Sir Simon Rattle dirigiert Purcell und Haas

Konzert ohne Live-Publikum
Samstag
6
März 2021
20.00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz
Konzert in München

Programm

Henry Purcell
Funeral Music of Queen Mary
für Chor und Instrumentalisten
Georg Friedrich Haas
in vain
für 24 Instrumente (2000) – Münchner Erstaufführung

 

Zoro Babel Lichtregie

Mitwirkende

Chor und des Bayerischen Rundfunks
Howard Arman Einstudierung
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Duncan Ward Einstudierung
Sir Simon Rattle Leitung

Henry Purcell fällt am Ende des 17. Jahrhunderts als Organist der Chapel Royal die Aufgabe zu, für die Beisetzung der jung verstorbenen Königin Maria II. eine Musik zu schreiben, die der politischen Tragweite des Ereignisses ebenso gerecht wird wie den Gefühlen des trauernden Volkes.

Ist es widersinnig, wenn Sir Simon Rattle ausgerechnet eine Musik zum einem der Meisterwerke des 21. Jahrhunderts erklärt, die kaum ein anderes Ziel verfolgt, als die Flüchtigkeit und Nichtigkeit des Seins vor Ohren zu führen? Und nicht nur das. Georg Friedrich Haas hat mit »in vain« eine verschwenderische, geradezu überbordende Komposition in die Welt gesetzt, die sich an keine Maßstäbe und Normen hält. Er führt durch Tag und Nacht, durch Höhen und Tiefen, durch ebenso extrem langsame und wie irrwitzig schnelle Klanglandschaften, aber immer im Kreis. Jede irdische Anstrengung ist zum Scheitern verurteilt, aber zu was für einem Scheitern! Erfahrungen von Demut und Erhabenheit liegen in dieser zeitlosen Stunde eng beieinander.

Die Musik vereint die Lust an der Überwältigung mit extremen Momenten des Innehaltens. Wie im Zeitalter des Barock, aber mit den Mitteln der Gegenwart, hat Georg Friedrich Haas ein Werk entworfen, das daran erinnert, wie klein der Mensch ist, und wie schön Musik sein kann.

Konzertvideo

Sir Simon Rattle © BR\Astrid Ackermann

Zeit für das Wesentliche
Von Martina Seeber

»Der Tod war zu Henry Purcells Zeiten mächtiger als heute, auch wenn die Pandemie ihm gegenwärtig wieder mehr Spielraum lässt. Es waren die Pocken, auch Blattern genannt, die Englands Königin Maria II. im Alter von nur 32 Jahren kurz nach Weihnachten des Jahres 1694 aus dem Leben rissen. Gegen die hoch ansteckende Krankheit gab es kein Mittel außer der Isolation der Kranken. Selbst ihre Schwester, mit der sie seit langem entzweit war, durfte Queen Mary nicht noch ein letztes Mal sehen. Nur fünf Jahre zuvor hatte Mary gemeinsam mit ihrem Ehemann Wilhelm in einer in Europa äußerst seltenen Doppelkrönung den Thron von England bestiegen. Im Laufe ihrer kurzen Regentschaft auch über Schottland und Irland hatte sie sich zu einer überraschend aktiven, selbstbewussten Königin entwickelt. Sie war es, die die Regierungsgeschäfte führte, während ihr Mann in Kriegsgeschäften unterwegs war. Als sie starb, traf das Land ein Schock, der vielleicht nur mit dem Entsetzen und der kollektiven Trauer verglichen werden kann, den drei Jahrhunderte später der Tod von Lady Diana auslöste.

Ihr Gemahl hätte Mary gerne in kleinem Kreis beigesetzt, doch der öffentliche Druck war zu hoch. So wurde ihr Leichnam – ihr Körper war zum Zeitpunkt des Todes nicht mehr vom Ausbruch der Pocken entstellt – im Februar 1695 öffentlich aufgebahrt, für den 5. März war die Trauerfeier angesetzt. Es war die erste, bei der sämtliche Mitglieder beider Häuser des Parlaments zugegen waren.

Für die musikalische Gestaltung des staatlichen Begräbnisses sorgte damals ein Komponist, der mit 35 Jahren kaum älter war als die verstorbene Königin. Henry Purcell, damals unbestritten der bedeutendste Komponist Englands, stand zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Höhepunkt seiner Karriere, er bekleidete das Amt des Organisten der Westminster und der Chapel Royal, komponierte geistliche Werke, Schauspielmusiken, Opern und eine Fülle von Liedern.

Henry Purcells Trauermusik für die königliche Beerdigung, die heute unter dem Titel der »Funeral Music of Queen Mary« zusammengefasst ist, war jedoch am 5. März 1695 in London nicht in dieser Form zu hören. Die Folge von zwei Instrumentalstücken im Wechsel mit drei Anthems hat sich erst später unter diesem Namen etabliert. Tatsächlich war während der feierlichen Prozession durch die Straßen und in der Westminster Abbey wahrscheinlich zunächst nur der von Zugtrompeten, Posaunen und Pauken intonierte, langsame Marsch zu hören, der den Puls und die Schritte der Menschen so sehr verlangsamte, dass die Zeit fast still gestanden haben muss. Auch die Stille bekommt in diesem Marsch einen Raum. Sie ist beinahe so gegenwärtig wie die schlichten Bläserakkorde, die sich zuerst nur zögerlich verbinden, um dann langsam eine Melodie zu formen. Begleitet wird der Bläsersatz von einfachen Paukenschlägen. Im Manuskript sind die Pauken verzeichnet, Ohren- und Augenzeugen berichten jedoch einstimmig, sie damals gehört zu haben.

In der Kirche erklangen dann, im Wechsel mit dem Marsch und einer ebenfalls für Bläser und Pauke komponierten Canzona, die Sätze der anglikanischen Beerdigungszeremonie. Sehr wahrscheinlich stammten mindestens zwei dieser Anthems nicht von Purcell selbst, sondern von Thomas Morley. Nur ein Anthem (das sechste mit dem Titel »Thou knowest Lord«) hatte Henry Purcell, zusammen mit dem Marsch und der Canzona, für diesen Anlass neu komponiert.

Wenn heute die »Funeral Music of Queen Mary« erklingt, sind darin nur Purcells eigene Kompositionen zusammengefasst. Das erste Anthem »Man that is born of a woman« erinnert in seiner kargen, aber würdevollen Schlichtheit an den zuvor wahrscheinlich schier endlos wiederholten Trauermarsch, der ebenfalls in c-Moll steht. Die Sänger lassen den ersten Satz (»Der Mensch, vom Weibe geboren lebt kurze Zeit«) in aller Ruhe aufblühen. Purcell lässt die Stimmen eine nach der anderen einsetzen und füllt damit den gesamten Ton- und damit auch Kirchenraum nach und nach mit einem dunkel leuchtenden Klang. Und wieder lässt der Komponist sich, seinen Sängern und Hörern Zeit für das Wesentliche. Nichts lenkt von der Botschaft ab. In aller Seelenruhe zeichnen die Stimmen das Bild einer Blume, die plötzlich geschnitten wird, oder besingen den Menschen als ein Schatten, der im Leben keine Ruhe findet. Das Aufblühen und Sterben, das rastlose Schreiten und Suchen der Schatten bestimmen den Charakter dieses Anthems. Wie von einem überirdisch langen Atem getragen, heben und senken sich die Melodielinien. Wie in einer Endlosschleife vertont Henry Purcell das ruhelose Schreiten und Umherirren der Menschen in diesem – bei aller Langsamkeit – bemerkenswert kurzen Gesang.

Auch das zweite Anthem »In the midst of life« ist eine Feier der Langsamkeit, des Innehaltens, aber zugleich auch des Trostes. Wie ein Gegenpol zum Tod, der ins Leben einbricht und es jäh beendet, vereinigen sich die Stimmen zu Beginn in einem langen, ruhigen Fluss. Purcell entwirft eine Vision der Ewigkeit, fern des Alltags mit seinen drängenden Geschäften, Sorgen und Nöten. Erst im zweiten Teil steigt der Gesang chromatisch auf und schärft sich zur Anklage, ohne zum Trost des Beginns zurückzufinden. Das dritte Anthem, von Henry Purcell eigens für die Begräbnisfeierlichkeiten in der Westminster Abbey neu vertont, lässt die Trauermusik mit einem Schimmer der Hoffnung und Zuversicht enden. In dieser Fassung von 1695 von »Thou knowest, Lord« vereinen sich die Stimmen im Rhythmus eines langsamen Marsches. Purcell lässt in diesem geradlinigen Fortschreiten keine Zweifel an der Macht Gottes und der Verheißung des ewigen Lebens. Dass dieser jüngste Satz konservativer gesetzt ist, mag daran liegen, dass sich Henry Purcell dem Stil der gewählten Anthems von Thomas Morley anpasste, um den Zusammenhalt der Begräbnismusiken nicht zu gefährden.
Dass die gewählten und neu komponierten Werke nicht wenig dazu beitrugen, die Grablegung der jungen Königin als ein bewegendes historisches Ereignis zu unterstreichen, verraten die Berichte über die Beisetzung Queen Marys, die immer wieder die Musik hervorheben: »Sobald die Prozession anfing, wurden die Kanonen vom Tower gelöst, und damit, bis alles vorbei war, fortgefahren. In der Kapelle Heinrichs VII. wurde ein Baldachin aufgerichtet […] Man hörte den Klang einer Trommel, das Zerbrechen der Amtsstäbe aller Offiziere der Königin und das Hinabschleudern der Schlüssel ins Grab […] Nie wurde etwas ähnlich Feierliches und Großartiges gehört wie die Trauermusik von Mr. Purcell.«

Seine Trauermusik gehört bis heute zu den bewegendsten Werken der Musikgeschichte. Elektronische Echos reichen bis in die Titelmusik von Kubricks »Uhrwerk Orange«. Der Komponist wurde, nur kurz nach Queen Mary, ebenfalls in der Westminster Abbey beigesetzt. Er starb am 21. November 1695, ebenfalls in der Blüte seines Lebens. Auf seinem Grabstein neben der Orgel steht: »Hier liegt Henry Purcell, der sein Leben verlassen hat und an jenen gesegneten Platz ging, an dem einzig sein Wohlklang weiterbesteht.«


Gesangstext

Funeral Music of Queen Mary

2. Man that is born of a woman
hath but a short time to live and is full of misery.
He cometh up, and is cut down like a flow’r;
he flee’th as it were a shadow, and ne`er continueth in one stay.

Der Mensch, vom Weibe geboren
lebt kurze Zeit und ist voller Unruhe.
Er blühet auf und wird zu Staub wie das Gras,
er fliehet gleichwie ein Schatten und findet keine Statt auf Erden.

Hiob 14,1–2

4. In the midst of life we are in death;
of whom may we seek for succour but of thee, O Lord,
who for our sins art justly displeased?.
Yet, O Lord, most mighty, O holy and most merciful Saviour,
deliver us not into the bitter pains of eternal death.

Mitten wir im Leben sind des Todes;
bei wem möchten Hilf wir finden denn bei dir, o Gott,
den unsere Schuld und Sünde erzürnet?
O du ewger Gott, du starker allmächtiger, du heilig und barmherziger Herr und Gott
verlasse uns nicht in Not und bittrer Pein! Herr erbarme dich!

6. Thou knowest Lord, the secrets of our hearts;
shut not thy merciful ears unto our prayer,
but spare us, Lord most holy, O God most mighty.
O holy and most merciful Saviour, thou most worthy Judge eternal,
suffer us not at our last hour, for any pains of death to fall from thee. Amen

Du kennst, o Herr, verborgnes Herzeleid.
Neige dein gnädiges Ohr zu unsrer Bitt,
erhalt uns, Herr, schone uns, o Heilger, o Gott, du Allmächtiger!
O heilger und barmherziger Heiland, der du Richter bist auf ewig,
führe uns nicht in Versuchung in unsrer Todesstund, dass wir nicht falln von dir. Amen.


Das bezwingende Charisma von Simon Rattle, seine Experimentierfreude, der lustvolle Einsatz für die Moderne, sein soziales und pädagogisches Engagement sowie der uneingeschränkte künstlerische Ernst haben BR-Chor und BRSO zu einem einstimmigen Votum für den englischen Dirigenten geführt.

Der gebürtige Liverpooler gehört zu den facettenreichsten und faszinierendsten Dirigentenpersönlichkeiten unserer Zeit. Seine internationale Reputation erwarb sich Simon Rattle während seiner 18-jährigen Zeit beim City of Birmingham Symphony Orchestra, das er ‒ 1980 bis 1990 als Erster Dirigent und 1990 bis 1998 als Chefdirigent ‒ zu Weltruhm führte. 2002 wurde er als Nachfolger von Claudio Abbado Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, denen er bis Juni 2018 in dieser Position vorstand.

Zahlreiche CD-Einspielungen sowie Kompositionsaufträge und Uraufführungen u.a. von Werken von Adès, Berio, Gubaidulina, Boulez, Grisey, Lindberg und Turnage sind aus dieser Zusammenarbeit hervorgegangen. Bis zur Spielzeit 2022/23 ist Simon Rattle Chefdirigent des London Symphony Orchestra. Zudem pflegt er Kontakte zu weiteren Orchestern, u. a. den Wiener Philharmonikern, mit denen er sämtliche Symphonien und Klavierkonzerte von Beethoven (mit Alfred Brendel) eingespielt hat, und dem Orchestra of the Age of Enlightenment, dem er als Principal Artist eng verbunden ist.

Auch an allen namhaften Opernhäusern ist Simon Rattle begehrter Gast: am Royal Opera House Covent Garden in London, an der Staatsoper Berlin, an der Wiener Staatsoper, an der er 2015 Wagners Ring-Tetralogie dirigierte, und an der New Yorker Metropolitan Opera, wo er u. a. mit »Tristan und Isolde« und »Der Rosenkavalier« zu erleben war. Bei den Salzburger Festspielen leitete Simon Rattle die Berliner Philharmoniker in szenischen Aufführungen von »Fidelio«, »Così fan tutte«, »Peter Grimes«, »Pelléas et Mélisande«, »Salome« und »Carmen«. Ebenfalls mit den »Berlinern« realisierte er Wagners »Ring« beim Festival d’Aix-en-Provence und bei den Salzburger Osterfestspielen. Gemeinsam eröffneten sie 2013 mit Mozarts »Zauberflöte« ihre Residenz bei den Osterfestspielen Baden-Baden, die sie u. a. mit Bachs »Johannes-Passion«, »Der Rosenkavalier«, »La damnation de Faust«, »Tristan und Isolde« sowie zuletzt mit »Parsifal« fortsetzten.

Für seine bisher mehr als 70 Plattenaufnahmen erhielt der Dirigent höchste Ehrungen. Hervorgehoben sei auch sein Engagement für das Education-Programm Zukunft@BPhil der Berliner Philharmoniker, für das er ebenfalls mehrfach ausgezeichnet wurde. Mit BR-Chor und BRSO brachte Simon Rattle u.a. Schumanns »Das Paradies und die Peri« und Haydns »Jahreszeiten« zur Aufführung.

Weitere Konzerte

Sa. 1. Feb, 20.00 Uhr
München, Prinzregententheater
Chor-Abo 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Hrvatska Misa – Kroatische Messe
Ivan Repušić dirigiert Frano Paraćs »Dona nobis pacem« und Boris Papandopulos »Kroatische Messe« d-Moll, op. 86
Sa. 22. Mrz, 20.00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz
Chor-Abo plus 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Sir Simon Rattle – musica viva
Sir Simon Rattle präsentiert mit BR-Chor und BRSO Werke von Pierre Boulez, Luciano Berio und Helmut Lachenmann
Sa. 5. Apr, 20.00 Uhr
München, Prinzregententheater
Chor-Abo 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Kreuzwege
Peter Dijkstra dirigiert »Via crucis« von Franz Liszt und »The Little Match Girl Passion« von David Lang
Sa. 24. Mai, 20.00 Uhr
München, Prinzregententheater
Chor-Abo 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Joik – Götter, Geister und Schamanen
Peter Dijkstra dirigiert Chormusik von Holst, Holten, Martin, Sandström und Mäntyjärvi
×