Bedenke, meine Seele
Konzerteinführung im Gartensaal: 19 Uhr
Zu Gast: Klaas Stok, Moderation: Antje Dörfner
Programm
- Primus psalmus poenitentialis
»Domine, ne in furore – Miserere mei«, LV 794 - Secundus psalmus poenitentialis
»Beati quorum remissae sunt«, LV 795 - Septimus psalmus poenitentialis
»Domine, exaudi orationem meam«, LV 800
I. »Adam saß weinend vor den Toren des Paradieses«
II. »Nimm mich auf, o Wüste«
III. »Darum lebe ich in Armut«
IV. »Meine Seele, warum verharrst du in Gottlosigkeit?«
V. »O verdammte und armselige Menschengestalt«
VI. »Als sie das Schiff anlegen sahen«
VII. »Meine Seele, warum fürchtest du dich nicht?«
VIII. »Wenn du die unendliche Trauer bezwingen willst«
IX. »Rückblickend auf mein tristes Leben«
X. »Begegnet euch, christliches Volk!«
XI. »Ganz nackt bin ich in dieses elende Leben gelangt«
XII. (Vokalise)
Mitwirkende
Den wohl großartigsten Bußpsalmen-Zyklus der Musikgeschichte schuf Orlando di Lasso Ende der 1550er-Jahre als Tenorist in der Münchner Hofmusik, deren Kapellmeister er alsbald werden sollte. Als »Musica riservata« war er zunächst ausschließlich für seinen Fürsten gedacht, der die Bußpsalmen in einen mit Miniaturen von Hans Mielich bebilderten Prachtkodex schreiben ließ – und ihn dann wegsperrte. Erst mit dem Druck von 1584 gingen die Bußpsalmen hinaus in die Welt und mehrten den Ruhm ihres Schöpfers.
Alfred Schnittke, der russische Polystilist mit wolgadeutschen Wurzeln, legte seinem 1988 zur 1000-Jahr-Feier der Christianisierung Russlands entstandenen A-cappella-Zyklus Verse eines namenlosen russischen Geistlichen aus dem 16. Jahrhundert zugrunde. Der prangerte die Missstände seiner Zeit an – ein Plädoyer, das heute aktueller denn je scheint, und das in Schnittkes musikalischem Gewand mit seinen vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten zusätzliche Strahlkraft erhält.
Werkeinführungen
Ein glorreicher Sonderweg
Lassos Vertonung der »Bußpsalmen« für Herzog Albrecht V.
Von Christian Thomas Leitmeir
Orlando di Lasso: * 1532 in Mons (Grafschaft Hennegau, heute Belgien), † 14. Juni 1594 in München. Bußpsalmen (»Psalmi Davidis poenitentiales«) zu zwei bis sechs Stimmen: Entstehungszeit um 1560, Erstdruck: 1584 bei Adam Berg in München
Im 16. Jahrhundert oblag es Komponisten für gewöhnlich, Einzelwerke überschaubarer Länge für Gottesdienste oder andere Gelegenheiten zu verfassen. Lasso machte in diesem Fall keine Ausnahme, wenn auch die Gattungsvielfalt und Größenordnung seines Œuvres ihresgleichen sucht. Mit weit über 500 Motetten (im Vergleich zu knapp 300 seines Zeitgenossen Palestrina), 175 italienischen Madrigalen, 150 französischen Chansons, 90 deutschen Liedern, 74 Messordinarien und 110 Magnificat-Vertonungen, ganz abgesehen von einem reichen Korpus an liturgischer Gebrauchsmusik, nimmt er zu Recht den Rang eines internationalen, von Zeitgenossen als »princeps musicae« gefeierten Superstars ein.
In einem Punkt freilich unterscheidet sich Lasso grundsätzlich von seinen Kollegen. Wie kein anderer verspürte er den Drang, die kleinen Formen hinter sich zu lassen und einen großen Wurf zu wagen. Die Anstellungssicherheit am Münchner Hof, dessen Kapelle Lasso seit 1556 angehörte und die er (mit der endgültigen Pensionierung seines Vorgängers Ludwig Daser) seit 1563 auch leitete, boten ihm Freiraum zu ausgedehnten Zyklen, von den chromatisch gesetzten »Prophetiae Sibyllarum« der Anfangszeit bis hin zu den erst posthum erschienenen »Lagrime di San Pietro«, dem Opus ultimum des Meisters. Die Vertonung der sieben »Bußpsalmen« samt einer abschließenden Trias von »Laudate-Psalmen« stellt sogar diese Zyklen noch in den Schatten. Mit einem Umfang von nahezu 3000 Takten und einer geschätzten Gesamtaufführungsdauer von etwa zwei Stunden ragt dieser Koloss in luftige Höhen, die erst wieder von den abendfüllenden Opern des Folgejahrhunderts erreicht werden sollten.
Was trieb Lasso zu einem derart monumentalen Projekt? Den Anstoß erhielt er gegen 1558 von seinem Dienstherrn, Herzog Albrecht V. von Bayern. Schon bald nach seinem Regierungsantritt im März 1550 verfolgte Albrecht den hochstrebenden Plan, sein Herzogtum wenn schon nicht politisch, doch wenigstens symbolisch auf Augenhöhe mit den bedeutendsten Herrschern Europas zu heben. Kunst und Kultur waren prädestiniert dazu, diesen Anspruch nach außen wie innen hin zu untermauern. Albrecht verlieh seiner Residenz architektonisch ein neues Gesicht, indem er die Neuveste um einen repräsentativen Prunksaal, den Georgssaal, erweiterte. Seine Schatz- und Kunstkammer, die ursprünglich im Marstallgebäude (dem heutigen Landesamt für Denkmalpflege) untergebracht waren, wurden nach Erwerb einer bedeutenden Antikensammlung ins neu erbaute Antiquarium überführt, den seinerzeit größten Profanbau nördlich der Alpen. Ankäufe der Büchersammlungen von Gelehrten wie Johann Albrecht Widmanstetter und Hans Jakob Fugger legten den Grundstock zu einer renommierten Hofbibliothek, aus der die Bayerische Staatsbibliothek hervorging. Die Hofkapelle erhielt durch zahlreiche Neuverpflichtungen, darunter auch Orlando di Lasso, und enge Kontakte mit internationalen Berühmtheiten wie Cipriano de Rore oder Andrea Gabrieli neuen Aufschwung; unter Lassos Ägide avancierte sie zu den europäischen Spitzenensembles. Eine derart brachiale Kulturpolitik erforderte freilich erhebliche Investitionen. Immer wieder stand Albrechts verschwenderische Haushaltung im Kreuzfeuer der Kritik. Dies brachte ihn aber nicht davon ab, zusätzliche Gelder durch erhöhte Abgaben und ein rasant wachsendes Schuldenkonto von einer halben Million Gulden dafür zu beschaffen.
Als Albrecht V. Lasso mit der Vertonung der »Bußpsalmen« beauftragte, stand dies im Zeichen eines »multimedialen« Gesamtkunstwerks, das alle zuvor entstandenen Prachtkodizes in den Schatten stellte. Lassos Kompositionen wurden nicht nur, wie bei der liturgischen Aufführung von mehrstimmiger Musik üblich, in schweren Folianten so niedergeschrieben, dass alle Chorsänger vom selben Buchaufschlag musizieren konnten. Die Noten waren obendrein auf jeder einzelnen Seite von unzähligen bildlichen und ornamentalen Darstellungen umgeben, die der Münchner Maler Hans Mielich und seine Werkstatt schufen. Weil ein einziges Chorbuch die Fülle der Musik und Bilder nicht aufnehmen konnte, wurden sie auf zwei, von einer Person kaum anzuhebende Riesenfolianten verteilt.
Die Sujets der einzelnen Bilder verzeichnet ein weiteres Paar von Kommentarbänden (»Declarationes«), für das wenigstens in der Anfangsphase der Humanist Samuel Quiccheberg verantwortlich zeichnete. Die vier Bücher wurden aufs Kostbarste mit Schmiedearbeiten und Emaillierungen versehen. Der materielle Wert der »Bußpsalmen«-Kodizes wurde von ihrer Einmaligkeit noch überboten: Nie zuvor hatten ein Komponist, ein bildender Künstler und ein humanistischer Literat eine Lesart der Bußpsalmen geschaffen und dabei ihre künstlerischen Medien von Musik, Bild und Text derart intensiv zu einer neuen, höheren Einheit verschmolzen. Dass sich dieses multimediale Werk einzig und allein in den vier Prachtbänden manifestierte, unterstrich Albrecht V. mit seinem Verbot, den Inhalt der Bände außerhalb des Hofes zu verbreiten. Lassos Vertonungen erschienen erst fünf Jahre nach dem Tod des Herzogs erstmals im Druck. Als Kleinod der herzöglichen Schatz- und Wunderkammer erregte es umso mehr die Bewunderung der kunstliebenden Welt. Besucher am Münchner Hof konnten sich glücklich schätzen, wenn ihnen der Herzog Einblick in die Bände gewährte und gar Ausschnitte daraus von seiner Hofkapelle vorsingen ließ.
Lange Zeit wurde von einer sukzessiven Entstehung der »Bußpsalmen«-Kodizes ausgegangen. Demnach hätte Lasso 1558 zuerst, völlig unabhängig von seinen Mitstreitern, die Psalmtexte vertont. Dann tüftelten Quiccheberg und andere das ikonographische Programm aus, bevor durch Notenschreiber Jean Pollet und den Illuminator Hans Mielich Musik und Bild im Buch zusammengeführt wurden. Bei eingehender Untersuchung der Bände und der darin enthaltenen Musik offenbart sich aber, dass die einzelnen Akteure ihre Arbeit sorgfältig aufeinander abstimmten. Von seiner üblichen Kompositionspraxis abweichend, vertonte Lasso nicht »am Text entlang«, indem er wichtige Passagen oder Stichworte in musikalische Gesten und Figuren umsetzte. Solche Formen der Wortausdeutung, für die Lasso berühmt, wenn nicht gar (wegen seines bisweilen frechen Humors) berüchtigt war, findet man in den »Bußpsalmen« kaum. Entgegen seiner Neigung erlegte sich Lasso vielmehr eine Schreibart auf, die den Textvortrag ohne Umschweife vorantrieb – ein Gestus, der erst wieder in den jesuitisch inspirierten Werken der 1580er Jahre in den Vordergrund rückte. Im Fall der »Bußpsalmen« war das deklamatorische Verfahren allerdings anders motiviert: Um ausreichend Raum für die bildliche Ausgestaltung zu lassen, mühte sich Lasso peinlichst darum, seine Vertonungen in den vom Layout vorgegebenen Rahmen einzupassen. Das war leichter gesagt als getan: Denn in ihrer lateinischen Übersetzung wiesen die Verse des Psalters samt der abschließenden Doxologie (»Gloria Patri«) eine erheblich divergierende Länge auf. Im ersten »Bußpsalm« allein reicht das Spektrum von 8 (Vers 3b) bis 21 Silben (Vers 10a). Lassos Vertonung dagegen orientierte sich an einer Richtschnur von etwa 13 Takten (mit einer Standardabweichung von 2 Takten) pro Halbvers (sofern alle fünf Stimmen am Geschehen beteiligt sind). Obwohl diese Vorgabe eigentlich nur für das Layout relevant war, stellt sich auch beim Hören ein ebenmäßiger Eindruck ein, weil die einzelnen Psalmverse in Vielfachen von 13 Takten dimensioniert sind.
Wenn Lasso sich schon bei textausdeutenden Figuren zurückhalten musste, so versuchte er wenigstens, dem Zyklus eine einheitliche musikalische Gestalt zu verleihen. Den sieben »Bußpsalmen« fügte er eine bereits existierende Psalmmotette hinzu, die aus den Laudate-Psalmen 148 und 150 zusammengesetzt war. Weil diese im Achten Kirchenton gehalten war, lag es nahe, dem gesamten Zyklus einen Aufstieg durch die acht Modi des althergebrachten kirchlichen Tonsystems zu unterlegen. Dies bot einen festen Rahmen, um dem Auseinanderfallen des Werks in eine schier endlose Reihung für sich stehender Psalmverse entgegenzuwirken.
Darüber hinaus schuf Lasso ein weitverzweigtes Netzwerk musikalischer Motive, die in Kombination mit bestimmten Schlüsselworten auftreten. Wann immer die Bitte »Miserere mei« formuliert ist, evozierte Lasso – im ersten »Bußpsalm« sogar durch eine schlitzohrige Beinahe-Vermeidung – das berühmte Ostinato von Josquins Vertonung des vierten »Bußpsalms« mit seiner einprägsamen halbtönigen Wendung. Die den gesamten Zyklus durchziehende Anrufung »Domine« (»Herr«) setzt Lasso ebenfalls durch einen prägnanten musikalischen Gestus um: Bei allen 27 Erwähnungen erklingt der für den Hörer gut wiedererkennbare punktierte Rhythmus auf gleichbleibender Tonhöhe, der vor Lasso erstaunlich selten zur Anwendung kam. In geradezu leitmotivischer Weise stiftet die textgebundene Wiederkehr solcher musikalischer Gestalten einen tieferen Zusammenhang über die einzelnen Verse und sogar Psalmen hinweg.
Somit war es nicht nur eine lästige Bußarbeit, wenn Lasso – in einem in der Musikgeschichte bis dahin einzigartigen Vorgang – seine »Bußpsalmen« im Hinblick auf eine spezifische Präsentationsform in einem konkreten Buch zuschneiden musste. Die äußerlichen Zwänge spornten ihn vielmehr dazu an, innovative kompositorische Bahnen zu beschreiten. Wären Lassos »Bußpsalmen« nicht Herzog Albrecht V. vorbehalten gewesen, hätten sie gewiss Schule gemacht.
Lasso und die Musica reservata
Kunst für Kenner und Eingeweihte
Als Musica reservata wird für gewöhnlich experimentelle Musik des 16. Jahrhunderts bezeichnet, die auf einen exklusiven Kreis von Hörern beschränkt war. Etliche von Lassos frühen Motetten wie »Alma Nemes« und Werke der Münchner Zeit, darunter die »Prophetiae Sibyllarum« oder die weniger bekannte »Missa cantorum«, richteten sich mit ihrer esoterischen Chromatik an Musikexperten. Die für Albrecht V. geschriebenen Bußpsalmen hingegen mögen als Musica reservata gelten, weil der Herzog sich das alleinige Besitz- und Nutzungsrecht vorbehalten hatte.
Dieser landläufigen Doppelbedeutung von Musica reservata stellen die Erläuterungen (Declarationes) zu den Münchner »Bußpsalmen«-Kodizes eine überraschende Alternativdefinition entgegen. Dort schrieb Samuel Quiccheberg mit ausdrücklichem Bezug auf Lasso: »Er drückte sie [die Bußpsalmen] so passend mit trauernder und klagender Stimme aus, wobei er, wo nötig, seinen Satz an die Dinge und Worte anpasste, die Kraft der einzelnen Affekte ausdrückte und die Sache, als sei sie geschehen, vor Augen führte, so dass man nicht wissen kann, ob die Süße der Affekte die trauernden Stimmen mehr schmückten als die trauernden Stimmen die Süße der Affekte. Diese Art der Musik heißt MUSICA RESERVATA. Darin hat Orlando auf wunderbare Weise […] sein herausragendes Genie der Nachwelt kundgetan.«
Es ist sonderbar, dass Quiccheberg Musica reservata als musikalische Wortausdeutung bestimmt, wenn dieses Stilmittel ausgerechnet in Lassos Vertonung der »Bußpsalmen« in den Hintergrund gedrängt wird. Womöglich hatte Quiccheberg die kompositorische Sonderstellung der »Bußpsalmen« nicht verstanden. Oder aber er bezog sich auf die zwar seltenen, aber dafür umso wirkungsvolleren Stellen, an denen Wort und Musik im Zusammenspiel mit den Bildern Mielichs eine besonders augen- und ohrenfällige Beziehung eingehen.
Im sechsten Vers des ersten »Bußpsalms« (Psalm 6) deuten die Bilder das Psalmwort »Laboravi in gemitu meo« (»Ich bin erschöpft vom Seufzen«) als menschliche Pein, die Gott über das Menschengeschlecht nach dem Sündenfall verhängte. Am rechten Rand des mittleren Feldes etwa sieht man, wie sich Adam bei der Feldarbeit plagt und wie Eva unter Schmerzen Kinder gebiert (»labores« bezieht sich auch auf Geburtswehen), unter denen es obendrein zu Mord- und Totschlag kommt. Lasso wählt für diesen Passus eine der späteren barocken Lamentoquart vorausgreifende fallende melodische Linie. Deren unerbittliche Wiederholung bringt das Stöhnen unter der andauernden Plackerei so sinnfällig zum Ausdruck, dass es jeder Exklusivität entsagt.