denen auch der Ernst von Siemens Musikpreis zählt, der ihm im Januar zugesprochen wurde.
Unter den bisher mit dem BRSO veröffentlichten CDs wurden Mahlers Neunte Symphonie mit einem Diapason d‹or und einem Gramophone Editor‹s Choice, die Sechste Symphonie mit einem Gramophone Editor‹s Choice und einem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet.
BRSO hip
Wenn das BRSO auf Initiative von Chefdirigent Sir Simon Rattle »historically informed performance« in einer neuen Konzertreihe präsentiert, so kann das Orchester bereits auf einige Berührungspunkte mit der Spielpraxis Alter Musik zurückblicken. So hat die Zusammenarbeit mit Ton Koopman zwischen 2005 und 2010 zu viel beachteten Aufführungen von Händels Messiah, Bachs h-Moll-Messe und dessen Johannes-Passion geführt. Weitere wichtige Arbeitsphasen und Konzerte gab es mit Giovanni Antonini, John Eliot Gardiner, Nikolaus Harnoncourt, Reinhard Goebel, Andrea Marcon, Bernard Labadie, Thomas Hengelbrock und Emmanuelle Haïm.
Speziell für die BRSO-hip-Projekte haben die Orchestermitglieder nun an Workshops, u.a. mit Kati Debretzeni, der langjährigen Konzertmeisterin von John Eliot Gardiner, und Leila Schayegh von der Schola Cantorum in Basel teilgenommen.
Damit hat das Orchester die Bandbreite stilkundiger Interpretation von zeitgenössischer Musik bis weit zurück in die Barockzeit erweitert – eine Bandbreite, die dem BRSO in die Wiege gelegt war, interpretierte es doch schon kurz nach seiner Gründung unter der Leitung von Eugen Jochum ein Organum des mittelalterlichen Komponisten Pérotin in einer Bearbeitung für Chor und Orchester. Es folgte 1960 die Schütz‹sche Weihnachts-Historie unter der Stabführung von Paul Hindemith.
Schon damals war der Chor des Bayerischen Rundfunks mit dabei, der seit 2005 mit seinem Künstlerischen Leiter Peter Dijkstra und vielen Gastdirigenten ebenfalls regelmäßig Alte Musik darbietet und BRSO hip als ebenbürtiger Partner zur Seite steht. Bisherige Barock-Highlights, mit denen Sir Simon Rattle und das BRSO ihr Publikum begeisterten, waren die Suite zu Rameaus Les Boréades und Bachs Matthäus-Passion.
BRSO hip musiziert mit dem Stimmton 415 Hertz, die Streicher spielen auf Darmsaiten und mit Nachbauten historischer Streichbögen. Das Instrumentarium umfasst Originalinstrumente und Nachbauten von historischen Modellen. Finanziell unterstützt wird das Herzensprojekt von Simon Rattle durch die Freunde des BRSO.
Carolyn Sampson
Die britische Sopranistin Carolyn Sampson ist fest verwurzelt in der Interpretation von Alter Musik und trat beim BRSO immer wieder in Aufführungen mit historisch informierter Musizierpraxis in Erscheinung, so etwa 2007 in Bachs h-Moll-Messe mit Ton Koopman, 2015 in einem Bach-Kantatenprogramm unter der Leitung von Andrea Marcon oder 2018 im Paulus unter Masaaki Suzuki.
Aktuell kann sie die Veröffentlichung ihres 100. Albums als Solokünstlerin für sich verbuchen, zudem wurde sie 2024 in den Order of the British Empire (OBE) aufgenommen und zum Ehrenmitglied der Royal Academy of Music ernannt.
Bei den Barocktagen der Berliner Staatsoper unter den Linden war sie 2023 in der Rolle der Créuse in Charpentiers Médée unter der Leitung von Sir Simon Rattle zu hören. Außerdem glänzte sie in der Sopranpartie aus Mahlers Achter Symphonie mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter Semyon Bychkov. Weitere bedeutende Engagements führten sie zum Budapest Festival Orchestra und zum Scottish Chamber Orchestra. In der aktuellen Saison steht Carolyn Sampson unter anderem mit Haydns Schöpfung und dem Orchestre de Chambre de Paris sowie dem City of Birmingham Symphony Orchestra auf dem Podium. Außerdem geht sie mit dem Bach Collegium Japan auf Europatournee und gestaltet Soloprogramme mit dem Ensemble La Scintilla am Opernhaus Zürich sowie dem Freiburger Barockorchester.
Carolyn Sampson hat langjährige Beziehungen zu renommierten Ensembles wie dem Bach Collegium Japan, der Academy of Ancient Music und The Sixteen aufgebaut. Zudem ist sie regelmäßiger Gast beim Concertgebouworkest Amsterdam, beim Gewandhausorchester Leipzig und beim Boston Symphony Orchestra. Carolyn Sampson hat zahlreiche Auszeichnungen wie den Choc Classica und den Diapason d‹or erhalten.
Tim Mead
»Verführerisch«, »exzellent« und »charismatisch« sind nur einige der Begriffe, mit denen die internationale Musikkritik den britischen Countertenor Tim Mead charakterisiert, dessen »lieblich-satter Klang« (The Guardian) ein breitgefächertes, vom Barock bis hin zur zeitgenössischen Musik sich erstreckendes Repertoire bedient. Einen Schwerpunkt bilden dabei die geistlichen Werke des Hochbarock – nicht zuletzt aufgrund seiner sängerischen Ausbildung im traditionsreichen Knabenchor der Chelmsford Cathedral. Zu nennen sind etwa die Partien seines Stimmfachs in Bachs h-Moll-Messe sowie in der Johannes- und Matthäus-Passion, in Händels Messiah, Jephtha und Solomon sowie in Pergolesis Stabat mater mit renommierten Ensembles wie dem Collegium Vocale Gent, der Academy of Ancient Music, Les Arts Florissants oder dem Orchestra of the Age of Enlightenment. Das Augenmerk von Tim Mead gilt auch der Opernbühne: Von Francesco Cavallis La Calisto (Endimione) und Domenico Sarros Achille in Sciro (Ulisse) zu Mozarts Mitridate, re di Ponto (Farnace) und von Vivaldis Orlando furioso (Ruggiero) und Händels Agrippina (Ottone), Amadigi di Gaula (Dardano, Amadigi) und Giulio Cesare in Egitto (Titelrolle) bis hin zu Brittens Death in Venice (Apollo) und A Midsummer Night‹s Dream (Oberon).
Einen guten Teil seines Repertoires hat Tim Mead auf CD eingesungen, etwa zuletzt Händels Theodora. Mit Ensembles wie der Dresdner Philharmonie und Les Musiciens de Saint-Julien blickt Tim Mead auf eine langjährige Zusammenarbeit zurück, die er in der laufenden Saison durch Aufführungen von Händels Messiah, Bachs Johannes-Passion und Vokalwerke von Purcell fortsetzt.
Thomas Hobbs
Mit seinem lyrischen Tenor zählt Thomas Hobbs zu den international gefragten Barockspezialisten. Ein Engagement bei der Netherlands Bach Society führte ihn jüngst zu zwei Europatourneen mit Bachs Magnificat und Matthäus-Passion, wo er die anspruchsvolle Partie des Evangelisten mit Bravour verkörperte. Zu seinem umfangreichen Repertoire zählen Bach‹sche Vokalwerke ebenso sowie Händels Messiah und Alexander‹s Feast, die Thomas Hobbs mit Ensembles wie dem RIAS Kammerchor, Dunedin Consort, Concerto Copenhagen und Collegium Vocale Gent zu Gehör brachte. Doch auch Vokalwerke der Wiener Klassik und Romantik haben einen festen Platz in seiner Konzerttätigkeit: Zu nennen sind etwa Haydns Schöpfung, Beethovens C-Dur-Messe, Schumanns und Mozarts Requiem, dessen Aufnahme zusammen mit dem Dunedin Consort unter der Leitung von John Butt mit dem Gramophone Award für die beste Choraufnahme von 2014 gekrönt wurde. Großes Lob erhielt seine Aufnahme von Händels Chandos Anthems mit Stephen Layton und der Orchestra of the Age of Enlightenment.
Mit gleicher Leid enschaft widmet sich Thomas Hobbs der Opernbühne. Seine Gestaltung des Telemachus in Monteverdis Il ritorno d‹Ulisse in patria bei der English National Opera, die Rolle des Ferrando in Mozarts Così fan tutte und die des Titelhelden in Brittens Albert Herring legen ein eindrucksvolles Zeugnis von der Vielseitigkeit des Sängers ab. Besonders verbunden ist Thomas Hobbs dem französischen Barockensemble Le Banquet Céleste, mit dem er Bach-Kantaten und frühbarocke Vokalwerke von Monteverdi und Schütz aufführte. Im Frühling 2025 wird die Zusammenarbeit durch Händels La resurrezione fortgesetzt, wo Thomas Hobbs die Partie des San Giovanni verkörpern wird.
Konstantin Krimmel
Seine erste musikalische Ausbildung erhielt der Bariton deutsch-rumänischer Abstammung bei den St.-Georgs-Chorknaben in Ulm. Im Alter von 21 Jahren begann er sein Gesangsstudium bei Teru Yoshihara, das er 2020 mit Auszeichnung abschloss. Seitdem wird er von Tobias Truniger in München betreut. Schon während des Studiums entwickelte er eine besondere Liebe zum Konzert- und Liedrepertoire.
Neben etlichen Preisen und Förderungen für Nachwuchskünstler ragen die Auszeichnung mit dem Opus Klassik 2024 als Sänger des Jahres sowie der Grammophone Award und der Preis der deutschen Schallplattenkritik für sein Album Die schöne Müllerin heraus. Dementsprechend präsentiert Konstantin Krimmel national und international Liederabende, so etwa in Köln, Berlin und Frankfurt sowie beim Heidelberger Frühling und bei den Schubertiaden von Vilabertran und Schwarzenberg.
In der Saison 2024/25 sind fast 30 Liederabende geplant, darunter in Berlin, Frankfurt, Schwarzenberg/Hohenems, London, Madrid, Stockholm und München sowie erstmals in New York. Auch im Konzertbereich ist der Bariton europaweit viel gefragt. Sein USA-Debüt gab er jüngst in Chicago mit Mahlers Lieder eines fahrenden Gesellen, welche er u. a. auch in Bamberg, Amsterdam und Hamburg unter Jakub Hrůša gestalten wird.
Seit Herbst 2021 ist Konstantin Krimmel im Ensemble der Bayerischen Staatsoper. Dort steht er in der laufenden Saison als Papageno in der Zauberflöte, in der Titelpartie von Le nozze di Figaro sowie als Guglielmo in Così fan tutte auf der Bühne. Außerdem gibt er sein Rollendebüt als Don Giovanni. Das aktuelle Album gestaltete Konstantin Krimmel gemeinsam mit Ammiel Bushakevitz, es enthält unter dem Titel Mythos Werke von Schubert und Loewe.