Happy Birthday, Arvo Pärt
1. Abonnementkonzert
Freitag, 13. November, 15.30 Uhr | Samstag, 14. November, 18.00 Uhr / 20.30 Uhr
Keine Konzerteinführungen
Die Konzerte werden aufgrund der aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie abgesagt. Abonnenten werden über Rückerstattungen gesondert informiert.
Das Konzert findet ohne Publikum statt. Der Mitschnitt wird am Mittwoch, 30. Dezember, um 22.05 Uhr auf BR-KLASSIK gesendet.
Der Mitschnitt von einem Gastkonzert des Chores bei den Fränkischen Musiktagen Alzenau vom 18. Oktober 2020 mit einem weitgehend gleichlautenden Programm sendet BR-KLASSIK am Samstag, 28. November 2020 um 19.05 Uhr.
Programm
Mitwirkende
Happy Birthday, Arvo Pärt: zum 85. Geburtstag des Komponisten
Arvo Pärt gilt als Asket unter den zeitgenössischen Komponisten: Seine Musik ist einfach, aber nicht simpel, emotional, aber nicht pathetisch. Sie gibt Raum für Spiritualität und überwältigt mit ihrer schlichten Schönheit. Den 85. Geburtstag des großen estnischen Komponisten Arvo Pärt mit einem Konzert zu feiern, setzt einen Glanzpunkt auf eine künstlerische Verbindung, die der BR-Chor erstmals 1982 mit der Uraufführung von »Passio« knüpfte. Eine
Verbindung, die sich vor allem in den letzten Jahren intensivierte und die mit der Aufführung von »Miserere« 2019 bei den Salzburger Festspielen in Pärts Anwesenheit einen weiteren Höhepunkt erlebte. Diese Kooperation wird nun mit einem reinen Pärt-Abend unter der Leitung von Howard Arman fortgeführt. Eingerahmt werden die A-cappella-Werke von Arvo Pärt u.a. durch Staatsmotetten des Renaissance-Komponisten und kaiserlichen Hofkapellmeisters Heinrich Isaac (1450–1517).
Werkinfo
Heinrich Isaac
* um 1450 in Flandern
† 26. März 1517 in Florenz
Virgo prudentissima
Entstehung Der habsburgische Hofkomponist Heinrich Isaac schrieb die sechsstimmige Staatsmotette 1507 in Konstanz als Huldigung an Maximilian I., der nur wenige Monate nach dem Konstanzer Reichstag im April 1508 zum Kaiser gekrönt wurde.
Text Der Cantus firmus (Tenor) gehört zur Magnificat-Antiphon für Maria Himmelfahrt. Die übrigen fünf Stimmen sind auf Verse des kaiserlichen Hofkapellmeisters Georg Slatkonia komponiert. Beide Texte erklingen parallel und vereinigen sich sinnfällig in den Worten »… electa ut sol« (»auserlesen wie die Sonne«), die sich gleichermaßen auf die Gottesmutter Maria wie auch auf den Kaiser beziehen.
Uraufführung Vermutlich 1507 beim Konstanzer Reichstag.
Arvo Pärt
* 11. September 1935 in Paide (Estland)
Tribute to Caesar
Entstehung Komponiert zum 350-jährigen Bestehen der Diözese von Karlstad (Schweden). Pärt hat die Szene mit Jesus und den Pharisäern, die über das Zahlen von Abgaben an weltliche Herrscher debattieren, im Tintinnabuli-Stil als vierstimmigen A-cappella-Satz gestaltet.
Text Matthäus-Evangelium in englischer Sprache. Wie in der kirchlichen Tradition der Evangelien- und Passionsrezitation werden die Jesus-Worte von einer tiefen Männerstimme vorgetragen.
Uraufführung Am 18. Oktober 1997 im Dom zu Karlstad mit dem Vokalensemble Erik Westberg.
Arvo Pärt
The Deer’s Cry
Entstehung 2007 im Auftrag der in Irland ansässigen Louth Contemporary Music Society.
Text Die Lorica ist ein Segens- oder Schutzgebet aus vorchristlicher Tradition. Der Begriff (lat. Panzer, Brustpanzer) verweist darauf, dass das Gebet wie ein Panzer vor Unheil schützen soll. Die bekannteste Lorica stammt vom hl. Patrick, dem Schutzpatron der Iren. Pärt hat die für irische Segenssprüche typischen Christus-Beschwörungen der Lorica ins Zentrum seiner Komposition gerückt.
Uraufführung Am 13. Februar 2008 in der St. Peter’s Church in Louth (Irland) mit dem Lettischen Staatschor unter der Leitung von Fergus Sheil.
Heinrich Isaac
Salve sancta parens
Text Introitus des Messpropriums zum Fest der Jungfrau Maria. Die kurze Intonation (»Salve«) verweist auf den liturgischen Gebrauch der Motette in der katholischen Messe. Introitus-Gesänge folgen dem antiphonalen Prinzip des Abwechselns von Vorsänger und Choralschola bzw. Gemeinde. Außerdem gehören zum Introitus u.a. ein Psalmvers (»Sentient …«) sowie abschließend seine Wiederholung, die auch in der Motette von Isaac gefordert wird. Entstehungszeit und Uraufführung unbekannt.
Arvo Pärt
Which Was the Son of …
Entstehung Im Jahr 2000 vollendet als Auftragskomposition für Reykjavík, Europäische Kulturhauptstadt 2000.
Text Passage aus dem Lukas-Evangelium, in dem die Abkunft Jesus’ von Adam und Gott in einer langen Folge von Namen geschildert wird. Eine Parallele dazu besteht in der isländischen Tradition der Namensgebung, bei denen der Vorname des Vaters in den Nachnamen des Sohnes bzw. der Tochter einfließt: Thoergerdur Ingólfsdóttir bedeutet Thoergerdur, die Tochter von Ingólf.
Widmung Thoergerdur Ingólfsdóttir.
Uraufführung Am 26. August 2000 in der Hallgrímskirkja in Reykjavík (Island) beim Festival Voices of Europe durch den Youth Choir Raddir Evrópu (Voices of Europe) unter der Leitung der Widmungsträgerin.
Arvo Pärt
Da pacem Domine
Entstehung Auftragswerk für Jordi Savall, komponiert 2004 unter dem Eindruck der Bombenanschläge von Madrid am 11. März 2004 und als Pärts persönlicher Akt des Gedenkens an die Opfer des Terrors
Text Cantus firmus aus dem 6./7. Jahrhundert, die gregorianische Choralmelodie erklingt in der Alt-Stimme.
Uraufführung Am 1. Juli 2004 bei einem internationalen Friedenskonzert unter der Leitung von Jordi Savall; weitere Aufführungen u. a. an den Jahrestagen der Madrider Zuganschläge.
Arvo Pärt
Ja ma kuulsin hääle …
Entstehung 2017 als Auftragswerk des Centro Nacional de Difusión Musical in Madrid anlässlich des 800-jährigen Gründungsjubiläums der Universität Salamanca im Jahr 2018.
Widmung Dem Andenken an Erzbischof Konrad Reinhold Veem.
Text Veems Witwe teilte in einem Brief an Pärt den Tod des Freundes mit und fügte dem Schreiben Verse aus der Johannes-Offenbarung in einer estnischen Übersetzung bei, die Pärt diesem kurzen Vokalsatz zugrunde legte.
Uraufführung Am 18. Februar 2018 in der Capilla del Colegio Fonseca, Salamanca (Spanien) durch Ars Nova Copenhagen unter der Leitung von Paul Hillier.
Heinrich Isaac
Angeli, arcangeli
Entstehungszeit und Uraufführung unbekannt. Isaac verwendet bei dieser Motette die populäre Liedmelodie der Rondeau »Comme femme desconfortée« von Gilles Binchois (um 1400–1460) als Tenor.
Text Aus der Liturgie zu Allerheiligen. Uraufführung: nicht bekannt.
Zu Pärts Geburtstag – eine Würdigung
»Die Wahrheit ist sehr einfach«
Von Judith Werner
Arvo Pärts Musik entsteht aus der Stille heraus – einer Stille, in der der Mensch zu seinem Wesentlichen findet. »Man muss damit anfangen, nicht mit der Musik«, sagt Pärt. »Man muss die Seele reinigen, bis sie zu klingen beginnt.« Auch in seiner Musik konzentriert sich Pärt auf das Wesentliche und scheint dadurch auf spirituelle Urgründe zu deuten. Doch diese reduzierte Sprache steht am Ende einer langen Suche.
Auf der Suche
Arvo Pärt wird 1935 in der Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik geboren. Er lernt verschiedene Instrumente und studiert schließlich Komposition, zunächst bei Veljo Tormis, später bei Heino Eller. Nach dem Studium arbeitet er als Tonmeister beim Estnischen Rundfunk, schreibt für dessen Kinderensemble und später auch für ein Puppentheater. Pärt ist von Anfang an Avantgardist, er sucht seine eigene Sprache vor allem in den systematischen Kompositionsstrukturen der westlichen Strömungen: Zwölftonmusik, Serialismus und Collagetechniken dominieren die frühen Kompositionen und Entwicklungsrichtungen.
Das Jahr 1968 markiert für Pärt einen Wendepunkt: Die Uraufführung von Credo, seinem entschiedenen Bekenntnis zum christlichen Glauben in der säkularen Sowjetunion, wird zum Skandal. Kurz darauf brechen die offiziellen Kompositionsaufträge weg. Doch Credo bedeutete auch eine kreative Zäsur: Die Collagetechnik des Stücks, in dem Pärt Zitate aus Bachs Wohltemperiertem Klavier mit Dodekaphonie kombiniert, führt ihn in eine Sackgasse, in der er sich seiner Sprachlosigkeit bewusst wird.
Zusammen mit seiner Frau Nora zieht Pärt sich zu einer intensive Phase der Sinn- und Sprachsuche zurück, studiert Gregorianik und Alte Musik. Das Jahr 1968 markiert für Pärt einen Wendepunkt: Die Uraufführung von Credo, seinem entschiedenen Bekenntnis zum christlichen Glauben in der säkularen Sowjetunion, wird zum Skandal. Kurz darauf brechen die offiziellen Kompositionsaufträge weg. Doch Credo bedeutete auch eine kreative Zäsur: Die Collagetechnik des Stücks, in dem Pärt Zitate aus Bachs Wohltemperiertem Klavier mit Dodekaphonie kombiniert, führt ihn in eine Sackgasse, in der er sich seiner Sprachlosigkeit bewusst wird.
Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, schreibt er Musik für Dokumentationen, Spiel- und Animationsfilme. 1972 tritt er wenige Monate nach seiner Frau in die orthodoxe Kirche ein. »Wir wussten beide nicht, in welcher Richtung wir suchen sollten«, erinnert sie sich an diese Zeit. »Natur, Wald, Vögel, Glocken […] Für Arvo spielte die Möwe eine wichtige Rolle. Ihn interessierte die Linie aus der Kraft ihres Flugs. Woher haben sie so viel Kraft? Vielleicht steckt sie in diesen Linien.« Klar ist: Pärt sucht weiterhin nach einer Struktur, nach einem System, das einen kreativen Raum mehr öffnet, als ihn zu schließen. »Die erste Phase war sehr streng«, erläutert Nora Pärt. »Es war Arvo sehr wichtig, sich selbst ein System, Regeln und Disziplin zu geben. Mit der Zeit hatte Arvo mehr und mehr Freiheit.« Und sie fügt hinzu: »Ohne Disziplin ist Freiheit sehr gefährlich«, was Arvo noch bekräftigt: »Sie müssen zusammenarbeiten.« Das Ergebnis dieser Zeit ist Tintinnabuli, eine hochstrukturierte Kompositionstechnik, in der Pärt seinen Ausdrucksfreiraum findet. Das gleichzeitig zarte wie gewaltige Klavierstück Für Alina von 1976 wird sein erstes Werk in der neuen Technik und der Beginn einer eigenen Sprache.
Aufstrebende Jahre
In den beiden folgenden Jahren entstehen Fratres, Summa, Tabula rasa und Spiegel im Spiegel, vier seiner heute berühmtesten Werke. Den Auftrag zum Tabula rasa-Doppelkonzert gibt ihm 1977 ein befreundeter Dirigent, es soll in einem Konzert das Concerto grosso Nr. 1 von Alfred Schnittke ergänzen. Mit den Violinisten Gidon Kremer und Tatjana Grindenko sowie mit Schnittke am präparierten Klavier wird die Uraufführung in Tallinn zum vollen Erfolg und Tabula rasa zu Pärts internationalem Durchbruch.
Doch in der Sowjetunion kippt die Stimmung: Mit seiner geistlichen Musik und westlichen Orientierung entwickelt sich Pärt vom Ehrenkomponisten zur Persona non grata. 1980 wird ihm »empfohlen«, das Land zu verlassen. Die Familie emigriert erst nach Wien, ein Jahr später mit einem Stipendium nach Berlin – wo sie fast dreißig Jahre bleiben sollte. In dieser unruhigen Zeit schreibt der bislang nur in Kennerkreisen bekannte Pärt an einer Komposition, einem Auftrag vom Bayerischen Rundfunk: Unter dem damaligen Künstlerischen Leiter Gordon Kember kommt Passio Domini nostri Jesu Christi secundum Joannem 1982 in der Münchner Lukaskirche zur Uraufführung. Noch ruft Pärts Stil Irritation hervor, doch sieben Jahre später in Zürich werden die Menschen bereits Schlange stehen, um das Werk zu hören.
Welterfolge
Die folgenden Jahrzehnte halten viele Erfolge bereit: Pärt erhält Aufträge zum Stabat mater (1985/2008), Te Deum (1985) und Miserere (1989), zur Berliner Messe (1991), zu Silouan’s Song (1991), Litany (1994) und Dopo la vittoria (1997). Vollends begeistert von Tabula rasa gründet das Münchner Jazz-Label ECM extra für Pärt eine neue Reihe: 1984 erscheint die erste CD, bald folgen weitere Aufnahmen, in denen sich eine langjährige Zusammenarbeit mit dem Geiger Gidon Kremer sowie dem Chordirigenten und Musikwissenschaftler Paul Hillier und seinem Hilliard Ensemble entwickelt.
»Das sensibelste Musikinstrument ist die menschliche Seele, gleich danach kommt die menschliche Stimme«, schreibt Pärt, und so erklärt sich – wie bei vielen spirituell orientierten Komponisten – sein Fokus auf die Vokalmusik. Auch der BR-Chor begeistert sich für Pärts Werke, eine Verbindung, die sich in den letzten Jahren noch intensivierte: So erklingt Pärts Musik regelmäßig in den Konzerten und auf mehreren Alben. Sein 80. Geburtstag im Jahr 2015 wird mit der CD Te Deum – laut Pärt ein wahres »Geschenk« – und dem Sonderkonzert »Musica Baltica« gefeiert. Einen Höhepunkt bildet 2019 schließlich die gemeinsame Probenarbeit bei den Salzburger Festspielen.
Für sein außerordentliches musikalisches und theoretisches Schaffen hat Arvo Pärt diverse Ehrendoktorwürden, Preise und Orden erhalten. In demselben Jahr 2010, in dem Pärt nach Estland zurückkehrt, gründet seine Familie in einem Privathaus in den Wäldern von Laulasmaa bei Tallinn das Arvo Pärt Centre. Nach einem Architekturwettbewerb eröffnet es 2018 als ein Informations- und Musikzentrum, das auch das umfangreiche Privatarchiv des Komponisten beherbergt. Es enthält die vielen Skizzen und Gedanken, die Pärt im Laufe seines Lebens, aber vor allem in seiner suchenden Phase in den Siebzigern notiert hat.
Tintinnabuli
Pärt fand Antwort in Tintinnabuli (lat. tintinnabulum: Klingel, Schelle, Glöckchen), seiner kontrapunktischen und stark reduzierten Kompositionstechnik. Ihre Basisform bilden zwei Stimmen: eine Melodiestimme und davon abgeleitet die Tintinnabuli-Stimme. Die Melodiestimme bewegt sich schrittweise in einer Dur- oder Mollskala, sie steuert einen Zentralton an oder führt von ihm weg. Die Tintinnabuli-Stimme bildet einen Kontrapunkt, sie fügt jedem Ton der Melodiestimme einen entsprechenden Tintinnabuli-Ton hinzu. Als Material steht ihr allerdings nur ein einziger Dreiklang zur Verfügung, quasi drei Glöckchen, von denen jeweils eines angeschlagen werden kann. Die Regel dafür, welches, wird vorher definiert, etwa immer der unterhalb und nächstliegende Tintinnabuli-Ton.
Auch Ton- oder Phrasenlängen unterliegen bestimmten Regeln, sie verlängern sich beispielsweise pro Abschnitt um einen Schlag. Mit der Zeit arbeitet Pärt seine Technik weiter aus: Auch die Sprache, ihre Silben und Betonungen werden in das System integriert und definieren den Verlauf der Stimmen. Und mit den Jahren hat auch ein wenig Chromatik ihren passenden Platz in der Tintinnabulation gefunden.
Tintinnabuli ist ein komplexes Bezugssystem, das sich in einer starken Reduktion äußert. Es bringt eine Klarheit hervor, die zwar schlicht, jedoch niemals primitiv ist. »Die Wahrheit ist sehr einfach«, sagt Arvo Pärt. »Wenn Dinge einfach und klar sind, dann sind sie auch rein. Sie sind leer; da ist Raum für alles« – sozusagen Tabula rasa, die nackte Basis, aus der alles entstehen kann. »Wir waren alle etwas überrascht von dem leeren Notenbild«, erinnert sich Gidon Kremer an die Probe zur Uraufführung von Tabula rasa. »Es war alles so tonal und transparent. Da waren so wenige Noten.«
In ihrer Wirkung bedeutet Pärts Klarheit mal Ruhe, mal Strukturiertheit: eine oft scheinbare Gleichmäßigkeit oder Repetition, deren Muster beim Hören jedoch kaum erfasst werden können. Und wie niemand zuvor komponiert Pärt Pausen: Momente des Nachhalls, akustisch wie innerlich, das Eintreten in einen plötzlich eröffneten Raum. Tabula rasa etwa endet in Pausentakten, aber auch innerhalb des Stücks sind Momente der Stille und Nachwirkung komponiert.
Trotz allem oder auch deswegen lassen die Werke Pärts nicht den nötigen Spannungsbogen vermissen – sofern ihn die Musiker hervorbringen können. Denn gerade die Einfachheit stellt eine große Herausforderung dar. Jede Möglichkeit zum virtuosen Blendwerk ist genommen, nur eine ehrliche, sich völlig offenbarende Interpretation erweckt die Musik zum Leben. Oft ist höchste technische Souveränität gefordert, denn jede kleinste Imperfektion reißt den Hörer aus der bedeutungsvollen Spannung heraus. Insofern muss nicht nur der Komponist, sondern auch der Interpret mit einer ruhigen, einer »gereinigten Seele« beginnen, um der Musik gerecht werden zu können.
Pärts Einfachheit zwingt zu einer Akzeptanz der Reduktion. Wer an Musik rauschhafte Virtuosität und harmonische Komplexität liebt, der mag zunächst eher vor einer großen Leere als einem »Raum für alles« stehen. Doch seine Musik ist keine Leichtigkeitslüge – auch der »Raum für alles« muss erst einmal erarbeitet werden.
»1+1=1«
»Was ist das, dieses Eine, und wie finde ich meinen Weg zu ihm?« Diese zentrale Frage beantwortet sich Pärt mit den beiden Linien der Tintinnabulation. Ihre Verbindung schafft es, auf das Eine, das Absolute zu verweisen: »Eins und eins ergibt eins – nicht zwei. Das ist das Geheimnis dieser Technik«, sagt er.
Tintinnabuli ist mehr als nur eine Technik, sie ist Pärts Philosophie der sich vereinenden Dualismen. Und so stehen die freier gewählte Melodie sowie die systematisch abgeleitete Tintinnabuli-Stimme auch für sie: für Freiheit und Disziplin, für Expression und Struktur, für Subjektivität und Objektivität, für Klang und Stille, für Fortschritt und Bewährtes. Darüber hinaus repräsentiert die Tintinnabuli-Stimme auch das Umfangende, Vollkommene: »Eine Linie ist, wer wir sind, und die andere ist, wer uns hält und für uns sorgt. Manchmal sage ich – es ist kein Witz, wird aber auch als solcher aufgefasst –, dass die Melodielinie unsere Realität ist, unsere Sünden. Aber die andere Linie ist die Vergebung der Sünden.« Und so stehen die beiden Stimmen auch für Mensch und Gott, »für Alina« und ihre Mutter.
Pärt und die Menschen
Von allen zeitgenössischen Komponisten wird Arvo Pärt am häufigsten gespielt und vom breitesten Publikum geschätzt. Das mag nicht nur an der tonalen Zugänglichkeit seiner Musik liegen, sondern auch an ihrem spirituellen Anspruch. Pärts Musik klärt die Sicht, sie wirkt meditativ und zeigt das nackte Dasein, das uns mit allen und allem verbindet. Sie lässt das Publikum nicht nur hören, sondern empfinden, dass es da etwas gibt – ob man es Gott oder innere Ruhe nennen mag. Seine Musik trifft damit einen Nerv der Zeit, doch nicht nur unserer: So ist spirituelle Sehnsucht, die Suche nach dem Einen und dem Einenden, doch eine Menschheitskonstante.
»Auf der ,Reise zum Inneren‹ lassen wir alle sozialen, kulturellen, politischen und religiösen Kontexte hinter uns«, erklärt Pärt, und so erhält seine Musik auch eine soziale Dimension, die etwa in Adam’s Lament von 2010 offensichtlich wird: Der Urvater der Menschen beweint das Schicksal der Menschheit. Er ist Ausgangspunkt der Entfernung voneinander und gleichzeitig Erinnerung an diesen gemeinsamen Ausgangspunkt. Mit Adam’s Lament, komponiert für das Internationale Musikfestival in Istanbul, setzt Pärt ein einendes Zeichen in der Stadt, die für die Verbindung von Ost und West, der christlichen Kirchen und des Islams steht.
Pärt wird jedoch noch expliziter und bezieht auch aktiv Stellung als ein Mensch, der »durch die sowjetische Hölle gegangen« ist. 2006 schreibt er Für Lennart, ein Stück zur Beerdigung von Lennart Meri, der Estland in die Unabhängigkeit von der Sowjetunion führte. Nach dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja im Herbst 2006 erklärt er, dass alle Aufführungen seiner Werke der Saison zu ihrem Gedenken stattfinden sollen, und seine Vierte Symphonie widmet er 2008 dem damals bereits fünf Jahre inhaftierten Putin-Gegner Michail Chodorkowski.
Pärt, der Wesentliche
Oft wird Arvo Pärt als ein zurückgezogener Mensch beschrieben. Doch Pärt ist nicht anders als seine Musik: wesentlich. Er spricht wenig, aber sehr herzlich, er empfindet die Musik intensiv und arbeitet präzise. Die bei den gemeinsamen Proben mit dem BR-Chor entstandenen Videos geben auch Außenstehenden einen Einblick in seine Persönlichkeit: Anstatt einen gelungenen Abschnitt mit vielen Worten zu kommentieren, rutscht Pärt mit seinem Stuhl zu Howard Arman herüber, umarmt ihn und lächelt berührt …
Gesangstexte
Heinrich Isaac – Virgo prudentissima
I. Virgo prudentissima quae pia gaudia mundo attulit, ut sphaeras omnes transcendit et astra sub nitidis pedibus rudiis, et luce chorusca liquit et ordinibus iam circumsepta novenis ter tribus atque ierarchiis excepta. Supremi ante Dei faciem steterat, patrona reorum. Dicite qui colitis splendentia culmina Olimpi: spirituum proceres, archangeli et angeli et alme virtutesque throni vos principum et agmina sancta, vosque potestates, et tu dominatio coeli flammantes Cherubin, verbo Seraphinque creati, an vos laetitiae tantus perfuderit unquam sensus, ut aeterni Matrem vidisse, tonantis consessum. Coelo terraque marique potentem reginam, cuius nomen modo spiritus omnis et genus humanum merito veneratur adorat?
Cantus firmus Virgo prudentissima, quo progrederis, quasi aurora valde rutilans? Filia Sion.
II. Vos, Michael, Gabriel, Raphael testamur ad aures illius, ut castas fundetis vota precesque pro sacro imperio, pro caesare Maximiliano. Det virgo omnipotens hostes superare malignos; restituat populis pacem terrisque salutem. Hoc tibi devota carmen Georgius arte ordinat Augusti cantor rectorque capellae. Austriacae praesul regionis, sedulus omni, se in tua commendat studio pia gaudia mater. Praecipuum tamen est illi quo assumpta fuisti, quo tu pulchra ut luna micas electa es et ut sol.
Cantus firmus Tota formosa et suavis es: pulchra ut luna, electa ut sol.
Als die weiseste Jungfrau, die der Welt selige Freuden brachte, über alle Sphären hinausstieg und die Sterne unter ihren schimmernden Füßen im Strahlenglanz und in gleißendem Licht zurückließ, wurde sie von den neun Ständen umringt und in die neun Hierarchien aufgenommen. Die Beschützerin der Sünde stand vor dem Angesicht des höchsten Gottes. Sprecht, die ihr in der Herrlichkeit des höchsten Himmels wohnt: Erste unter den Seligen, Engel und Erzengel, holde Tugenden, ihr Throne von Fürsten, ihr, heilige Heerscharen, ihr Mächte, und ihr, himmlische Gefilde, flammende Cherubim, und ihr, Seraphim, die ihr aus dem Wort geschaffen, sagt, ob ihr je von einem solchen Gefühl der Freude erfüllt wurdet wie beim Anblick der Versammlung für die Mutter des ewigen, allmächtigen Gottes. Sie ist die mächtige Königin des Himmels, der Erde und des Meeres, deren Gottheit jeder Geist und jeder Mensch zu Recht preist und verehrt.
Cantus firmus Weiseste Jungfrau, wohin gehst du im prächtigen Glanz der Morgenröte?
Tochter Sion!
Euch, Michael, Gabriel und Raphael, rufen wir an, unsere Bitten und Gebete für das heilige Reich und für den Kaiser Maximilian in ihre keuschen Ohren zu ergießen. Möge die allmächtige Jungfrau bewirken, dass er seine bösen Feinde überwinden und den Frieden für die Völker und Wohlfahrt für das Land wiederherstellen möge. Mit hingebungsvoller Kunst probt Georgius, der kaiserliche Kantor und Kapellmeister, diesen Gesang für dich. Österreichs Beschützer, in allen Dingen beflissen, empfiehlt sich ergeben deiner sanften Freude, Mutter. Der höchste Platz jedoch gehört ihm, durch den du aufgefahren bist, durch den du strahlst, schön wie der Mond, und auserlesen bist wie die Sonne.
Cantus firmus Vollkommen schön bist du und lieblich: schön wie der Mond, auserlesen wie die Sonne.
Georg von Slatkonia (1456–1522),Cantus firmus: Magnificat-Antiphon für Maria Himmelfahrt
Arvo Pärt – Tribute to Caesar
Then went the Pharisees, and took counsel how they might entangle him in his talk. And they sent out unto him their disciples with the Herodians, saying: »Master, we know that thou art true, and teachest the way of God in truth, neither carest thou for any man: For thou regardest not the person of men. Tell us therefore, what thinkest thou? Is it lawful to give tribute unto Caesar, or not?« But Jesus perceived their wickedness, and said: »Why tempt ye me, ye hypocrites? Shew me the tribute of money.« And they brought unto him a penny. And he saith unto them: »Whose is this image and superscription?« They say unto him: »Caesar’s.« Then saith he unto them: »Render therefore unto Caesar the things which are Caesar’s, and unto God the things that are God’s.« When they heard these words, they marvelled and left him, and went their way.
Da gingen die Pharisäer hin und hielten Rat, dass sie ihn fingen in seinen Worten, und sandten zu ihm ihre Jünger samt den Anhängern des Herodes. Die sprachen: »Meister, wir wissen, dass du wahrhaftig bist und lehrst den Weg Gottes recht und fragst nach niemand; denn du achtest nicht das Ansehen der Menschen. Darum sage uns, was meinst du: Ist’s recht, dass man dem Kaiser Steuern zahlt, oder nicht?« Da nun Jesus ihre Bosheit merkte, sprach er: »Ihr Heuchler, was versucht ihr mich? Zeigt mir die Steuermünze!« Und sie reichten ihm einen Silbergroschen. Und er sprach zu ihnen: »Wessen Bild und Aufschrift ist das?« Sie sprachen zu ihm: »Des Kaisers.« Da sprach er zu ihnen: »So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!« Als sie das hörten, wunderten sie sich, ließen von ihm ab und gingen davon.
Matthäus-Evangelium 22,15–22
Arvo Pärt – The Deer’s Cry
Christ with me, Christ before me, Christ behind me, Christ in me, Christ beneath me, Christ above me, Christ on my right, Christ on my left, Christ when I lie down, Christ when I sit down, Christ in me, Christ when I arise, Christ in the heart of everyone who thinks of me, Christ in the mouth of everyone who speaks of me, Christ in every eye that sees me, Christ in every ear that hears me. Christ with me.
Christus sei mit mir, Christus vor mir, Christus hinter mir, Christus sei in mir, Christus sei unter mir, Christus sei über mir, Christus sei mir zur Rechten, Christus mir zur Linken, Christus sei, wo ich liege, Christus, wo ich sitze, Christus in mir, Christus, wo ich mich erhebe, Christus sei im Herzen eines jeden, der meiner gedenkt, Christus sei im Munde eines jeden, der von mir spricht, Christus sei in jedem Auge, das mich sieht, Christus sei in jedem Ohr, das mich hört. Christus sei mit mir.
Ausschnitt aus der Lorica des hl. Patrick (5. Jahrhundert)
Heinrich Isaac – Salve sancta parens
Salve sancta parens enixa puerpera regem qui caelum terramque regit in saecula saeculorum.
Sentient omnes tuum adiuvamen quicumque celebrant tuam commemorationem.Salve sancta parens …
Sei gegrüßt, du heilige Gebärererin, du hast den König geboren, der Himmel und Erde regiert in alle Ewigkeit.
Gewähre allen deine Hilfe und deinen Schutz, die deiner feierlich gedenken. Sei gegrüßt …
Introitus zum Fest der Jungfrau Maria
Arvo Pärt – Which Was the Son of …
And Jesus himself began to be about thirty years of age, being as was supposed the son of Joseph, which was the son of Heli, which was the son of Matthat, which was the son of Levi, … Melchi, … Janna, … Joseph, … Mattathias, … Amos, … Naum, … Esli, … Nagge, … Maath, … Mattathias, … Semei, … Joseph, … Juda, … Joanna, … Rhesa, … Zorobabel, … Salathiel, … Neri, … Melchi, … Addi, … Cosam, … Elmodam, … Er, … Jose, … Eliezer, … Jorim, … Matthat, … Levi, … Simeon, … Juda, … Joseph, … Jonan, … Eliakim, … Melea, … Menan, … Mattatha, … Nathan, … David, … Jesse, … Obed, … Booz, … Salmon, … Naasson, … Aminadab, … Aram, … Esrom, … Phares, … Juda, … Jacob, … Isaac, … Abraham, … Thara, … Nachor, … Saruch, … Ragau, … Phalec, … Heber, … Sala, … Cainan, … Arphaxad, … Sem, … Noe, … Lamech, … Mathusala, … Enoch, … Jared, … Maleleel, … Cainan, … Enos, … Seth, which was the son of Adam, which was the son of God.
Jesus war, als er zum ersten Mal öffentlich auftrat, etwa dreißig Jahre alt. Er galt als Sohn Josephs, welcher der Sohn war von Eli, welcher der Sohn war von Mattat, welcher der Sohn war von Levi, … Melchi, … Jannai, … Josef, … Mattitja, … Amos, … Nahum, … Hesli, … Naggai, … Mahat, … Mattitja, … Schimi, … Josech, … Joda, … Johanan, … Resa, … Serubbabel, … Schelatiël, … Neri, … Melchi, … Addi, … Kosam, … Elmadam, … Er, … Joschua, … Eliëser, … Jorim, … Mattat, … Levi, … Simeon, … Juda, … Josef, … Jonam, … Eljakim, … Melea, … Menna, … Mattata, … Natan, … David, … Isai, … Obed, … Boas, … Salmon, … Nachschon, … Amminadab, … Admin, … Arni, … Hezron, … Perez, … Juda, … Jakob, … Isaak, … Abraham, … Terach, … Nahor, … Serug, … Regu, … Peleg, … Eber, … Schelach, … Kenan, … Arpachschad, … Sem, … Noach, … Lamech, … Metuschelach, … Henoch, … Jered, … Mahalalel, … Kenan, … Enosch, … Set, welcher der Sohn war von Adam; der stammte von Gott.
Lukas-Evangelium 3,23–38
Arvo Pärt – Da pacem Domine
Da pacem Domine in diebus nostris quia non est alius qui pugnet pro nobis nisi tu Deus noster.Friedensgebet (6./7. Jahrhundert) |
Gib Frieden, Herr, in unseren Tagen, denn es ist niemand sonst, der für uns kämpfe, außer dir, unser Gott. |
Arvo Pärt – Ja ma kuulsin hääle … (And I Heard a Voice …)
Ja ma kuulsin hääle taevast ütlevat: »Kirjuta: Õndsad on surnud, kes Issandas surevad nüüdsest peale; tõesti, ütleb Vaim, nad hingavad oma vaevadest, sest nende teod lähevad nendega ühes!«Offenbarung des Johannes 14,13 |
Und ich hörte eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: »Schreibe: Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben von nun an. Ja, der Geist spricht, dass sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach.« |
Heinrich Isaac – Angeli, arcangeli
Angeli, archangeli, throni et dominationes, principatus et potestates, virtutes, Cherubim atque Seraphim, patriarchae et prophetae, sancti legis doctores, apostoli omnes: Christi martyres, sancti confessores, omnes virgines domini sanctique omnes intercedite pro nobis.
Te gloriosus apostolorum chorus, te prophetarum laudabilis numerus, te martyrum candidatus laudat exercitus, te omnes sancti et electi voce confitentur unanimes, beata trinitas unus Deus. Amen.
Engel und Erzengel, Throne und Herrschaften, Fürsten und Machthaber, Tugendhafte, Cherubim und Seraphim, Patriarchen und Propheten, heilige Lehrer des Gesetzes, all ihr Apostel, Märtyrer Christi, heilige Gläubige, alle Jungfrauen des Herren und alle Heilige, bittet für uns!
Dich lobt der ruhmreiche Chor der Apostel, loben die vielen Propheten, das Heer der erwählten Märtyrer; einstimmig bekennen sich alle Heiligen und Auserwählten zu dir, einziger Gott, in deiner gesegneten Dreieinigkeit. Amen.
Aus der Liturgie zu Allerheiligen