Das Licht der Öllampe

2. Chor-Abonnementkonzert
Samstag
23
November 2019
20.00 Uhr
München, Prinzregententheater

Konzerteinführung im Gartensaal: 19 Uhr
mit Rupert Huber, Moderation: Johann Jahn

Chor-Abonnement

Programm

Hildegard von Bingen
O nobilissima viriditas
Choral-Responsorium
György Ligeti
Lux aeterna
für Chor a cappella
Lichtvers aus dem Koran, Gott ist das Licht des Himmels und der Erde
Rezitation in arabischer Sprache
Rupert Huber
Das Licht der Öllampe
Eine musikalische Installation für gemischten Chor und Instrumente

 

Uraufführung, Kompositionsauftrag des Chores des Bayerischen Rundfunks

I. Der Atem der Dunkelheit
II. Die Resonanz des Lichts
III. Im Traum

Mitwirkende

Hassan Sadeghi Rezitator
Nora Thiele Percussion
Chor des Bayerischen Rundfunks
Rupert Huber Leitung

Chorkonzerte mit dem österreichischen Dirigenten Rupert Huber haben immer das gewisse Etwas. Mit seinen ungewöhnlichen Programmkonzepten entführt er sein Publikum in entfernte Weltgegenden und lässt es teilhaben an den meditativen und transzendenten Dimensionen der Musik.

Licht – in seiner Immaterialität seit jeher ein Faszinosum – bildet den gedanklichen Ausgangspunkt für unterschiedliche Annäherungen in einem Konzert: Ligetis epochale Sphärenklänge, die Rezitation des Lichtverses aus dem Koran sowie Rupert Hubers eigene kompositorische Auseinandersetzung mit dem Licht der Öllampe als christliches und islamisches Symbol für die Allgegenwart des Göttlichen.

Zur Einstimmung erklingt Weisheit des Mittelalters von Hildegard von Bingen als zeitenüberdauernder Choralgesang.


 

Werkeinführungen

Leuchtende Morgenröte und brennende Sonne
Zu Hildegard von Bingens Responsorium »O nobilissima viriditas«. Von Florian Heurich

Hildegard von Bingen
* 1098 in Bermersheim bei Alzey
† 17. September 1179 im Kloster Rupertsberg bei Bingen am Rhein

Symphonia armoniae celestium revelationum
Entstehungszeit zwischen 1136 und 1179; die Gesänge

sind zum Teil mit Neumen (mittelalterlichen Noten) versehen
und in zwei großen Quellen, der Dendermonde-Handschrift
im »Riesenkodex« der Hessischen Landesbibliothek, überliefert.

In einer von Männern dominierten mittelalterlichen Welt war Hildegard von Bingen eine Ausnahmeerscheinung. Die theologische Gelehrte und Mystikerin, die ihre Visionen in mehreren Abhandlungen niederschrieb, wirkte als Ordensfrau und Klostergründerin, als Wissenschaftlerin, Ärztin, Biologin, Dichterin, Dramaturgin und Musikerin. Trotz ihres von Geburt an eher zarten und gebrechlichen Wesens ging sie einen für ihre Zeit unkonventionellen und selbstbestimmten Weg, stellte das kirchliche und politische Regelwerk des 12. Jahrhunderts, in dem sie lebte, in Frage und zeigte neue Denkansätze auf.

Hildegard wurde um das Jahr 1098 als zehntes Kind des Edelfreien Hildebert von Bermersheim und seiner Frau Mechthild in Bermersheim bei Alzey geboren. Wie es Tradition war für Kinder nach dem Erstgeborenen, sollte sie ihr Leben der Kirche widmen und wurde in klösterliche Obhut gegeben. Im Benediktinerkloster auf dem Disibodenberg bekam sie eine umfassende Bildung, weil die Klöster dieses Ordens Zentren der Wissenschaft und der Künste waren. Hier wurde der Grundstock für ihr weiteres Wirken gelegt. Sie stieg zur geistlichen Mutter eines sich im Aufbau befindenden Frauenklosters auf und gründete später ihr eigenes Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen, von dem aus sie ihr Gedankengut verbreitete. Durch ihr selbstbewusstes Auftreten, ihre freie Art zu denken und ihre neuartigen theologischen Impulse erlangte Hildegard große Berühmtheit und wurde für viele ihrer Zeitgenossen zur Wegweiserin. Die Menschen kamen zu ihr oder schrieben ihr, um Rat und Beistand zu erbitten, darunter auch zahlreiche Persönlichkeiten aus Adel, Kirche und Politik. So führte sie etwa mit Kaiser Friedrich I. Barbarossa einen intensiven Briefwechsel.

Gerade in der Musik sah Hildegard eine besondere Gabe Gottes, um den Heilsweg der Menschen zu unterstützen. Allein in der Musik könne der paradiesische Einklang zur unmittelbar erfahrbaren Realität auf Erden werden. In der Gesamtheit der Schöpfung offenbarte sich für Hildegard der Geist Gottes, und sie beschrieb das Zusammenklingen von allem Belebten und Unbelebten als eine große »Symphonia«.

Daran anknüpfend nannte sie auch die Sammlung ihrer liturgischen Gesänge, in der rund siebzig Antiphonen, Responsorien und Hymnen zusammengefasst sind, »Symphonia armoniae celestium revelationum«, also: Wohlklang der Harmonie himmlischer Offenbarungen. Hier zeigt sich Hildegard vor allem als ausdrucksstarke Lyrikerin, die ihre religiösen Botschaften in vielschichtige poetische Bilder und eine suggestive Sprache fasst. Durch die Melodien, die sie den Texten unterlegt, tritt eine emotionale Komponente hinzu, welche die liturgischen Verse für Ausführende wie auch für Zuhörende besonders eindringlich werden lässt.

Hildegard gliederte die »Symphonia armoniae« streng hierarchisch. Sie begann mit Gesängen für Gottvater und Sohn sowie für die Jungfrau Maria und den heiligen Geist. Danach schrieb sie Lieder für Patriarchen, Apostel, Propheten, Heilige und Schutzpatrone, und am Ende für die Kirche im Allgemeinen. Auch Gesänge für Mitmenschen finden sich in dem Zyklus, nämlich für »Jungfrauen, Witwen und Unschuldige«. Aus diesem Teil stammt das Responsorium »O nobilissima viriditas«.

Die Viriditas, die Grünkraft, ist ein zentrales Symbol in Hildegards Geisteswelt, das in ihrer Lyrik häufig auftaucht. Das frische, grüne Leben der Natur sei Ausdruck des Göttlichen mit heilender Wirkung. Hildegard verwendet die Viriditas in diesem Gesang als Symbol für Jungfräulichkeit (Virginitas; die klangliche Ähnlichkeit der beiden Worte ist kein Zufall), und beschreibt sie als unberührt und fruchtbar zugleich. Die Quelle all dessen ist die Sonne als Manifestation göttlicher Kraft, und genau wie diese verströmt die Viriditas ein Leuchten. Die Lichtmetapher bestimmt auch den letzten Vers des Gesangs, in dem die jungfräuliche Grünkraft mit dem zarten Glanz der Morgenröte ebenso wie mit dem hellen Schein des Sonnenlichts verglichen wird.

In der Salutatio, der einleitenden Phrase dieses einstimmigen Responsoriums, beginnen und enden die auf zentrale Worte gesungenen Melismen immer auf derselben Tonhöhe. Im weiteren Verlauf wird etwa auch das Wort »candida« (glänzend, rein, strahlend) durch ein langes Melisma hervorgehoben, das zudem den höchsten Ton des Gesangs aufweist. Dem hellen Schein der Jungfrauen wird hier eine ganz besondere Bedeutung verliehen, er wird sozusagen ins Göttliche erhöht.

Auch im Abschnitt »tu circumdata es amplexibus divinorum mysteriorum« versinnbildlichen weit schweifende Melismen, dass die Jungfräulichkeit symbolisierende Viriditas vom Göttlichen umgeben ist. Die Nähe zum Göttlichen ist auch Thema des Versus »Tu rubes« und kommt durch den Vergleich der Viriditas mit der Morgenröte und dem Sonnenlicht zum Ausdruck, wobei das Wort »aurora« wiederum durch ein langes Melisma akzentuiert wird.

Aufs Wesentliche konzentriert spiegelt das Responsorium »O nobilissima viriditas« den reichhaltigen Kosmos der Hildegard von Bingen wider, in dem sie auf eine für ihre Epoche durchaus unkonventionelle Weise das Irdische mit dem Universellen der göttlichen Schöpfung verbindet.

Gesangstext

O nobilissima viriditas, quae radicas in sole,
et quae in candida serenitate luces in rota,
quam nulla terrena excellentia comprehendit,
tu circumdata es amplexibus divinorum mysteriorum.
Tu rubes ut aurora et ardes ut solis flamma.

O edelstes jugendfrisches Grün, wie du in der Sonne Wurzeln schlägst,
und wie du in blendender Heiterkeit rundum leuchtest,
das begreift kein noch so bedeutender Sterblicher,
du bist umschlungen von den Umarmungen der göttlichen Geheimnisse.
Du errötest wie das Morgenlicht und brennst wie die Flamme der Sonne.
Hildegard von Bingen

Das Ende der Musik
Vokale Sphärenklänge von György Ligeti. Von Wolfgang Stähr

György Ligeti
* 28. Mai 1923 in Diciosântmartin
(heute: Târnăveni, Rumänien)
† 12. Juni 2006 in Wien

Lux aeterna
Entstehungszeit: Juli/August 1966
Widmung: »der Stuttgarter Schola Cantorum
und ihrem Leiter Clytus Gottwald«
Uraufführung: 2. November 1966 mit der Schola
Cantorum unter der Leitung von Clytus Gottwald in Stuttgart

»Zwar habe ich eine Abneigung gegen alles ausgesprochen Illustrative und Programmatische, doch bedeutet das nicht, dass ich mich gegen von Musik hervorgerufene Assoziationen wehre«, stellte György Ligeti in einem Aufsatz aus dem Jahr 1960 klar. »Im Gegenteil: Klänge und musikalische Kontexte erwecken in mir stets die Empfindung von Farbe, Konsistenz und sichtbarer wie auch tastbarer Form. Und umgekehrt: Farbe, Form, materielle Beschaffenheit, ja sogar abstrakte Begriffe verknüpfen sich in mir unwillkürlich mit klanglichen Vorstellungen.« Dem ungarischen Emigranten, der seinerzeit als ein Neuling und Außenseiter den Tempelbezirk der westlichen Avantgarde betrat, gelang mit seinen überaus assoziationsreichen Orchesterwerken »Apparitions« und »Atmosphères« der internationale Durchbruch, und dies nicht zuletzt, weil er in seiner Musik das hermetische Material- und Strukturdenken der reinen Lehre durchbrach: in seiner »nicht-puristischen Musik«, wie er sie ausdrücklich nannte. Die schöpferische Veranlagung zur Synästhesie, »das unwillkürliche Umsetzen optischer und taktiler Empfindungen in akustische«, erklärt gewiss den ursprünglichen Reiz, den gerade der lateinische Kommunionsgesang »Lux aeterna« auf Ligetis geschärfte Sinne ausüben musste, auch wenn das »ewige Licht« streng genommen der menschlichen Vorstellungskraft und Sinneswahrnehmung unsichtbar bleibt. Aber sagte Ligeti nicht, dass selbst »abstrakte Begriffe« seine musikalische Fantasie beflügeln könnten?

1965 wurde in Stockholm Ligetis »Requiem« uraufgeführt, seine Himmel und Hölle in Bewegung setzende Version der katholischen Missa pro defunctis, die sämtliche Schrecken des Jüngsten Tages zu entfesseln scheint. Höllenbilder von Hieronymus Bosch und Pieter Brueghel, beklemmende Ideen von Verfolgung, Panik und Hysterie spukten ihm durch den Kopf, als er an der Komposition des »Dies irae« arbeitete, der apokalyptischen Vision des Jüngsten Gerichts. Nach und neben den dramatischen Totenmessen von Berlioz und Verdi zählt Ligetis »Requiem« zweifellos zu den aufwühlendsten musikalischen Beschwörungen des Weltuntergangs. Aber Ligeti vertonte nur drei Teile der katholischen Liturgie: den Introitus »Requiem aeternam«, das Kyrie und die Sequenz »Dies irae«. Mit den Worten des »Lacrimosa« als Epilog hielt er das Werk für eine »abgeschlossene, in sich selbst ruhende Konstruktion«. Als er jedoch bald danach einen Kompositionsauftrag der Schola Cantorum Stuttgart und ihres Gründers Clytus Gottwald erhielt, wählte Ligeti die noch unvertonte Communio der Totenmesse und schuf im Sommer 1966 als selbständigen Nachtrag zum »Requiem« das »Lux aeterna« für sechzehnstimmigen gemischten Chor a cappella.

Doch wurde György Ligeti deshalb nicht zum Kirchenkomponisten. Weder das »Requiem« noch »Lux aeterna« dienen der liturgischen Bestimmung des römischen Ritus. »Ich bin kein Katholik, meine Herkunft ist jüdisch, aber ich gehöre keiner Glaubensgemeinschaft an«, stellte Ligeti nüchtern fest. »Ich entschied mich für den Text des Requiems wegen seiner Darstellung der Angst, der Todesfurcht, des Weltenendes.« Unter diesen Vorzeichen hätte er die Communio durchaus als ängstliches Gebet der Überlebenden, als bange Fürbitte der Sterblichen auslegen können, in radikal irdischer Perspektive. Aber die synästhetische Verlockung, das »ewige Licht« zum Klingen zu bringen, die Töne leuchten zu lassen, erwies sich als unwiderstehlich.

Ligeti unterwirft die sechzehn Stimmen des Chores einer strengen kanonischen Formdisziplin und fügt sie zu einer taktgenau abgezählten und annähernd spiegelsymmetrisch geordneten Komposition: Die anfängliche Vortragsbezeichnung »wie aus der Ferne« könnte auch als historischer Abglanz der klassischen Vokalpolyphonie, als Nachhall aus ferner Vergangenheit gedeutet werden. Durch die bewusste Verunklarung (um nicht zu sagen: Verklärung) des Satzes, die »stets sehr weich einsetzenden« Stimmen, die unendlich langsamen, ununterbrochenen harmonischen Verschiebungen, die kontinuierlichen Aufhellungen und Eintrübungen des Klangbilds ruft die Musik den erwünschten Eindruck »totaler Fluidität« hervor. Die Assoziationen, die sich mit und ohne Kenntnis der lateinischen Worte beim Hörer einstellen dürften (und einstellen sollen), bewegen sich unweigerlich im Vorstellungskreis der Helligkeit und Verdunkelung, des strömenden, flutenden Lichtes, des Schwebens, der Schwerelosigkeit, der sphärischen Klänge »wie aus der Ferne« oder »nicht von dieser Welt«, der Entrücktheit, des Verlöschens.
»Morendo – niente« (»ersterbend – nichts«) lauten die letzten Anweisungen für die vier Altstimmen, ehe mit einem siebentaktigen Tacet das Werk in der gebannten Stille verklingt oder, besser gesagt, verstummt: »requiem aeternam«.

Musik, die Zeit-Kunst par excellence, vermag die Ewigkeit, die »Zeit ohne Zeit«, nur paradox und auf dem Weg der Selbstverleugnung anzudeuten, durch Tempo und Dynamik an der unteren Wahrnehmungsgrenze. Oder, wie Ligeti sagt: durch polyphone Strukturen ohne Höhepunkt, »ein ständiges Strömen«. Beim Komponieren gehe es wie in der wissenschaftlichen Forschung darum, einer Fragestellung systematisch nachzuspüren, bis man zu einer (vorläufigen) Lösung gelangt sei. In seinem Chorwerk »Lux aeterna« suchte Ligeti eine innermusikalische Lösung für eine außermusikalische Frage, die Frage nach den letzten Dingen. Er gab eine künstlerische Antwort, die nicht den Anspruch der Offenbarung oder der visionären Gottesschau erhebt, sondern als ästhetisches Credo an die hellwache Wahrnehmung appelliert. Was geschieht, wenn nichts geschieht? Welche Veränderungen walten im Unabänderlichen, welche Gesetze in einer undurchdringlich verwirrenden Realität? Verbirgt sich eine Form in der Formlosigkeit, eine Logik im Zufälligen? Können wir unseren Augen und Ohren trauen? Die Antwort ist stets nur der Grund einer neuen Frage. Und das Ende der tönenden Musik ist der Anfang eines unerhörten Klangs. O Ewigkeit, du Donnerwort!

Gesangstext:

Lux aeterna luceat eis, Domine.
Cum sanctis tuis in aeternum, quia pius es.
Requiem aeternam dona eis, Domine,
et lux perpetua luceat eis.

Das ewige Licht leuchte ihnen,
o Herr, bei deinen Heiligen in Ewigkeit,
denn du bist mild.
Herr, gib ihnen die ewige Ruhe,
und das ewige Licht leuchte ihnen.
Communio aus dem Proprium der Missa pro defunctis

 

Göttliches Licht
Der Lichtvers aus dem Koran und die Bedeutung des mündlichen Vortrags. Von Florian Heurich

Das arabische Wort für Licht, »nūr«, taucht im Koran 33 Mal auf. In allen Kulturen steht Licht für das Gute, für Hoffnung, für Weisheit und im spirituellen Sinn für Erleuchtung. Im Islam symbolisiert es in letzter Konsequenz den Schöpfer, Allah, wohingegen Schatten das Bedecken der Beziehung zu Allah bedeutet.

»Allah ist der Schutzfreund derjenigen, die glauben. Er führt sie aus den Finsternissen zum Licht«, so heißt es etwa in der zweiten Koransure. Außerdem ist die Sure 24 als ganze nach dem Licht benannt (»an-nūr«). In ihrem 35. Vers, dem berühmten Lichtvers, heißt es: »Allah ist das Licht der Himmel und der Erde.«

Diese Zeilen sind ein vieldeutiges Gleichnis, das von Gelehrten und Korankundigen auf unterschiedliche Weise ausgelegt worden ist. Für Ibn Abbās, einen Cousin des Propheten Mohammed und einen der ältesten Koranexegeten aus dem 7. Jahrhundert, symbolisierte das Licht Allahs rechte Führung auf dem Weg der Gläubigen. Der Gelehrte Hasan Al-Basrī beschrieb wenige Jahrzehnte später das Licht als die von Allah geschaffene Ordnung im Himmel und auf Erden und als die Fürsorge Gottes den Menschen gegenüber. Andere Korankundige sahen das Licht als göttliches Leuchten im Herzen der Gläubigen.

Im Lichtvers wird dieses Licht Gottes mit einer gläsernen Öllampe in einer Nische verglichen. Sie wird vom Öl eines Baumes gespeist, der »weder östlich noch westlich« ist. Dieser Ölbaum wird von Hasan Al-Basrī als Baum des Paradieses gedeutet, von Ibn Abbās als ein Baum auf einer Anhöhe, der nicht nur von Osten oder Westen, sondern von allen Seiten her vom Sonnenlicht beschienen wird und somit keinen Schatten wirft.

Später wirkte der Lichtvers insbesondere auf die islamischen Mystiker, und so haben ihn auch zahlreiche Vertreter des Sufismus interpretiert, etwa Ibn Arabī um 1200. Er deutete die Lampe als den im Menschen ruhenden Geist, die Nische als den menschlichen Körper und das Glas als das Herz des Menschen. Weitere Überlieferungen beziehen das Leuchten auf den Propheten Mohammed, in den Allah sein Licht gelegt hat. Den im 11. Jahrhundert lebenden Mystiker Al-Ghazālī inspirierte dieser Koranvers sogar zu der philosophischen Abhandlung »Nische der Lichter«, die mit folgenden Worten beginnt: »Das wahrhafte Licht ist Allah der Erhabene, und die Anwendung des Begriffes ›Licht‹ auf Anderes ist eine reine Metapher und hat keine wahre Bedeutung.«

Gemeinsam ist sämtlichen Deutungen, dass das Licht für das Göttliche steht. Und wenn im Gleichnis des Lichtverses der Brennstoff der Lampe als Öl beschrieben wird, das »fast schon leuchtet, auch ohne dass das Feuer es berührt hätte«, dann steht dieses Bild für eine universelle Energiequelle und gleichermaßen für die absolute Reinheit, die das Licht speist.

Weil der Koran weniger auf eine stille Lektüre ausgerichtet ist, sondern vielmehr auf den mündlichen Vortrag, wird der Rezitation der Suren ganz besondere Bedeutung beigemessen. Im Ursprung ist der Koran (al-Qur’ān: Vortrag, Lesung, Rezitation) keine Schrift, sondern gilt als das Wort Gottes, das der Prophet Mohammed vernahm und seinerseits mündlich weitergab. Folglich ist das Hören der Suren für Muslime oft wichtiger als das Lesen. Aus der Rezitation des Korans wurde schon bald eine ganz eigene Kunstform mit vielfältigen Gestaltungsmitteln im Vortrag.

Durch die Länge der Silben, die Stimmfärbung, die Atemführung, die Aussprache und die Pausen kann der Rezitator den Text auf kunstvolle Weise gestalten und damit für die Zuhörenden erlebbar machen, auch wenn sie die Sprache nicht verstehen. So schrieb im 11. Jahrhundert der persische Gelehrte Mostamli Bukhari: »Im Herzen eines Menschen, der jemanden hört, der den Koran singt – der ihn gut singt – kommen Zartgefühl und Reue zum Vorschein, gleich wie lasterhaft und hartherzig dieser Mensch ist. Diese Reue bleibt – und der Mensch gerät in einen Zustand der Glückseligkeit.«

Nicht zuletzt durch die 1888 posthum erschienene Übersetzung von Friedrich Rückert wurde der Koran auch im deutschen Sprachraum für eine breitere Leserschaft zugänglich gemacht. Rückert versuchte vor allem, die poetischen Qualitäten der arabischen Vorlage ins Deutsche zu übertragen, auch wenn sich dadurch einige inhaltliche Ungenauigkeiten ergeben. Den Lichtvers in der Übersetzung von Rückert stellt Rupert Huber seinem Werk »Das Licht der Öllampe« voran und hat von diesem Text ausgehend seine Komposition entwickelt.

Ob Lampe, Kerze oder brennendes Feuer – Licht ist als Zeichen für die Allgegenwart des Göttlichen vielen Religionen gemein. So brennt etwa in den Tempeln der Zoroastrier oder Parsen ein ewiges Feuer, das für eine reinigende Kraft steht. Im Judentum und im Christentum erinnert das Ewige Licht an die ständige Gegenwart Gottes. Während dieses in Synagogen vor dem Schrein mit den Tora-Rollen hängt, brennt es in katholischen Kirchen vor dem Tabernakel, in dem die Hostien aufbewahrt werden. Das Römische Messbuch legt sogar fest, dass es ein Wachs- oder Öllicht sein soll. »Denn der Herr ist dein ewiges Licht, zu Ende sind deine Tage der Trauer«, heißt es im Alten Testament, und in der Liturgie der Totenfeier wird darum gebeten, dass das Ewige Licht in ewiger Ruhe leuchten möge: »Et lux perpetua luceat eis.«

Gott ist das Licht des Himmels und der Erde,
das Gleichnis seines Lichtes ist
wie eine Nisch’, in welcher eine Leuchte,
die Leuchte ist in einem Glas,
das Glas ist wie ein funkelnder Stern,
die angezündet ist vom Segensbaume,
dem Ölbaum nicht aus Osten noch aus Westen;
das Öl fast selber leuchtet, wenns
auch nicht berührt die Flamme;
Licht über Licht – Gott leitet
zu seinem Lichte, wen er will:
Gott aber prägt die Gleichnisse den Menschen,
und Gott ist jedes Dings bewusst.

Koran 24,35, Übertragung ins Deutsche von Friedrich Rückert

Rupert Huber
Das Licht der Öllampe
Entstehungszeit: 2019 im Auftrag des Chores des Bayerischen Rundfunks
Uraufführung: 23. November 2019 im Münchner Prinzregententheater
mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung des Komponisten

Das Licht der Öllampe
Worte aus dem ersten Teil »Der Atem der Dunkelheit«

die Dunkelheit:
schließ die Augen

da bin ich
das Licht
weicht
vor mir
formlos
ein dunkler Hauch
verbinde ich
Dinge und Wesen
auch dich
umhülle ich
ineinander
verschoben
atmen wir
du ein – ich aus
du aus – ich ein
ich ströme
durch deine Kehle
und bringe sie
zum Klingen
so singt es
aus dir
überall
ertönt mein Widerhall


Interpreten

Für den 1953 im oberösterreichischen Innviertel geborenen Komponisten, Dirigenten und Performance-Künstler Rupert Huber sind spezifische persönliche Erfahrungen grundlegend. Dazu gehört das Erleben des Verbunden-Seins, mit dem wir geboren werden und das mit den ersten Atemzügen des jungen Lebens unterbrochen wird. Das Neugeborene ist plötzlich abgeschnitten und erlebt das als einen überaus schmerzlichen Zustand. Durch die mütterliche Brust wird, jenseits biologischer Funktionalität, auch die ursprüngliche Erfahrung des Verbunden-Seins auf magische Weise wiederhergestellt. Dies hält aber nicht für lange Zeit an. Fortan vermögen so unterschiedliche Tätigkeiten wie Essen, Singen oder Tanzen die immer wieder aufgenommene geheimnisvolle Verbundenheit der Person mit der Welt herzustellen.

Seit vielen Jahren macht Rupert Huber Musik, die den Zustand des lebensfeindlichen Abgeschnitten-Seins aufhebt. Er spricht der Musik die Funktion eines Modems zu, also eines Mediums, das verschiedene, voneinander abgetrennte Wirklichkeitsebenen so verbindet, dass ein Austausch zwischen ihnen stattfinden kann. Neben den eigenen Werken fanden sich Referenzen ähnlichen Strebens bei Komponisten wie Robert Schumann, Iani Christou, John Cage, Morton Feldman, Robert Moran oder Christian Wolff, denen Rupert Huber als Dirigent besonderes Augenmerk schenkte. Manchen vokalen Werken dieser Komponisten kommt, was ihre Modem-Fähigkeit angeht, eine außergewöhnliche Bedeutung zu. Einschneidende Erfahrungen machte Rupert Huber mit den Heilgesängen der Schamanen der Bantawa-Rai in Ost-Nepal, deren Ritualmusik an vitalisierender und harmonisierender Wirkung kaum zu übertreffen ist.

Nora Thiele gehört zu den führenden Perkussionistinnen Europas. In unterschiedlichen Projekten zwischen Alter Musik, außereuropäischer Musik, Jazz, Improvisation und zeitgenössischer Musik spielt sie auf Rahmentrommeln und schlägt Brücken zwischen Kulturen, Genres und Epochen. So tourte sie als Solistin, Gastmusikerin und mit ihren eigenen Projekten durch Europa, den Nahen Osten und China.

Nora Thiele ist künstlerische Leiterin des Playground-Festivals Weimar und komponiert Musik für eigene Projekte. Dabei kann sie auf eine 20-jährige Lehrerfahrung zurückblicken und unterrichtet regelmäßig in Meisterklassen auf internationalen Festivals und an Musikhochschulen. Sie wirkte bisher bei über 40 CDs mit und verfolgt Projekte mit Theater, Tanz, Kunst und Literatur. In ihrer musikalischen Arbeit beschäftigt sich sich mit dem Ausloten von Schnittstellen, Grenzen und Übergängen. Dabei entstehen mit Stilsicherheit und experimenteller Spielfreude neue musikalische Zusammenhänge.

Hassan Sadeghi stammt aus dem Iran und wurde in Teheran geboren. Seit dem Kindesalter widmet er sich den Lehren vom Heiligen Koran und deren Rezitation. Im Jahr 2002 wurde er zum Weltmeister der Koranrezitation gekürt, nachdem er zuvor an der Universität von Teheran die Prüfung zur Koranwissenschaft erfolgreich absolviert hat. Hassan Sadeghi lebt seit 2005 in Deutschland, wo er im Zentrum der Islamischen Kultur Frankfurt als Lehrer angestellt ist.

Weitere Konzerte

Sa. 1. Feb, 20.00 Uhr
München, Prinzregententheater
Chor-Abo 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Hrvatska Misa – Kroatische Messe
Ivan Repušić dirigiert Frano Paraćs »Dona nobis pacem« und Boris Papandopulos »Kroatische Messe« d-Moll, op. 86
Sa. 22. Mrz, 20.00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz
Chor-Abo plus 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Sir Simon Rattle – musica viva
Sir Simon Rattle präsentiert mit BR-Chor und BRSO Werke von Pierre Boulez, Luciano Berio und Helmut Lachenmann
Sa. 5. Apr, 20.00 Uhr
München, Prinzregententheater
Chor-Abo 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Kreuzwege
Peter Dijkstra dirigiert »Via crucis« von Franz Liszt und »The Little Match Girl Passion« von David Lang
Sa. 24. Mai, 20.00 Uhr
München, Prinzregententheater
Chor-Abo 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Joik – Götter, Geister und Schamanen
Peter Dijkstra dirigiert Chormusik von Holst, Holten, Martin, Sandström und Mäntyjärvi
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