Aeternam

3. Chor-Abonnementkonzert
Samstag
9
März 2024
20.00 Uhr
München, Prinzregententheater

Konzerteinführung: 19.00 Uhr
mit Krista Audere
Moderation: Johann Jahn

Chor-Abonnement

Programm

Johannes Brahms
Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen?
Motette für Chor a cappella, op. 74/1
  1. Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen
  2. Lasset uns unser Herz samt den Händen aufheben
  3. Siehe, wir preisen selig
  4. Mit Fried und Freud ich fahr dahin
Gustav Mahler
Ich bin der Welt abhandengekommen
aus den Rückert-Liedern, Bearbeitung für 16-stimmigen Chor von Clytus Gottwald
Johannes Brahms
Schaffe in mir, Gott, ein rein Herz
Motette für Chor a cappella, op. 29/2
  1. Schaffe in mir, Gott, ein rein Herz
  2. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht
  3. Tröste mich wieder mit deiner Hilfe
Felix Mendelssohn Bartholdy
Warum toben die Heiden
für Doppelchor, op. 78/1

Chor-Soli:
Julia Duscher, Isabella Stettner | Sopran
Jutta Neumann, Mareike Braun | Alt
Gabriel Sin, Taro Takagi | Tenor
Christopher Dollins, Werner Rollenmüller | Bass

Pause
Galina Grigorjeva
In paradisum
für Chor a cappella
Galina Grigorjeva
Alleluia
für Chor a cappella
Bernat Vivancos
Aeternam
für Chor a cappella
Nana Forte
Four Sacred Pieces
für Doppelchor a cappella
  1. Iam non dicam
  2. Sancta trinitas
  3. Tanto tempore
  4. O sacrum convivium

Chor-Soli: Masako Goda, Simona Brüninghaus | Sopran

Mitwirkende

Johann Jahn Moderation
Chor des Bayerischen Rundfunks
Krista Audere Leitung

Die Gewinnerin des prestigeträchtigen Eric Ericson Awards von 2021 Krista Audere stammt aus Lettland und hat in den Niederlanden ihre Wahlheimat gefunden. Aktuell ist sie Künstlerische Leiterin des Amsterdamer VU-Kamerkoors und des Kamerkoors Venus. Als Gastdirigentin steht sie regelmäßig am Pult des Nederlands Kamerkoors, des Niederländischen Rundfunkchores und der Cappella Amsterdam.

In der laufenden Saison reist Krista Audere zum Lettischen Staatschor, zum Ungarischen Rundfunkchor sowie zum Rundfunkchor Stockholm, der sie zur Saison 2025/26 zur Ersten Gastdirigentin berufen hat. Weitere Auftritte führen sie zum Danish National Vocal Ensemble, zum WDR Rundfunkchor nach Köln, zum SWR Vokalensemble Stuttgart und zu den BBC Singers.

Krista Audere ist Absolventin der renommierten Rīga Cathedral Choir School, wo sie sich als Chorleiterin und -sängerin ausbilden ließ. Anschließend machte sie den Bachelor im Chordirigieren bei Jāzeps Vītols in der Latvian Academy of Music und erweiterte ihre musikalischen Erfahrungen an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. 2016 schloss sie dort das Masterstudium ab und graduierte an der Amsterdam University of the Arts. Als Sängerin arbeitete sie mit dem Lettischen Rundfunkchor und der Cappella Amsterdam zusammen. Krista Audere und der Chor des Bayerischen Rundfunks haben sich anlässlich der Einstudierung von Milica Djordjevićs Mit o ptici zur Uraufführung des Werks bei der musica viva im Oktober 2022 kennengelernt. Nun feiert sie ihr Debüt vor dem Publikum der Chor-Abonnementreihe.

Werkeinführungen

Schwarze Fittiche

Zwei Motetten von Johannes Brahms. Von Wolfgang Stähr


Johannes Brahms: * 7. Mai 1833 in Hamburg; + 3. April 1897 in Wien

Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen, Motette für Chor a cappella, op. 74/1. Entstehungszeit: 1877. Erstdruck: 1878 in Berlin als Nr. 1 innerhalb der Zwei Motetten, op. 74. Widmung: dem Musikforscher und Bachbiographen Philipp Spitta. Uraufführung: am 8. Dezember 1878 in Wien im Zweiten Gesellschafts-Konzert der Musikfreunde unter der Leitung von Eduard Kremser

Schaffe in mir, Gott, ein rein Herz, Motette für Chor a cappella, op. 29/2. Entstehungszeit: 1860. Uraufführung: am 17. April 1864 in Wien im Saal der Gesellschaft der Musikfreunde mit dem Chor der Singakademie unter der Leitung des Komponisten


Das »Warum« stellt nicht die Frage nach dem Sinn, sondern nach der Sinnlosigkeit. Wie ein Aufschrei steht sie am Anfang einer Motette, die Johannes Brahms im Sommer 1877 komponierte, wie eine Anklage: Warum!!! Aber sogleich wird die Frage wiederholt, leise, ratlos und traurig: warum? Und kehrt immer wieder als Refrain eines Lebens, das auf Antwort wartet.

Tatsächlich befand sich Brahms in gehobener Ferienstimmung und bester Schaffenslaune, als er die Motette schrieb: Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen? Er verbrachte die Sommerfrische am Wörthersee, im »Kärntner Paradies«, genoss das Licht der südlich anmutenden Landschaft unter dem weiten, wolkenlos blauen Himmel und verschwendete keinen Gedanken auf Mühsal und Plage – sollte man meinen. Den Freunden schwärmte er vor: »Hier ist es reizend, allerliebst, und außerdem ist man am Eingang zum Schönsten und Großartigsten.« Obendrein kündigte Brahms ihnen noch eine neue Symphonie an, »heiter und lieblich«, die Zweite in D-Dur op. 73. Nur verschämt beinah und am Rande erwähnte er: »Aber fromm war ich bisweilen den Sommer«, eine Anspielung auf die Motette, wie üblich im Tonfall des Understatements, den Brahms immer dann favorisierte, wenn er tiefere Gefühle verschleiern wollte.

Doch wie ihm in Wahrheit zumute war, verriet er in einem untypisch offenherzigen Brief, zwei Jahre später, im August 1879. »Ich müßte bekennen, daß ich nebenbei ein schwer melancholischer Mensch bin, daß schwarze Fittiche beständig über uns rauschen«, gestand Brahms, »daß – vielleicht nicht so ganz ohne Absicht in m.[einen] Werken auf jene Sinfonie eine kleine Abhandlung über das große ›Warum‹ folgt.« Schon wieder eine Untertreibung, denn diese Motette, für gemischten Chor a cappella, war durchaus nicht »klein« geraten. »Sie wirft den nöthigen Schlagschatten auf die heitre Sinfonie«, betonte Brahms.

Johannes Brahms gestaltete seine Motette über das große »Warum« in der Art einer protestantischen Trauermusik. Mit anderen Worten: Er wählte einen historisch weit entfernten Bezugspunkt, orientierte sich an Heinrich Schütz und den Musicalischen Exequien, vor allem aber an Bach, an den Trauermotetten des Thomaskantors und an dessen frühem Actus tragicus. Brahms folgte der protestantischen Tradition zunächst mit dem aus Bibelstellen und Kirchenlied kompilierten Text, der zu Beginn das alttestamentliche Buch Hiob zitiert: »Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen, und das Leben den betrübten Herzen?« Mit Versen aus den Klageliedern Jeremias und dem Jakobus-Brief des Neuen Testaments scheint sich das Blatt theologisch zu wenden, vom Aufschrei der sinnlos gequälten Kreatur zu Gebet, Geduld und Gottvertrauen. Den Beschluss markiert die erste Strophe aus Martin Luthers Sterbelied Mit Fried und Freud ich fahr dahin von 1524. Allerdings versagte Brahms seinen Hörern die christliche Perspektive auf das ewige Leben. In seiner Motette erinnern die letzten Worte (»Der Tod ist mir Schlaf worden«) eher an Schillers Wallenstein: »Ich denke einen langen Schlaf zu tun.« Oder an Lessings einstmals vielgelesene Schrift Wie die Alten den Tod gebildet: als Zwillingsbruder des Schlafes und freundlichen Genius. Für einen literarisch hochgebildeten Komponisten wie Brahms lagen solche gedanklichen Querbezüge nahe, zumal er auch die Bibel nicht als Offenbarung las, sondern als Anthologie »ehrwürdiger Dichter«.

Die protestantische Trauermusik zeichnete sich ebenso durch eine Rückbesinnung auf ehrwürdige, um nicht zu sagen altehrwürdige Vorbilder aus – das galt für Bach nicht anders als für Brahms und gehorchte der paradoxen Logik, mit der Beschwörung der Vergangenheit die Vergänglichkeit zu überwinden. In der Motette Warum ist das Licht gegeben wechselt Brahms zwischen strenger Fuge, freier Imitation, Responsorialgesang, vier- und sechsstimmigem Kanon, einem Cantus firmus im Sopran über einem polyphonen Unterstimmensatz, bis schließlich der Luther-Choral die tiefsinnige »Abhandlung« traditionsbewusst besiegelt. In einzelnen Teilen und Themen geht diese Komposition auf ein Studienwerk zurück, eine lateinische Missa canonica, die Brahms 1856 begonnen, aber nicht vollendet hatte, und die nun wie ein Subtext der Musik eingeschrieben war.

Schon mit der Motette Schaffe in mir, Gott, ein rein Herz hatte Brahms die anachronistische Kunstfertigkeit auf die Spitze getrieben, im Sommer 1860, 27 Jahre jung. Die Verse aus dem biblischen Bußpsalm 51 setzt er nacheinander als Vergrößerungskanon zwischen Sopran und Bass (in doppelten Notenwerten), als labyrinthische und chromatisch leidgeprüfte Fuge, als Kanon in der Doppelchörigkeit, nochmals als Fuge – bis die Stimmen zu guter Letzt in die Freiheit entlassen werden und regelrecht davoneilen. Obendrein ist der ausgefeilte Formverlauf symmetrisch auf die Fünf-, Vier- und Sechsstimmigkeit des gemischten Chores verteilt. Egal, ob man diese Musik als altmeisterlich, rückwärtsgewandt oder zeitlos kennzeichnen wollte: Sie zeigt einen jungen Komponisten, der sich gegen Erfolge wie Misserfolge wappnet und dem Fortschrittsversprechen seiner Epoche mit Skepsis begegnet.

Welt und Traum

Zu Gustav Mahlers Rückert-Lied Ich bin der Welt abhandengekommen in der Chorfassung von Clytus Gottwald. Von Jörg Handstein


Gustav Mahler: * 7. Juli 1860 in Kalischt (heute: Kaliště, Tschechien); + 18. Mai 1911 in Wien

Ich bin der Welt abhandengekommen für 16-stimmigen gemischten Chor a cappella. Entstanden: 16. August 1901 vollendet. Uraufführung: 29. Januar 1905 in Wien. Fassung für Chor von Clytus Gottwald: 1982/83 entstanden


Im Jahr 1897 hat es Gustav Mahler geschafft: Er ist Direktor der Wiener Hofoper. Aber er leidet dennoch. Er fühlt sich eingespannt in das Getriebe der lauten, hektischen Welt: »Ich bin so mitten drin, wie es ein Theaterdirektor nur sein kann. Entsetzliches, aushöhlendes Leben! Alle Sinne und Regungen nach außen gewendet, entferne ich mich immer mehr von mir selbst. Wie wird das enden?« Immerhin verfügt Mahler jetzt über die Mittel, einen Traum zu verwirklichen: Er schafft sich einen stillen Fluchtort, wo er endlich Ruhe zu finden hofft für sich und seine Kunst. Gebettet in einen waldigen Hügel, liegt die Villa Mahler direkt am Wasser des (damals noch) idyllischen Wörthersees. Hier entstehen im Sommer 1901 mehrere Lieder, die wiederum tief in Mahlers Seelenleben wurzeln. »Das ist Empfindung bis in die Lippen hinauf, die sie aber nicht übertritt. Und: Das bin ich selbst.« So hat er die Vertonung von Friedrich Rückerts Ich bin der Welt abhandengekommen erläutert. Aber die Musik objektiviert die ungeschminkt subjektive Haltung. Die schwebende, weltferne Ruhe hat etwas Sakrales, Überpersönliches. Aus einem einfachen Ganzton-Schritt wächst die Melodie, die nicht zufällig an gregorianischen Gesang erinnert. Die begleitenden Instrumente verflechten sich mit der Singstimme wie in einer polyphonen Motette. Der Rhythmus folgt Rückerts weiträumigen Versen, die frei und entspannt fließen wie spontan gesprochene Rede. Dieses einzigartige Kunstgebilde aus Worten und Tönen transzendiert die übliche Vorstellung von einem Lied.

Orientiert an der Vokalpolyphonie der Renaissance und der modernen Klangkomposition György Ligetis hat der Kantor und Musikwissenschaftler Clytus Gottwald (1925–2023) zahlreiche Lieder für Chor a cappella bearbeitet. Darunter genießt die 1982 entstandene Transkription von Ich bin der Welt abhandengekommen mittlerweile Kult-Status. Aufgefächert in die 16 Stimmen des vierfach geteilten gemischten Chores, verwandelt sich das Lied grundlegend, aber ganz im Einklang mit seiner innersten Substanz. So wie das lyrische Ich »gestorben« ist, löst sich das vom Solisten verkörperte Subjekt auf im allumfassenden Klangraum des Chores. Er selbst ist das »stille Gebiet«, der »Himmel«, der ganz vom warmen Leuchten der menschlichen Stimme erfüllt ist. Wo sich der Erste Sopran (ursprünglich die Erste Violine) über das hohe C aufschwingt und »schwebend« zurücksinkt, ereignet sich der Durchbruch in eine nahezu überirdische Sphäre. Was die Bearbeitung an Innigkeit einbüßt, gewinnt sie an Transzendenz, denn Gottwald versteht seine Transkriptionen nicht nur als Übertragung, sondern auch als Interpretation der Lieder.

Sinn für Romantik

Felix Mendelssohns kurzes Gastspiel beim Berliner Hof- und Domchor. Von Franziska Pixis


Felix Mendelssohn Bartholdy: * 3. Februar 1809 in Hamburg – † 4. November 1847 in Leipzig

Warum toben die Heiden für Doppelchor, MWV B 41. Entstehungszeit: 1843/44. Erstdruck: 1848 als Nr. 1 in den Drei Psalmen, op. 78 bei Breitkopf & Härtel. Widmung: für den Domchor zu Berlin. Uraufführung: am 25. Dezember 1843 im Dom zu Berlin durch den Königlichen Domchor


Friedrich Wilhelm von Preußen schwärmte für die Romantik. Bereits mit 15 Jahren habe der Kronprinz seinen Vater dazu gedrängt, die bei der Berliner Akademieausstellung von 1810 gezeigten Gemälde Abtei im Eichwald und Mönch am Meer von Caspar David Friedrich zu erwerben. Die Voraussetzungen für einen fruchtbaren Austausch zwischen Friedrich Wilhelm und Felix Mendelssohn Bartholdy hätten kaum besser sein können. Denn die Begeisterung des kunstsinnigen Kronprinzen für Romantisches war wohl auch jenes Moment, in dem sich die Sympathien von Herrscher und Künstler trafen, hatte ihm Mendelssohn doch die heute als Meisterwerke der musikalischen Romantik geltenden Konzertouvertüren zum Sommernachtstraum sowie Meeresstille und glückliche Fahrt und Die Hebriden gewidmet.

Nachdem der Kronprinz am 7. Juni 1840 zum König von Preußen gekrönt worden war, sollte Berlin auf Wunsch des Monarchen an kultureller Bedeutung gewinnen, indem man versuchte, Persönlichkeiten wie die Brüder Grimm, den Dichter Ludwig Tieck und den Maler Peter Cornelius an die Stadt zu binden. Nach langen Verhandlungen folgte 1841 auch Felix Mendelssohn Bartholdy, der seit 1835 das Leipziger Gewandhausorchester leitete, dem Ansinnen des Königs, das Berliner Musikleben zu reformieren. Doch die Beziehung des Komponisten zu seiner Heimatstadt Berlin erwies sich zu Beginn der 1840er Jahre als schwierig: Die geplante Umgestaltung der Akademie der Künste, deren musikalische Klasse Mendelssohn zugedacht war, und eine Konservatoriumsgründung scheiterten. Stattdessen sollte Mendelssohn als Generalmusikdirektor die evangelische Kirchenmusik Preußens betreuen. Zu dieser prestigeträchtigen Stelle gehörte auch die Leitung des am 21. März 1843 neu gegründeten königlichen Hof- und Domchores, für den Mendelssohn zum Gottesdienst des Ersten Weihnachtstages den Psalm Warum toben die Heiden vertonte.

Kaum eine Woche später jedoch, nach der musikalischen Gestaltung des Neujahrsgottesdienstes 1844, bat Mendelssohn um Entbindung von seinen Pflichten. Zu einschränkend empfand er das ständige Intervenieren von Hofbeamten und Klerus im Streit um die Form der Textvertonung. Verlangt war eine weitgehend syllabische, also silbenweise Vertonung im A-cappella-Stil. Der Text sollte im Gottesdienst verständlich sein. Vor allem im dritten Teil des insgesamt vierteiligen Psalms wird dies klar hörbar: Mendelssohn gibt wiederholt die Textverständlichkeit zugunsten musikalisch-dramatischer Momente auf. Über 40 Takte entspinnt sich hier die Musik einzig über dem Vers »Du sollst sie mit eisernem Zepter zerschlagen, wie Töpfe sollst du sie zerbrechen«, der mehr und mehr in die perkussiv sich äußernden Stimmen der beiden Chöre verwoben wird. Räumliche Momente entstehen wiederholt im Wechsel solistischer Passagen mit Doppelchörigkeit, so auch im letzten Teil der Komposition. Während die Solisten den Vers »Küsset den Sohn« weiterführen, beharren beide Chöre in tiefer Lage und sehr engen Sekundintervallen auf der Warnung »denn sein Zorn wird bald brennen«, bis sich die Stimmen zum Schluss des Gesangs in lichtem Klang vereinen. Das gleichsam unbehagliche g-Moll des Beginns löst sich gegen Ende des Psalms beruhigt und hoffnungsvoll auf in dessen Durvariante mit den Worten »Aber wohl allen, die auf ihn trauen.«

1844 arbeitete Mendelssohn bei einem Aufenthalt in Frankfurt den Psalm Warum toben die Heiden um. Dem sprachlichen Geflecht gab er konkretere Züge, einzelne Melodieverläufe waren damit für das Ohr leichter zu verfolgen, und er fügte der zweiten Fassung ein »Gloria Patri« an. Mit der Kleinen Doxologie, die üblicherweise an das Ende eines Psalms angehängt wird, setzt Mendelssohn diesen noch deutlicher in den liturgischen Kontext. Mit ihren melodischen Wendungen scheint Mendelssohn den Tonfall der Psalmrezitation aufzugreifen. Ihre kanonischen Einsätze imitieren die lobpreisende Gemeinschaft, bis der geistliche Gesang im reinen C-Dur und weiter Ferne verklingt.

Von Engelschören und Lobgesang

Zwei Chorsätze von Galina Grigorjeva. Von Felicitas Strobl


Galina Grigorjeva: * 1962 in Simferopol auf der Halbinsel Krim

In paradisum für achtstimmigen Chor a cappella. Entstehungszeit: 2012. Uraufführung: am 20. April 2013 beim Internationalen Chorfestival Tallinn. 

Alleluia für achtstimmigen Chor a cappella. Entstehungszeit: 2018 als Auftragswerk vom Festival Europa Cantat. Uraufführung: am 31. Juli 2018 in der Karlskirche von Tallinn mit dem Chor Baltic Music of Today bei Europa Cantat unter Jānis Ozols


Orthodoxer Kirchengesang berührt durch seinen klangvoll-feierlichen Charakter und ist damit für Arvo Pärt und ebenso eine Generation später für die Komponistin Galina Grigorjeva eine wichtige musikalische Inspirationsquelle. Besonders prägend war für sie die Alexander-Newski-Kathedrale in Tallinn, wo die zugewanderte Ukrainerin Unterricht vom selben Lehrer wie Pärt erhielt. Während ihres Studiums in Odessa und St. Petersburg wandte sich die 1962 in Simferopol auf der Krim geborene Komponistin immer intensiver dem russisch-orthodoxen Glauben zu. Nach Estland führten sie aber nicht die religiösen Einschränkungen der Sowjetunion, sondern vielmehr die Liebe: In St. Petersburg hatte sie bei einem Theaterprojekt ihren estnischen Ehemann kennengelernt, dem sie 1991 in sein Heimatland folgte. Der spirituelle Bezug von Galina Grigorjevas Chorkompositionen fällt sofort auf, wenn man deren Titel betrachtet: Sie sind häufig lateinisch und stammen aus der Liturgie. Musikalisch finden sich in ihren Werken Anklänge an slawische Kirchenmusik und die frühe mitteleuropäische Vokalpolyphonie.

Auch das Chorwerk In paradisum aus dem Jahr 2012 zählt zu dieser Werkgruppe. Der Text hat seinen Ursprung in einer Antiphon aus dem Mittelalter und wird häufig bei Beerdigungen gesungen, während der Sarg zum Grab getragen wird. Der Komponist Gabriel Fauré greift ihn auch am Ende seines Requiems auf. Galina Grigorjeva vertont den Übergang des Verstorbenen ins Paradies eingangs mit in sich ruhenden Klangflächen. Über ihnen schwebt eine Melodie, die durch die verschiedenen Stimmlagen gereicht wird. Mit dem Einsatz des Engelschores lebt die Musik in einem feierlich strahlenden Akkordsatz förmlich auf – es drängt sich das Gefühl auf, der Klang komme in seiner Perfektion ohne unaufgelöste Dissonanzen aus dem Paradies selbst. Im dreifachen Piano finden der Verstorbene wie auch die Musik zum Schluss ihre ewige Ruhe.

Während In paradisum insbesondere von der Mehrstimmigkeit lebt, prägt das Alleluia der Eindruck von Einstimmigkeit: Teile des Chores tragen die »Alleluia«-Melodie im Unisono oder in Sekundparallelen vor. Dazwischen wird immer wieder sechsstimmig eine Art Refrain aufgegriffen. Dieser Wechsel löst die Assoziation eines Gottesdienstes aus, in dem die Gemeinde mit »Alleluia« auf den solistischen Vortrag des Kantors antwortet. Auffällig ist dabei, dass nach fast jedem Takt ein Taktwechsel folgt. Was chaotisch erscheint, ist aber keine willkürliche Entscheidung: Galina Grigorjeva erzeugt damit nämlich den Charakter eines mittelalterlichen Chorals ohne klares Metrum. Dessen natürlicher Sprachrhythmus kann streng genommen nicht in unser heutiges, auf betonte und unbetonte Schläge beruhendes Taktsystem übertragen werden. Galina Grigorjeva löst diese Herausforderung wie viele ihrer zeitgenössischen Komponistenkollegen mit ständigen Taktwechseln und lobt Gott so vom 4/4- bis zum 7/8-Takt.

Einübung in die ewige Ruhe

Aeternam von Bernat Vivancos. Von Wolfgang Stähr


Bernat Vivancos * 1973 in Barcelona

Aeternam für gemischten Chor a cappella. Entstehungszeit: 2012, Kompositionsauftrag der Salt Lake Choral Artists. Widmung: Brady Allred and Salt Lake Choral Artists. Uraufführung: Oktober 2012 in Salt Lake City durch die Widmungsträger


Als Chorknabe am Kloster Montserrat lebte Bernat Vivancos buchstäblich im Innern der Kirche, in der Feier der Messe, in den heiligen Handlungen der Liturgie. Und in der Musik. Sehr guter Musik, wie er betont: Sie prägte sein Denken, sein Atmen, das Hören in die Tiefe der Geschichte und hinaus über den Rand der Zeit. Als Komponist lernte der 1973 in Barcelona geborene Vivancos die Welt kennen. Er studierte am Pariser Conservatoire bei Marc-André Dalbavie, der ihm nahebrachte, die »Harmonien der Vergangenheit, der Gegenwart und einer unbekannten Zukunft« zu ergründen. Und er ging nach Oslo zu dem norwegischen Komponisten Lasse Thoresen, dessen Musik ihn wie ein Erweckungserlebnis getroffen hatte: »Es war, als öffnete sich ein Fenster, frische Luft strömte herein, ich sah das Licht.« Aber Vivancos kehrte zurück nach Montserrat, leitete für einige Jahre dort den Chor, dem er selbst einst angehört hatte, und folgte überdies einem Ruf als Professor an die Escola Superior de Música de Catalunya in Barcelona. Sein Landsmann, der Gambist und Dirigent Jordi Savall, erkennt in Vivancos den Repräsentanten einer neuen Renaissance, einer schöpferischen Praxis zeitgenössischer Musik, die ihre Inspiration aus der Entdeckung eines »tausendjährigen musikalischen Erbes« empfange.

2012 vertonte Bernat Vivancos in seinem Chorwerk Aeternam die Eingangsverse der lateinischen Totenmesse: »Requiem aeternam dona eis, Domine, et lux perpetua luceat eis.« Er nahm sie beim Wort und schuf eine Musik, die sich in langen Melodiebögen und tiefen Atempausen ganz unmittelbar der Ruhe, der Stille, der Ewigkeit und dem Licht annähert. In strengen, reinen, ungetrübten Harmonien, erklärt Vivancos, wolle er die Spannung ausloten zwischen dem Rätsel des Todes, der Verwirrung, dem Zweifel und andererseits dem Glanz und der Klarheit des Ostermorgens, dem Wunder der Auferstehung. In seiner unbeirrbaren Verlangsamung wird der Chorsatz auch zu einem Exerzitium: zur Einübung in die ewige Ruhe. Nicht von ungefähr ermahnt Vivancos in der Partitur wieder und wieder zu einem gedehnten, gehaltenen, in diesem Sinne zeitlosen Vortrag. Einmal wünscht er sich, die Stimmen mögen wie die Trompeten des Jüngsten Tages erstrahlen. Und zum Schluss, wenn noch einmal das »luceat eis« intoniert wird, soll der S-Laut wie ein letzter Seufzer vergehen. Der Gesang, der ihm vorschwebt, folgt dem klösterlichen Ideal von Montserrat: »non vibrato«, pur und transparent, damit sich im Klang, der den Raum erfüllt, die Ewigkeit spiegelt, die dem Werk seinen Namen gibt.

Musik als Glaubensbekenntnis

Four Sacred Pieces von Nana Forte. Von Uta Sailer


Nana Forte: * 1981 in Zagorje ob Savi, Slowenien

Four Sacred Pieces für zwei vierstimmige Chöre. Entstehungszeit: 2015 als Auftragsarbeit für das Ensemble Epsilon. Uraufführung: 20. Juni 2015 in der Abbaye Saint Martin d’Ainay in Lyon durch das Ensemble Epsilon unter der Leitung von Maud Hamon-Loisance


Die Chormusik ist das Herz ihres Schaffens. Die slowenische Komponistin Nana Forte war schon in Kindertagen in einen Chor eingetreten, als Jugendliche schrieb sie dann bereits ihr erstes mehrstimmiges Chorstück. Die Leidenschaft war entbrannt: Nana Forte wurde zu einer angesehenen Chorkomponistin, die Auftragswerke für internationale Ensembles schreibt.

So auch im Fall der Four Sacred Pieces, die Nana Forte im Jahr 2015 für das französische Ensemble Epsilon komponiert hat: ein Werk für Doppelchor, mit dem sie sich auf die jahrhundertealte Tradition der Mehrchörigkeit aus der Renaissancezeit bezieht. Das gleichzeitige Singen zweier Chöre, die mal ganz subtil, mal sehr deutlich interagieren, öffnet einen weiten Klangraum, der einerseits die Größe Gottes, andererseits die Intimität jeder individuellen Gottesbeziehung ausdrückt. Nana Forte spielt mit der Doppelchörigkeit: Manchmal setzt sie die beiden Ensembles so ein, dass die Musik an ein Gespräch erinnert. Manchmal ergänzen sich die zwei Chöre und entspinnen zusammen einen großen Melodiebogen. Wenn die beiden Klangkörper an ausgewählten Textstellen miteinander verschmelzen und wie »aus einem Munde« singen, hat das doppelt starke Wirkung und trifft direkt ins Herz. Dies ist auch das Ziel der Komponistin Nana Forte: Sie möchte berühren, Vertrauen stärken und einen Weg zum inneren Frieden aufzeigen. Musik betrachtet sie als Teil von Spiritualität. Der Glaube ist wichtig für die Komponistin, er hat ihr Halt und Orientierung gegeben in Zeiten schwerer Schicksalsschläge. Eine ebenfalls große Inspirationsquelle für Nana Forte ist die Natur: Sie lebt abgeschieden auf einem Hügel in der Nähe eines Waldes und baut eigenes Gemüse an. Was sie dort im Werden und Vergehen der Pflanzen beobachtet, was sie beim Anblick des sternenübersäten Nachthimmels empfindet und das, was sie auf ausgedehnten Waldspaziergängen erlebt: all das fließt in ihre Werke ein. So verwundert es nicht, dass ihre ruhig dahin strömende Musik etwas sehr Organisches an sich hat.

Gleich im ersten Satz Iam non dicam, der im tiefen Stimmregister startet, schält sich eine Melodie aus dem Gesamtklang heraus wie ein Pflänzchen aus der Erde: Durchbruch aus dem Bauch von Mutter Erde ans Licht. Auf den Menschen übertragen: das Sich-Abwenden von der Welt hin zu Gott. Auf die Worte »In medio vestri«, übersetzt »in eurer Mitte«, sind beide Chöre vereint und singen als eine Stimme – ein klangvolles Symbol für die Einheit aller Lebewesen. Der zweite Satz Sancta trinitas beginnt mit dem offenen Intervall der Quinte, dessen Raum sogleich gefüllt wird von einem eng geführten Stimmengeflecht, das sich zu expressivem Ausdruck emporschwingt, eher der Satz wieder zur Ruhe kommt. Während die beiden ersten Sätze melodiös geprägt sind, fällt im dritten Satz mit dem Titel Tanto tempore der Rhythmus auf. Schnelle und punktierte Noten geben diesem Stück etwas Zackiges, passend zum Inhalt, in dem ja durchaus ein Vorwurf mitschwingt: »So lange Zeit bin ich bei euch, und ihr habt mich nicht erkannt?« Gleichzeitig baut die Komponistin Nana Forte hier bunt schillernde Harmoniegebilde, die wie Klangtürme in den Himmel ragen. Erst bei dem Wort »Alleluja« gewinnt der Satz etwas Leichtfüßiges, Tänzerisches. Der letzte Satz O sacrum convivium zeigt sich als musikalische Andacht: Musik der Stille, die uns nach innen führt – dorthin, wo es das Göttliche in uns zu erkennen gilt.

Weitere Konzerte

Do. 30. Mai, 20.00 Uhr
München, Isarphilharmonie im Gasteig HP 8
Riccardo Muti (Foto: Todd Rosenberg, by courtesy of www.riccardomuti.com)
Riccardo Muti dirigiert Schubert, Haydn, Strauss
Abonnementkonzert des BRSO: Schubert – Messe Nr. 2 G-Dur u.a.
Sa. 15. Jun, 20.00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz
5. Chor-Abonnementkonzert 2023/24
Veni creator spiritus
Michael Hofstetter dirigiert Werke von Lasso, Praetorius, Schütz und Gabrieli sowie neue Chormusik von Richard van Schoor
Sa. 22. Mrz, 20.00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz
Chor-Abo plus 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Sir Simon Rattle – musica viva
Sir Simon Rattle präsentiert mit BR-Chor und BRSO Werke von Pierre Boulez, Luciano Berio und Helmut Lachenmann
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