Brahms – Geistliches Lied
Programm
Mitwirkende
Aziz Shokhakimov hat sich freundlicherweise bereit erklärt, das Dirigat von Sir John Eliot Gardiner kurzfristig zu übernehmen. Der junge usbekische Dirigent ist Kapellmeister der Deutschen Oper am Rhein und designierter Chefdirigent des Orchestre Philharmonique de Strasbourg.
»Lass dich nur nichts nicht dauern / mit Trauern«
Zu Johannes Brahms’ Geistlichem Lied, op. 30
Von Renate Ulm
Johannes Brahms: 7. Mai 1833 in Hamburg – 3. April 1897 in Wien; Geistliches Lied, op. 30, Entstehungszeit: April 1856 in Düsseldorf; Uraufführung: 2. Juli 1865 in Chemnitz
Der Titel »Geistliches Lied« stammt nicht vom protestantischen Barockdichter Paul Fleming (1609–1640), er gab seinem Gedicht »Laß dich nur nichts nicht tauren / mit trauren« keinen eigenen Titel, gliederte es aber in seine Oden-Sammlung ein. Diese »Ode« ist dennoch religiös. Paul Fleming scheint sich in diesen drei kurzen, prägnanten Strophen an eine weitere Person zu richten, doch er spricht zu sich selbst, zu seinem trauernden Ich.
Er richtet die Aufmunterung an seine zutiefst verzweifelte und verunsicherte, dazu auch an Gott zweifelnde Seele. In der ersten Strophe fordert er auf, nicht mehr zu klagen, sondern wieder vergnügt zu sein, da das Leben in Gottes Hand liege. Alle Sorgen seien unnötig, gibt die zweite Strophe zu verstehen, denn man bekomme doch immer das Seine von Gott. Und in der dritten Strophe mahnt er, sich nicht beeinflussen zu lassen, sondern fest im Glauben zu verharren. In der präzisen, auf den Punkt gebrachten Dichtung verwendet Fleming in jeder Strophe ein Gegensatzpaar, das aus dem melancholischen Ist-Zustand in eine hoffnungsvolle Zukunft führen soll: Trauer/Freude – Sorge/Hoffnung – Zweifel/Gottvertrauen. Ist das Selbstsuggestion in einer bitteren Zeit, mit Blick auf eine unbestimmte Zukunft?
Paul Fleming, der nur 30 Jahre alt wurde, lernte schon als Kind die zerstörerische Welt des 30-jährigen Krieges kennen. Den Frieden danach hat er, der in der Düsternis seiner Zeit nach erlösendem Licht suchte, nicht mehr erlebt. So schwingt in seiner Ode lutherischer Protestantismus gleichermaßen mit wie eine stoisch-humanistische Lebenseinstellung.
Johannes Brahms muss von diesem knappen Gedicht Paul Flemings, das er für vierstimmigen gemischten Chor mit Orgelbegleitung oder mit Klavierbegleitung zu drei [sic!] oder vier Händen vertonte, sehr berührt worden sein.
Für die heutige Aufführung wird eine Bearbeitung von John Eliot Gardiner herangezogen, der die Orgelstimme auf ein Streichorchester übertrug.
Das Besondere am »Geistlichen Lied« ist, dass es 1856, im Todesjahr Robert Schumanns, entstand, als sich Brahms in einer seelisch-moralischen Zwangslage befand: Sein ehemaliger Mentor Schumann, der die geschlossene Anstalt nicht mehr verlassen durfte, verfiel in den letzten Wochen rapide und starb am 29. Juli des Jahres. Brahms’ Verhältnis zu Clara hatte sich in den vergangenen zwei Jahren, seit Robert in Endenich war, sehr intensiviert, er wohnte zeitweise sogar im Hause der Schumanns. Doch jetzt suchte sich Brahms daraus zu lösen und verpflichtete sich wenig später als Chorleiter in Detmold. 1856 war also ein Jahr des Abschiednehmens von Robert und Clara, zu der er eine größere Distanz suchte. Und es ist ein Jahr, das noch keine großen Zukunftsperspektiven für ihn als Komponisten bereithielt, der voller Selbstzweifel und Skrupel an die kompositorische Arbeit heranging.
Noch wird es 20 Jahre dauern, bis seine Erste Symphonie uraufgeführt wird. Das »Geistliche Lied« in seiner aphoristischen Kürze scheint seine damaligen Gedanken und sogar seine religiöse Haltung dieser Jahre zu skizzieren.
Nach dem instrumentalen Vorspiel mit kanonisch geführten, sich aufschwingenden und wieder absinkenden Melodiebögen setzen imitatorisch die Gesangsstimmen in langsamer Fortschreitung ein. Brahms übte sich in dieser Zeit im alten Stil Palestrinas. »Den Anstoß für seine lebenslange Beschäftigung mit kontrapunktischen Studien dürfte Brahms von Robert Schumann erhalten haben«, schreibt Michael Anderl in seiner Werkbetrachtung zum »Geistlichen Lied«, »dieser tauschte mit seiner Frau Clara solche Studien aus, und auch Brahms und Joseph Joachim befassten sich ab Mitte der fünfziger Jahre damit«.
Auch dieses Werk schickte Brahms an Joachim, der sich ausführlich und sehr kritisch darüber äußerte: »Dein Ohr ist so an rauhe Harmonie gewöhnt, von so polyphoner Textur, daß Du selten die Stimmen, im gegenseitigen Zusammenstoß allein, erwägst – weil sich eben bei Dir gleich das Gehörige, Ergänzende dazugesellt. Das kannst Du aber von einem Zuhörer, selbst vom musikalischsten, nicht verlangen; und da denn alle Kunst schließlich zum Mitgenuß beseligen soll, da das ihr heiligster Vorzug ist, so bitte ich Dich, darüber nachzudenken.«
Dem Gedicht fügte Brahms gleichsam als eigene Zustimmung und Bekräftigung ein »Amen« an, das Joachim in der ersten Fassung für zu ausgedehnt hielt; auch Clara Schumann hielt die »Amen«-Passage für schön, aber im Verhältnis zum Ganzen zu lang.
»Das Geistliche Lied« wurde zunächst nicht aufgeführt, obwohl Brahms als Chorleiter in Detmold durchaus Gelegenheit dazu gehabt hätte. Möglicherweise wollte er wegen der Kritik seiner Freunde den Chorsatz zunächst nicht aufführen. Vielleicht war das Werk für ihn auch ein zu privates Bekenntnis, das seine Trostsuche in ereignisreicher, schwieriger Zeit spiegelte. Brahms übergab es damals jedenfalls noch nicht der Öffentlichkeit. Erst Jahre später, als Chorleiter der Wiener Singakademie, holte er dieses Werk wieder hervor, und leitete es dort und – mit einem dokumentierten Uraufführungsdatum – 1865 in Chemnitz. Der Zusammenhang zu Robert und Clara Schumann dürfte in diesem Konzert nicht mehr aufgekommen sein. Dass Brahms dem »Geistlichen Lied« selbst große Bedeutung beimaß, zeigt sich daran, dass er diesem Werk allein die Opuszahl 30 gab, während andere Opuszahlen, die um dieses Werk herum gruppiert sind, zumeist Werkgruppen umfassen.
Lass dich nur nichts nicht dauren
mit Trauren,
sei stille
wie Gott es fügt,
so sei vergnügt,
mein Wille.
Was willst du heute sorgen
auf morgen,
der eine
steht allem für,
der gibt auch dir
das deine.
Sei nur in allen Handel
ohn’ Wandel.
Steh feste,
was Gott beschließt,
das ist und heißt
das beste.
Der usbekische Dirigent Aziz Shokhakimov hat sich bereits 2010 mit dem Zweiten Preis des Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerbs der Bamberger Symphoniker sowie 2016 mit dem Young Conductors Award der Salzburger Festspiele als Interpret von Rang präsentiert. Seitdem erhielt er Einladungen von renommierten europäischen und nordamerikanischen Klangkörpern wie dem SWR Symphonieorchester, dem NDR Elbphilharmonie Orchester, dem WDR Sinfonieorchester sowie dem London Philharmonic Orchestra und den Symphonieorchestern von Toronto und Houston.
Als Einspringer für Yuri Temirkanov beim Orchestre Philharmonique de Radio France hinterließ er im März 2019 einen nachhaltigen Eindruck, so habe er der Zehnten Symphonie von Schostakowitsch »Substanz verliehen« und mit »quasi architektonisch gedachter Werkauffassung« den »vollen Gehalt der monumentalen Symphonie« herausgearbeitet.
In der kommenden Saison wird Aziz Shokhakimov sein Amt als Chefdirigent des Orchestre Philharmonique de Strasbourg antreten und bei renommierten Ensembles wie dem Orchestre de la Suisse Romande, dem Orchestre Philharmonique de Radio France, dem Orchestre National de France, den Warschauer Philharmonikern sowie beim Seoul Philharmonic Orchestra und beim Yomiuri Nippon Symphony Orchestra Konzerte leiten.
Als Operndirigent profiliert er sich seit 2015 in zahlreichen Produktionen an der Deutschen Oper am Rhein, so etwa mit Puccinis »Tosca«, Tschaikowskys »Pique Dame« oder Strauss’ »Salome«. Außerdem erhielt er eine Einladung zum Festival d’Aix-en-Provence, wo er die musikalische Leitung in Barrie Koskys Inszenierung von Rimsky-Korsakows »Goldenem Hahn« übernahm.
Aziz Shokhakimov, geboren 1988 in Taschkent, wurde seit seinem sechsten Lebensjahr an der Uspensky-Musikschule für begabte Kinder in den Fächern Violine und Bratsche sowie später bei Vladimir Neymer im Dirigieren ausgebildet. Sein Debüt am Pult des Nationalen Symphonieorchesters Usbekistans feierte er mit 13 Jahren. Schon bald folgte mit Carmen ein erstes Operndirigat an der Usbekischen Nationaloper. Seitdem festigte er seinen Ruf als vielseitiger Dirigent in der Position des Assistant Conductor beim Nationalen Symphonieorchester Usbekistans, zu dessen Chefdirigent er 2006 ernannt wurde.
Mit den beiden Brahms-Dvořák-Abenden in der Münchner Philharmonie im Gasteig feiert Aziz Shokhakimov sein Debüt bei Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.