Horizonte
mit Yuval Weinberg und Bjørn Andor Drage
Moderation: David Zell
Programm
Chor-Soli: Priska Eser, Jutta Neumann, Bernhard Schneider, Christof Hartkopf
Sprechchor: Margit Pennartz, Mareike Braun, Taro Takagi, Michael Mantaj
Uraufführung der Fassung mit Streichern
Anna-Maria Palii, Sopran
Nuit I – Adieu I – Nuit II – Adieu II – Nuit III–V – Adieu III–IV
Chor-Soli: Sonja Philippin, Ruth Volpert, Q-Won Han, Matthias Ettmayr
Chor-Soli: Simona Brüninghaus, Priska Eser, Gabriele Weinfurter, Barbara Schmidt-Gaden, Andrew Lepri Meyer, Bernhard Schneider, Timo Janzen, Michael Mantaj
– Kyrie
– Gloria
– Passacaglia
– Larghetto
– Credo
– Sanctus – Benedictus
– Agnus Dei
Mitwirkende
Chormusik der räumlichen und zeitlichen Horizonte. Eine musikalische Reflexion auf eine 350 Jahre alte Trauermusik schrieb der Norweger Bjørn Andor Drage, der sich als Komponist und Organist seinem barocken Vorbild Dietrich Buxtehude über die Jahrhunderte hinweg verbunden fühlt.
Dazu erklingen zeitgenössische Chorwerke von Komponisten aus weit auseinanderliegenden europäischen Regionen. So stammt Anna Thorvaldsdóttir aus Island, Kaija Saariaho aus Finnland, Thierry Machuel aus Frankreich, Krzysztof Penderecki aus Polen und Arvo Pärt aus Estland. Ihre Schöpfungen sind Musik der Demut und des Abschieds, aber auch Musik, die den Blick zurück in die Geschichte lenkt und an alt-ehrwürdigen Kirchengesang erinnert.
Die frühe Fassung mit Klavierbegleitung wird mit dem Pianisten Julius Drake, einem hochkarätig besetzten Solistenquartett und dem BR-Chor unter der Stabführung seines Künstlerischen Leiters Howard Arman zu einer Neuentdeckung eines bekannten Dvořák-Oratoriums.
Ergänzt werden die fehlenden Sätze durch Neuschöpfungen der slowakischen Komponistin Ľubica Čekovská.
Seit der Uraufführung von Passio vor über 35 Jahren pflegt der BR-Chor ein besonderes Verhältnis zu Arvo Pärt und seiner Musik. Als Abrundung des Konzertabends bringt der Chor Pärts erst jüngst vollendeten kurzen Chorsatz Ja ma kuulsin hääle … zur deutschen Erstaufführung.
CD zum Konzert beim Label BR-KLASSIK
CD zum Konzert beim Label BR-KLASSIK
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Werkeinführungen
»Hier ist unser Leid-Gesänge«
»Klag-Lieder« von Dieterich Buxtehude und Bjørn Andor Drage. Von Wolfgang Stähr
Dieterich Buxtehude * um 1637 vermutlich in Helsingborg (heute: Schweden), † 9. Mai 1707 in Lübeck. Klag-Lied: 1674 als zweiter Teil der Trauermusik »Mit Fried und Freud«, BuxWV 76 entstanden, Uraufführung: am 29. Januar 1674 in der Lübecker Marienkirche anlässlich der Begräbnisfeier von Johannes Buxtehude, dem Vater des Komponisten
Bjørn Andor Drage * 1. Juli 1959 in der Kommune Saltdal (Norwegen). Klag-Lied: 2004; Fassung mit Streichern im März 2015 vollendet, Widmung: Lars Erik Westberg und dem Barents kammarkör, Uraufführung: 2004 durch die Widmungsträger, Uraufführung der Fassung mit Streichern am 17. November 2018 im Münchner Prinzregententheater mit dem BR-Chor und dem Münchener Kammerorchester unter der Leitung von Yuval Weinberg
Seit er im Jahr 1668 das Amt des Organisten an der Lübecker Marienkirche angetreten hatte, war Dieterich Buxtehude zum Zentralgestirn, Übervater und Idol der norddeutschen Orgelmusik aufgestiegen, ein universell gebildeter Künstler, respekteinflößender Virtuose, erfindungsreicher Komponist, profunder und polyglotter Gelehrter, der Deutsch, Dänisch, Schwedisch sprach und schrieb, Latein und Griechisch beherrschte, Französisch und Italienisch verstand. Ein Mann von Welt, der Dänemark als sein Vaterland betrachtete. Geboren wurde er vermutlich um 1637 im damals noch dänischen, heute schwedischen Helsingborg als Sohn des »Wohl-Ehren Vesten Groß-Achtbaren und Kunstreichen Herrn Johannis Buxtehuden«, der selbst jahrzehntelang die Orgel schlug. Der Ursprung der Familie aber liegt in der gleichnamigen Stadt, unweit von Hamburg gelegen und allseits bekannt durch den Wettlauf zwischen Hase und Igel.
Nach Lehrjahren in Helsingborg und Helsingør, diesseits und jenseits des Öresund, wurde Buxtehude am 11. April 1668 zum Organisten der Lübecker Marienkirche ernannt und spielte hier die beständig modernisierten und erweiterten Orgeln, die große in ihrem spätgotischen Gehäuse und die kleine über der Totentanzkapelle. Beide wurden sie 1942 bei einem Luftangriff im Zweiten Weltkrieg zerstört, auf Nimmerwiederhören. In seiner liturgischen Vokalmusik legte Buxtehude eine ausgesprochen protestantische Wortbezogenheit und Textgenauigkeit an den Tag, eine musikalische Exegese, die alles in einem ist: Vertonung, Verbildlichung (Buxtehude schrieb höchst anschauliche Musik) und Verkündigung. Und obendrein noch selbstbewusste künstlerische Auseinandersetzung mit den geheiligten und tradierten Texten, die er Satz für Satz, Vers um Vers, unter die Lupe nimmt, ja, einzelne Worte werden geradezu gedreht und gewendet in buchstäblich gründlicher Betrachtung. Die Musik kommt zur Sprache, die Schrift kommt uns zu Ohren.
Als Dieterich Buxtehude 1674 eine Elegie auf den Tod seines Vaters dichtete, vertonte er seine eigenen Verse in der Form einer Aria in sieben Strophen für Sopran und (die instrumentalen Partien sind nicht bezeichnet) vermutlich für Violen da gamba und Basso continuo mit Orgel. Im heutigen Konzert werden diese Stimmen von zwei Bratschen und drei Celli im Bass gespielt. Er brachte die Trauermusik bei der Begräbnisfeier in St. Marien zur Aufführung, diesen schmerzerfüllten Gesang, der über den schaurigen, schwankenden Tremoli der Streicher seine so expressiven wie sinnbildlichen Linien zieht, der sisyphosartig jeden mühseligen Aufstieg mit einem Absturz in die Tiefe bezahlen muss, ein musikalischer Widerhall der geängstigten Seele. In langsamen kontrapunktischen Bewegungen und Verstrebungen entfalten sich die schwarzen Affekte, in einem hochgespannten, chromatisch geschärften, mit Dissonanzfiguren durchzogenen, von Lamentobässen untergrabenen Satz. In Buxtehudes »Klag-Lied« weitet sich das individuelle Schicksal zur Perspektive eines friedlosen Zeitalters, das den Menschen keine Hoffnung ließ als die eine, einzige, mit dem Tod endlich befreit zu werden von Krieg und Gewalt, von aller Angst und Schuld. »Er spielt nun die Freuden-Lieder / Auf des Himmels-Lust-Clavier, / Da die Engel hin und wieder / Singen ein mit süsser Zier«, schrieb Dieterich Buxtehude über seinen heimgegangenen Vater. »Hier ist unser Leid-Gesänge / Schwarze Noten Traur-Gemenge / Mit viel Kreuzen durchgemischt / Dort ist alls mit Lust erfrischt.«
330 Jahre später hat der norwegische Komponist, Organist, Kantor und Dirigent Bjørn Andor Drage Buxtehudes »Klag-Lied« noch einmal komponiert, strenggenommen wie eine Choralvariation über den Cantus firmus der barocken Aria, um aber die konzentrierte, auf Wort und Ton bezogene Ausdrucksform des Originals aufzubrechen, aufzulösen und in einem Schmerzensschrei gegen Gott und die Welt explodieren zu lassen, in einem lauten und hemmungslosen Protest gegen das Unrecht, gegen den Unsinn des Todes: gegen die unerträgliche Wirklichkeit, einen Menschen zu verlieren, der uns am nächsten war. Drages »Klag-Lied« von 2004 klingt zugleich literarischer, reflektierter, mittelbarer, raffinierter und animalischer, apokalyptischer, roher und direkter. Es nimmt Buxtehude als einen Ahnherrn und Schutzpatron der musikalischen Avantgarde wahr, als einen Expressionisten aus der verstörten und befreiten Generation nach dem Dreißigjährigen Krieg und als einen Musiker quer zu allen Parteien und Nationalitäten.
Denn auch Drages Chor ist ein polyglottes Gemeinschaftswerk, aus dem ideellen wie praktischen Grund, dass er sein Werk für den schwedischen Chordirigenten Lars Erik Westberg und dessen länderübergreifendes Projekt des Barents kammarkör bestimmte, in dem Sängerinnen und Sänger aus Finnland, Norwegen, Schweden und Russland zusammenkamen – aus den Anrainerstaaten der nordpolaren Barentssee. Insofern gleicht diese moderne Trauermusik auch einem Pfingstfest, das die Sprachverwirrung im gemeinsamen Klagegesang aufhebt.
Aber »der Chor« teilt sich bei Drage in drei Chöre, drei Formationen auf: ein Solistenquartett, einen Sprechchor und das Tutti. Drei Ensembles, die sich in sphärischen, schwerelosen, schwebenden Klangbändern verlieren oder in tief verletzten, dornigen, verzagten, gequälten Ausrufen Gehör verschaffen: in Tempo und Dynamik bis zur Raserei gesteigert, dann wieder fast bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigt. Drei getrennte und verschworene Chöre, die symbolisch den menschlichen Aufstand gegen die Grausamkeit des Todes proben. Und gewinnen: Denn diese Musik hebt die Unumkehrbarkeit der Zeit auf und bestreitet die unüberwindlichen Distanzen des Raumes. Am Beginn der Partitur steht ein Zitat aus dem Roman »Der Mondtrinker« des schwedischen Schriftstellers Göran Tunström, das davon spricht, wie alles kalt und klar ist und über jede Sprache hinausreicht, in der Zeit der scharfen Herbstnächte, wenn das Universum einem prallen, pochenden Herz gleicht – »und du verstehst, was für eine gigantische Affäre das Leben ist«.
Kniefall vor dem Göttlichen
Buxtehude-Reflex zwei: Anna Thorvaldsdóttirs »Ad genua«. Von Uta Sailer
Anna Thorvaldsdóttir
* 11. Juli 1977 in Reykjavík (Island)
Ad genua: 2016 als Auftragswerk für den
Kammerchor The Crossing entstanden
Uraufführung: 24. Juni 2016 in der Episcopal Cathedral
von Philadelphia (USA) mit dem Kammerchor
The Crossing und dem International Contemporary
Ensemble unter der Leitung von Donald Nally
Sie ist eine Klangarchitektin: Die isländische Komponistin Anna Thorvaldsdóttir schafft musikalische Räume, die aus den archaischen Kräften ihrer Heimat gespeist sind. Zwischen Gletschern, Vulkanen und dem Ozean aufgewachsen, durchzieht die Natur ihre Musik wie eine Leben spendende Wasserader. Und doch sind ihre Werke nie Naturbeschreibung allein, vielmehr öffnen sie Seelenräume.
In »Ad genua« für Solosopran, Chor und Streichensemble ist dies ganz offenkundig. Als Kompositionsauftrag für den Kammerchor The Crossing geschrieben, bezieht sich Anna Thorvaldsdóttir darin auf den zweiten Satz aus dem geistlichen Oratorium »Membra Jesu nostri« von Dieterich Buxtehude. Ein Werk, in dem Buxtehude Füßen, Knien, Händen, Seite, Brust, Herz und Gesicht des gekreuzigten Jesus je eine Kantate zuordnet. Anna Thorvaldsdóttir »antwortet« mit ihrer Komposition auf die zweite Kantate, von der sie auch den Titel übernommen hat: »Ad genua« – »Auf die Knie«.
Schon die ersten Klänge, mit den Streichbögen auf die Saiten von Celli und Kontrabässen geschlagene Töne, führen den Zuhörer in die Tiefe – sei es die Tiefe eines Kraters, des Ozeans oder die des eigenen Unbewussten. Wenn dann die Sopranistin zu einer fast beschwörenden dreimaligen Wiederholung auf die Worte »I fall« ansetzt, öffnet sich ein sphärischer Raum. Der Klang beginnt zu kreisen, weitet sich, hüllt den Hörer ein wie ein wärmender Mantel.
Faszinierend ist, wie die Musik gleichzeitig in zwei Richtungen strebt: einerseits ins Innere, zum eigenen Ich; andererseits ins Außen, im Sinne einer Entgrenzung, eines Sich-Verlierens im Klang. Motivischer Kerngedanke ist eine Abwärtsbewegung über die Tonstufen (a’–) c’’ – h’ – a’ auf die ersten beiden Worte des vertonten Gedichtes »I fall«, das mehrfach im rund zehnminütigen Stück aufscheint. Widerhall findet dieses Motiv im Chor, der es mal aufgreift und weiterentwickelt, mal in einen vielschichtigen Clustersound auffächert, oder – ähnlich dem Wechselgesang in einem Gottesdienst – mit der Solistin in einen Dialog tritt. Aber obwohl die Solosopranistin und der Chor im selben Klang- und Seelenraum und mit identischem motivischen Material agieren, bleibt die Solistin in der Gemeinschaft allein. Oder wie Anna Thorvaldsdóttir es formuliert: »Es ist nicht einfach, das Leiden zu sehen, das nicht das eigene ist.« Die Worte »I give up« (»Ich gebe auf«) markieren schließlich den Wendepunkt der Komposition. Jetzt ist deutlich: Das Individuum zerbricht nicht am Leiden. Stattdessen schöpft es eben daraus die Kraft, sich ganz dem Höchsten hinzugeben. Vom Aufgeben zum Hingeben: »Ich falle auf die Knie und bete die göttliche Musik an.«
Musikalisches Psychogramm der Trauer
Kaija Saariaho gestaltet Musik von der Flüchtigkeit des Daseins. Von Michael Zwenzner
Kaija Saariaho * 14. Oktober 1952 in Helsinki
Nuits, adieux: Die Erstfassung für vier Solostimmen
und Elektronik entstand 1991 im Auftrag des WDR.
Uraufgeführt wurde sie am 11. Mai 1991 in Köln
durch Electric Phoenix. Die Umarbeitung in eine
Fassung für Chor mit Soli erfolgte 1996/97 als
Auftragswerk der Joyful Company of Singers.
Uraufführung am 20. März 1997 in Paris von der
Joyful Company of Singers unter der Leitung von Peter Broadbent.
»›Nuits, adieux‹ handelt vom Singen, Atmen, Flüstern, von der Nachtzeit und von Abschieden. Das Werk besteht aus zehn Abschnitten, fünf davon mit Nuit, die jeweils folgenden mit ›Adieu‹ übertitelt. Zwei unterschiedliche Textquellen werden für diese beiden musikalischen Sphären verwendet: Auszüge aus Jacques Roubauds Buch ›Échanges de la lumière‹ [1990] für ›Nuits‹ und ein Fragment aus Honoré de Balzacs Erzählung ›Séraphîta‹ [1835] für ›Adieux‹«, so die finnische Komponistin Kaija Saariaho über die 1991 vollendete Erstfassung von »Nuits, adieux« für vier Solostimmen und Live-Elektronik.
Die Neufassung von 1997 mit Chor setzt sich aus nurmehr neun Abschnitten zusammen: »Nuit I – Adieu I – Nuit II – Adieu II – Nuit III–IV–V – Adieu III–IV«. Verbunden mit einem in Tempo und Dynamik an- und abschwellenden Spannungsbogen ist ein Prozess der »Erdung« durch die in vier von fünf »Nuit«-Abschnitten vom Sopran bis zum Bass nach unten weitergereichte, melodisch expressiv ausgefüllte Solopartie. In der Erstfassung von »Nuits, adieux« hatte Saariaho die Ergebnisse ihrer intensiven Arbeit am Pariser Musikforschungszentrum IRCAM und die dort zum Einsatz kommenden technischen Mittel in den Dienst des musikalischen Ausdrucks gestellt. 1996 nahm sie sich dann vor, die durch live-elektronische Effekte wie Verstärkung, Verhallung, Verzögerung oder Transposition gewonnenen Ausdrucksnuancen so weit möglich in den rein akustischen Chorklang zu übertragen. So entstand ein zu den Solisten hinzutretender Chorpart voller verblüffender Klangeffekte in stets wechselnden Mischungen aus Atemgeräuschen, Flüstern, Sprechen sowie syllabischem oder rein phonetischem Gesang.
Die seit 1982 in Frankreich lebende Komponistin Kaija Saariaho schuf mit diesem, dem Andenken an ihre Großmutter gewidmeten Werk ein musikalisches Psychogramm der Trauer. Darin werden verschiedene Stadien des Abschieds beschworen, mehrfach unterbrochen von unruhig durchträumten oder durchwachten Nächten, die am Ende so etwas wie Versöhnung mit dem Schicksal erst zu ermöglichen scheinen. Texte wie Musik künden von der Flüchtigkeit des Daseins, von der Unmöglichkeit, klare Grenzen zu ziehen zwischen Licht und Dunkel, Tod und Leben, Mensch und Natur, Mann und Frau. So enthalten die vertonten Strophen aus Roubauds Gedicht poetische Reflexionen über Licht und Dunkelheit in der Abfolge von Tag und Nacht vor menschenleerem Panorama aus Hügeln, Gräsern und – als lebendige Bindeglieder zwischen Luft und Erde besonders hervorgehoben – Bäumen. Nur das von Saariaho in den »Adieu«-Abschnitten verwendete Prosafragment Balzacs – eine aufzählende Verkettung solcher Gegenstände, von denen Abschied genommen, deren Weiterleben in jeweils neuer Gestalt aber gleichzeitig vorausgesagt wird – bezieht die Welt der Menschen in Gestalt von Frau und Mann in den Kreislauf der Natur mit ein. Im Zeichen von Schmerz, Liebe und Glauben scheinen Mensch und Natur zuletzt versöhnt ineinander aufzugehen. In beiden Fassungen verfolgte Saariaho eine atmosphärisch dichte Gestaltung der ins Chorische differenziert ausstrahlenden Solostimmen, um die Anmutung eines lebendigen Organismus zu erzeugen, der geboren wird, sich bewegt und atmet, der träumt und wacht, existenzielle Krisen durchleidet und überwindet, lebt und stirbt – oder sanft entschläft. Denn wenn die Musik gegen Ende immer schlichter wird und zugunsten zarter Klanggeflechte alles Geräuschhafte von ihr abfällt, wenn Chor und Solisten endlich vereint am verebbenden Gesang beteiligt sind, dann drängt sich die Vorstellung des »Endlich-loslassen-könnens« geradezu auf.
Mondgestein, Eisblöcke und wehender Wind
»Nocturne (Richter)« – eine Nachtmusik mit ungewöhnlicher Entstehungsgeschichte. Von Michael Zwenzner
Thierry Machuel
* 30. Juni 1962 in Paris.
Nocturne (Richter)
Erstfassung im April 1999 vollendet.
Neufassung zum Text von Benoît Richter 2003 vollendet
Widmung: Laurence Equilbey und Le jeune choeur de
Paris sowie Loïc Pierre und dem Kammerchor Mikrokosmos.
Uraufführung: im April 2003 im Théâtre Mogador in Paris durch Le jeune choeur de Paris und Les Cris de Paris unter der Leitung von Geoffroy Jourdain
Thierry Machuel zählt zu den Vertretern einer ästhetisch gemäßigten Moderne in Frankreich, die sich in der Kunst der eigensinnigen Annäherung an traditionelle Musikformen üben. Der vielseitig musikalisch erfahrene Komponist – als solcher begann er seine Laufbahn allerdings autodidaktisch – hat überwiegende Teile seines Schaffens aus dem unendlichen musikalischen Potenzial der menschlichen Stimme heraus entfaltet. Die Auswahl der vertonten Texte verrät die kosmopolitische und mit dem eigenen Zeitalter innigst verbundene Haltung des Komponisten, der neben seiner Muttersprache auch Englisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch spricht. Eines seiner zentralen künstlerischen Anliegen sei die Begegnung mit Dichtung, Sprachen und Kulturen, so Machuel.
Es war der in Tunis gebürtige Pariser Lyriker, Dramatiker und Theaterregisseur Benoît Richter (*1971), der die Textgrundlage für »Nocturne (Richter)« schuf. Den Werktitel verbindet man bis heute zunächst mit romantischer Klaviermusik. Zwischen 1999 und 2001 hat sich Thierry Machuel mit einem halbstündigen Zyklus dreier »Nocturnes« der ungewöhnlichen Erschließung dieses Genres für die Chormusik angenommen. Dabei vertonte er Gedichte von Rabindranath Tagore (1861–1941), Yannick Liron (*1962) und eben Benoît Richter. Die Musik zu »Nocturne (Richter)« existierte jedoch bereits vorher – als Vertonung der Verse eines »berühmten Dichters des 20. Jahrhunderts«. Aufgrund des unerwartet erhobenen Einwands der Rechteinhaber durfte diese Fassung nach der von den Erben genehmigten Uraufführung nicht weiterverwendet werden. »Daher schlug ich Benoît Richter vor«, so Machuel, »einen neuen Text für das Werk zu verfassen und dabei zu versuchen, die Strukturen und Rhythmen der Musik so weit wie möglich beizubehalten. Es war ein langer und schwieriger Arbeitsprozess, aber der einzige Weg, die Partitur zu retten.« Analog zum 351 ereignisreiche Takte umfassenden Werk gestaltete Richter ein formal freies Langgedicht, das in den Worten des Komponisten von einer Nacht handelt, »die sich graduell über die ganze Welt ausbreitet und uns alle Menschlichkeit austreibt, bis wir alle in Mondgestein, Eisblöcke, wehenden Wind verwandelt sind«.
Entsprechend dunkel und ernst ist die Ausdruckshaltung der vorwiegend dissonant gehaltenen Musik, die sich zwischen Melancholie, Klage, Trauer und Abgeklärtheit bewegt. Dennoch dringt »Nocturne (Richter)« zu einer auf das Ohr hin komponierten expressiven Schönheit durch, die das rückhaltlose Schwelgen im Chorklang ermöglicht. Text und Musik evozieren eine Situation der Verzweiflung, der Angst, der Erstarrung, aber auch einer retrospektiven Verherrlichung der Liebe vor dem apokalyptischen Panorama einer sich zunehmend verfinsternden Landschaft. Im Angesicht des Untergangs wird hier an die Menschen appelliert, die einst erfahrene Liebe nicht zu vergessen. Das lyrische Ich nimmt dabei verschiedene Positionen ein, betrachtet die untergehende Welt und die Befindlichkeit der Menschen darin einerseits in umfassenderem Sinne, andererseits nach der Trennung vom einstmals geliebten und liebenden Du auch aus einer individuellen Perspektive. So erscheinen allgemeinere Betrachtungen und individuelle Befindlichkeiten unauflösbar miteinander verbunden. Es bleibt nur die schmerzliche Sicht auf den eigenen Untergang und den Untergang der Welt. Hier herrscht reinste »Melancholia« – ähnlich wie in Lars von Triers gleichnamiger cineastischer Endzeitvision.
Moderne Andacht
Der Psalm 3 – von Krzysztof Penderecki im A-cappella-Chorsatz neu gedeutet. Von Anna Vogt
Krzysztof Penderecki
*23. November 1933 in Debica (Polen)
Domine, quid multiplicati sunt
2015 entstanden, Uraufführung: 26. Mai 2015 im
Stern Auditorium der Carnegie Hall in New York City (USA) durch
den Hover State Chamber Choir unter der Leitung von Sona Hovhannisyan
»Meine Kunst, die aus tiefen, christlichen Wurzeln gewachsen ist, hat zum Ziel, den metaphysischen Raum des Menschen, der durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts zerstört wurde, wiederherzustellen«, schrieb Krzysztof Penderecki über seine Musik. So offen wie nur wenige andere Komponisten steht Penderecki nicht nur persönlich zu seiner Religiosität – auch die meisten seiner Werke und vor allem seine Chorkompositionen sind geprägt von der Tradition geistlicher Musik und einer tiefen Spiritualität. Gesang spielte von jeher eine wichtige Rolle in religiösen Zusammenhängen, sei es im Wechselgesang von Vorbeter und Gemeinde oder in der kunstvollen Polyphonie zu christlichen Feiern, wie sie etwa von Palestrina und Bach so einzigartig gestaltet wurde. An diese Vorbilder knüpft Penderecki an und kombiniert in seinen A-cappella-Kompositionen archaische Anklänge und alte Kirchentonarten mit modernen Ausdrucksmitteln. Oft sind diese Chorkompositionen langsam und getragen und wirken wie eine Meditation oder ein Gebet. Doch zugleich sorgen kontrapunktische Glanzlichter auch für Bewegung und lenken die Aufmerksamkeit auf wichtige Passagen der Texte, die meist aus der Bibel oder Liturgie stammen. So entsteht in Pendereckis Chormusik eine eigentümliche Welt der Mystik und der Emotionen.
»Domine, quid multiplicati sunt« ist eine Vertonung des 3. Psalms: König David muss vor seinem Sohn Absalom fliehen, weil dieser ihn stürzen will. In seinem Klagelied hadert er mit den vielen Feinden, von denen er sich verfolgt fühlt. Doch Trost und Kraft findet er in Gott: »Du aber, Herr, bist ein Schild für mich, du bist meine Ehre und erhebst mein Haupt.« Eingeleitet wird die Komposition von einer kunstvoll rezitierten Intonation des Solotenors, bevor Männerstimmen dazukommen. Nun stimmt der Frauenchor mit ein, und es erklingen vollstimmig die trost- und kraftspendenden Verse des »Tu autem Domine«. Wie in einer Renaissancemotette stehen in diesem Chorsatz dicht gesetzte homophone Passagen neben bewegten Abschnitten, in denen sich die Stimmen kanonartig imitieren. Immer wieder summen einzelne Gruppen, flüstern oder murmeln »quasi parlando« den Psalm-Text – wie eine klangliche Assoziation an das gedämpfte, ehrfurchtsvolle Gebet in Kirchenräumen. Die Stimmen werden in dieser Psalmvertonung zugleich zu dramatischen Akteuren: Sie bringen die unterschiedlichen Emotionen Davids zwischen Furcht und Zuversicht zum Ausdruck und erzählen dabei eine Geschichte vom festen Glauben in schwierigen Zeiten.
Avantgarde mit menschlichem Antlitz
Zu Krzysztof Pendereckis »Cherubinischem Lobgesang«. Von Anna Vogt
Krzysztof Penderecki
Cherubinischer Lobgesang
1987 vollendet.
Widmung: Mstislav Rostropowitsch zum 60. Geburtstag
Uraufführung: 27. März 1987 in Washington D.C. (USA) durch die
Choral Arts Society of Washington unter der Leitung von Krzysztof Penderecki
Als Krzysztof Penderecki 1960 mit der Uraufführung seiner Klangflächenkomposition »Anaklasis« bei den Donaueschinger Musiktagen zu Gast war, schien sich der polnische Komponist damit in der europäischen Avantgarde bewusst positionieren zu wollen. Doch später wandte er sich ab vom Dogma des immer Neuen und Radikalen und fand zu einer sinnlichen, zugleich traditionsverwurzelten wie auch modernen Klangsprache. Seine Musik verweigert sich seitdem einer genauen Zuordnung zu einer Schule oder einem Stil, sie will mit dem Publikum kommunizieren, es erreichen. Genau das macht Penderecki zu einem der erfolgreichsten zeitgenössischen Komponisten, brachte ihm aber von Seiten der Neuen-Musik-Szene zum Teil viel Häme ein, empfand doch manch einer Pendereckis Werke als zu »romantisch«, zu rückschrittlich. »Ich glaube, ich schreibe persönliche Musik«, sagte Penderecki dazu in einem Interview mit Gregor Schmitz-Stevens im »Berliner Tagesspiegel«, »ein Stück ist für mich immer auch ein Bekenntnis«. Er habe versucht, einen Ausweg aus der Avantgarde zu finden, »oder besser: eine Avantgarde mit menschlichem Antlitz zu schaffen«.
Auch Pendereckis »Cherubinischer Lobgesang« aus dem Jahr 1987 ist geprägt von diesem menschlichen, bekenntnishaften und emotionalen Ansatz. Penderecki widmete das Werk seinem guten Freund, dem Cellisten Mstislav Rostropowitsch. Es beruht auf einem Text aus der orthodoxen Liturgie, einem freudigen und etwas rätselhaften Lobgesang der Cherubim. Diese übernatürlichen Wesen sind im orthodoxen Glauben wichtige Lichtgestalten – als Botschafter des Göttlichen. Penderecki lässt in diesem Chorsatz auch mit musikalischen Mitteln die Welt der alten orthodoxen Kirchengesänge auferstehen. Die Altstimmen singen den Eingangsvers (»Die wir die Cherubim geheimnisvoll darstellen ») zunächst allein: eine zarte, melismatische Hymne. Sie scheint wie die Vorbereitung eines gemeinsamen Gebets durch einen Vorsänger, bevor bald schon die Gemeinde einstimmt. Später sind es vor allem die gesummten Liegeklänge und das monotone, formelhafte Murmeln in den tiefen Stimmen, die an orthodoxe Gottesdienste gemahnen. Nach einer langen Phase der Steigerung kulminiert der Chorsatz in einer zwölfstimmigen, pulsierenden Klangfläche, mit der der »König des Alls« gefeiert wird. Während hier die Konsonanz der Musik die Aussage des Textes besonders klar und kraftvoll erscheinen lässt, sorgen an anderen Stellen schwebende Dissonanzen bis hin zu Cluster-Ballungen immer wieder für eine eigentümliche und zugleich sehr sinnliche tonale Unbestimmtheit.
Ästhetik der Stille
Die »Berliner Messe« von Arvo Pärt. Von Susanne Schmerda
Arvo Pärt * 11. September 1935 in Paide (Estland).
Berliner Messe: Auftraggeber: 90. Deutscher Katholikentag Berlin 1990.
Entstehungszeit: 1990 (Fassung mit Orgel), 1991 (Fassung mit Streichorchester)
Uraufführung: 24. Mai 1990 bei einem Pontifikalamt in der Berliner St. Hedwigs-Kathedrale von Theatre of Voices (Fassung mit Orgel), 18. Dezember 1991 in der Markuskirche Erlangen mit dem Süddeutschen Vokalensemble und dem Kammerorchester Schloss Werneck
unter der Leitung von Ulf Klausenitzer
Archaisch und karg, nach innen gewandt und zugleich ekstatisch klingt Arvo Pärts klare, in der Reinheit der Dreiklänge leuchtende Musik, welche die rigiden Grenzen von Raum und Zeit hinter sich zu lassen scheint. Es ist eine sehr reduzierte Kompositionsweise, die den Verzicht auf die Fülle gestalterischer Möglichkeiten einschließt, vergleichbar mit einer selbst auferlegten mönchischen Askese. Zugleich bedeutet diese Kompositionsweise die Zurücknahme der eigenen Person und des künstlerischen Anspruchs bis hin zum Verschwinden jeglicher Subjektivität – »Tintinnabuli« nannten die Mönche einst ihre Flucht in Entbehrung und Entsagung. Für den estnischen Komponisten Pärt wurde dieser freiwillige Rückzug der Eremiten zum Credo seines Schaffens und seiner verinnerlichten Musiksprache, wie er es einmal beschrieb: »Tintinnabuli – das ist ein erstaunlicher Vorgang – die Flucht in die freiwillige Armut: Die heiligen Männer ließen all ihren Reichtum zurück und gingen in die Einöde. So möchte auch der Komponist das ganze moderne Arsenal zurücklassen und sich durch die nackte Einstimmigkeit retten, nur das Notwendigste bei sich habend – einzig und allein den Dreiklang.« Abgeleitet vom lateinischen tintinnabuli (Glöckchen) beruht dieser Stil bei Pärt auf der Bindung von Dreiklangstönen an eine Melodiestimme, eingebettet in einen meist homophonen, radikal reduzierten Satz. Diese Glockenklänge des lautmalerischen Tintinnabuli-Stils fanden ihren Ausdruck in Klängen, die aus der Stille heraustreten und wieder in sie eintauchen. Und in der Wiederholung und beständigen Variation kleiner Motive in Stücken, die in meist gleichbleibenden Rhythmen dahinfließen. »Sein Weg führte ihn dazu, den Dreiklang als einen Klangkern zu betrachten, dessen Leuchtkraft ein ganzes Musikstück hindurch wirken kann«, beschrieb es der mit Arvo Pärts Musik eng vertraute Chorleiter Paul Hillier einmal.
Anfangs wurde Arvo Pärt noch belächelt, als er sich nach einer Schaffenspause und dem eingehenden Studium des Gregorianischen Chorals und der frühen Vokalpolyphonie zu Beginn der 1970er-Jahre mit reduzierten minimalistischen Werken und mystischen Klangmeditationen zurückmeldete. Dann aber avancierte er zu einer Kultfigur, wurde gefeiert für seinen asketischen Stil und seine Wiederentdeckung der Spiritualität in der Musik. Dabei verlief der Lebensweg des bescheidenen Komponisten, der kaum öffentlich in Erscheinung tritt und nur selten Interviews gibt, keineswegs geradlinig. Geboren 1935 in dem Städtchen Paide nahe Tallinn und ausgebildet bei seinen Landsleuten Veljo Tormis und Heino Eller, arbeitete Pärt gleichzeitig als Tonmeister beim estnischen Rundfunk und komponierte Filmmusik. Durch die Anwendung westlicher Stilmittel wie Aleatorik und Collage entwickelte er sich in der UdSSR rasch zu einer wichtigen Figur unter den Komponisten mit musikalischen Modernisierungstendenzen. Er komponierte serielle Orchesterstücke und harmonisch äußerst reduzierte Vokalwerke, die mit ihrem spirituellen Gehalt zunehmend Argwohn erregten. Am Ende dieser Auseinandersetzung mit westlicher Avantgarde steht 1968 das kompromisslose Collagewerk »Credo«, das zehn Jahre lang nicht gespielt werden durfte.
Mit einem grundsätzlichen Aufführungsverbot sah sich Pärt in der Sowjetunion indes nie konfrontiert. Gleichwohl nahmen die Repressalien zu und 1980 emigrierte er mit seiner Familie in den Westen, zunächst nach Wien und ab 1981 nach Berlin. Heute lebt Arvo Pärt wieder in seiner Heimat Estland. Zu seinen meistgespielten Werken zählen »Tabula rasa« und »Fratres«. Beide Kompositionen entstanden schon 1977 und sind frühe Beispiele seines neu entwickelten Tintinnabuli-Stils. In den letzten Jahrzehnten konzentrierte sich Arvo Pärt besonders auf sakrale Musik, etwa »Anthem of St John the Baptist« für Chor und Orgel (2004), »Adam’s Lament« für Chor und Streichorchester (2009), »Alleluia-Tropus« für Chor und Streichorchester (2008/10) oder 2017 das Chorstück »And I Heard a Voice« nach der Offenbarung des Johannes (deutsche Erstaufführung am 2. März 2019 innerhalb der BR-Chor-Abonnementkonzerte).
Bereits 1990 komponierte Pärt für den Deutschen Katholikentag eine erste Fassung seiner »Berliner Messe« für vier Vokalstimmen und Orgel, eine Version mit einigen musikalischen Änderungen für gemischten Chor und Streichorchester folgte 1991, eine weitere Bearbeitung der Orgelfassung dann sechs Jahre später. Uraufgeführt am 24. Mai 1990 während eines Pontifikalamtes in der Berliner St. Hedwigs-Kathedrale, orientiert sich das Werk eng am Ordinarium missae mit den Sätzen »Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus« und »Agnus Die«. Zudem enthält die »Berliner Messe« vier Alleluja-Verse zum Weihnachtsfest bzw. die Pfingstsequenz »Veni sancte spiritus«, auf die je nach Anlass der Aufführung – so auch im aktuellen Konzert – nach Pärts eigener Aussage verzichtet werden kann. Alle Rhythmen der Messe beruhen – wie in der Modalrhythmik des Mittelalters – auf einfachen Relationen (kurz-lang), die Musik entfernt sich nur selten vom natürlichen Sprachrhythmus, erhebt sich nie eigenmächtig über die heiligen Worte und meidet komplizierte rhythmische Bildungen.
Hervorstechendes Merkmal der »Berliner Messe« ist das geschärfte Wort-Ton-Verhältnis, die kurze, intensivierende Abweichung vom Prinzip des Note gegen Note deklamierten Textes: »Eine Akzentsilbe kann musikalisch nicht nur rhythmisch, sondern auch melodisch – durch ein Melisma bei sonst strikt durchgehaltener syllabischer Vertonung – ausgezeichnet werden«, erklärt der Musikforscher Leopold Brauneiss. Im Dienste dieser melodischen Hervorhebung einzelner Textsilben steht satzübergreifend eine in den Melodiestimmen auftretende steigende oder fallende Vierton-Folge, die sich den Textsilben anpasst, indem sie sich dehnt oder zusammenzieht. Sie prägt den Beginn jedes Satzes, da sie der Melodiestimme jeder betonten Silbe einen zusätzlichen Ton verleiht.
So erhalten die Worte »Kyrie«, »Christe« und »eleison« des »Kyrie« je einen Zusatzton und werden damit als kurzes Melisma herausgehoben, im »Gloria« sind das erste und letzte Wort jeder Phrase durch einen verlängerten Zusatzton akzentuiert. Auch im »Credo« – einer Dur-Variante seines früheren Werks »Summa« (1977) – verlässt Pärt das Prinzip der syllabischen Vertonung bis auf ein wiederkehrendes, leicht variiertes Dreiton-Motiv auf einzelnen Silben nicht. Wie in einer Motette aus der Epoche der Klassischen Vokalpolyphonie reduziert Pärt bei einzelnen Textabschnitten den Satz auf zwei Stimmen (Sopran und Alt bzw. Tenor und Bass). Bemerkenswert ist, dass dieses Aus- oder Einsetzen eines Stimmpaares scheinbar willkürlich teils mitten im Wort und nicht etwa nur zum Satz- oder Wortbeginn geschieht.
Das »Sanctus« ist den drei unteren Gesangsstimmen vorbehalten, und im schließenden »Agnus Die« wird das musikalische Geschehen zunächst noch extremer ausgedünnt. Gezählte 15 Töne erklingen im Streichorchester, wohingegen die Vokalparts in einem simplen aber überaus genialen Verdichtungsprozess zunächst im Abstand von vier, später von zwei Vierteln und zum krönenden Schluss im Ein-Viertelnoten-Abstand nacheinander einsetzen. Auf diese Weise wird die Bitte um Frieden, ein zentrales Anliegen der Menschheit, zu einem der kontrapunktisch kunstvollsten und am dichtesten gewebten Momente der »Berliner Messe«.
Dass die »Berliner Messe« ein Werk von zeitloser Gültigkeit ist, in dem sich eine Sehnsucht nach der Reinheit des Klangs offenbart und sich Dreiklangstöne wie Glockengeläut in der Stille verlieren, mag seinen Grund letztlich auch in einem elementaren Verlangen Pärts haben: »Ich habe das Bedürfnis, mich zurückzuziehen und etwas Objektives darzustellen. Je mehr wir ins Chaos geworfen werden, desto mehr müssen wir an der Ordnung festhalten. Das ist das Einzige, das uns ein wenig Gleichgewicht bringt und Überblick, Distanz und ein Bewusstsein vom Wert der Dinge verschafft. Je größer dieser Teil von Ordnung und je weiter dieser Flügelschlag, desto mächtiger ist auch die Wirkung eines Kunstwerks.«
Kunst der Synthese
Zu Krzysztof Pendereckis Serenade für Streichorchester. Von Anna Vogt
Krzysztof Penderecki
Serenade
1996/97 entstanden
Widmung: Rudolf Baumgartner
Uraufführung: am 20. August 1996 (Passacaglia)
bzw. 31. August 1997 (Larghetto) in Luzern mit den
Festival Strings Lucerne unter der Leitung von Rudolf Baumgartner
Krzysztof Pendereckis Kompositionen sind auch ein Spiegel seines unerschöpflichen Interesses für die vielfältigen Ausprägungen von Kultur. Dabei begeistert er sich ebenso für die Antike, die Renaissance, für biblische Sujets und alte Kompositionsgattungen wie für die Landschaftsarchitektur und die vielen Baumsorten, die er in seinem Park in Lusławice sammelt. In seinen Werken begegnet er Traditionen auf unterschiedlichste Weise, wie er selbst einmal beschrieb: »Ich habe Jahrzehnte damit verbracht, neue Klänge zu suchen und zu finden. Gleichzeitig habe ich mich mit Formen, Stilen und Harmonien der Vergangenheit auseinandergesetzt. Beiden Prinzipien bin ich treu geblieben […]. Mein derzeitiges Schaffen ist eine Synthese.« Diese Kunst bedarf keines intellektuellen Überbaus, keiner weitschweifigen Erklärungen, sie spricht ganz für sich allein.
So verweist schon der Titel »Serenade« auf eine traditionelle Gattung, und auch die beiden Sätze »Passacaglia« und »Larghetto« greifen bekannte Formen auf. Eine Serenade war ursprünglich ein Open-Air-Ständchen eines jungen Verehrers für seine Angebetete, begleitet nur von einer Gitarre oder einem anderen tragbaren Instrument – großer Ausdruck also, jedoch in einfacher Form. Penderecki plante eine Streicherserenade mit vier Sätzen, von denen er schließlich aber nur zwei ausarbeitete: 1996 die »Passacaglia« und 1997 das »Larghetto«. Im Abstand von einem Jahr wurden sie beim Lucerne Festival uraufgeführt. Die »Passacaglia« folgt dem barocken Vorbild, indem ein melodisches Motiv fortwährend wiederholt wird. Doch anders als in einer barocken Passacaglia ist dieses Kernmotiv – eine chromatische Triole aufwärts, deren letzter Ton fünf Mal nachhallt – nicht ein Ostinato in den Bässen, sondern beginnt in den sonoren Violen, wandert von dort aus durch die verschiedenen Lagen der Streicherbesetzung und ändert dabei immer wieder subtil seinen Charakter.
Das anschließende »Larghetto« öffnet einen ganz anderen atmosphärischen Raum: Violinen, Bässe und Celli beginnen das Werk in ruhigem Fluss, in den sich die anderen Streicher schon bald einfügen und mittragen lassen. Im Mittelteil gewinnt diese gleichsam epische Erzählung an Dramatik. Eine Solovioline erhebt mit virtuosen, drängenden Figuren ihre Stimme aus dem Streichensemble. Doch der dunkle Duktus des Anfangs bahnt sich schließlich wieder seinen Weg – ein instrumentaler Gesang ohne Worte, schwermütig und doch auch hoffnungsvoll.
Interpreten
Das Münchener Kammerorchester zeichnet sich besonders dadurch aus, dass es auf Inhalt und Ausdruckskraft der zeitgenössischen Musik setzt und sie Werken früherer Jahrhunderte gegenüberstellt. In den 1990er-Jahren hat sich die »Edelmusikertruppe« (»Süddeutsche Zeitung«) als wichtiger Klangkörper des Münchener Kulturlebens neu positioniert. Diese Stellung hält das MKO besonders im Bereich der Neuen Musik mit mehr als 90 Uraufführungen und mit Konzertreihen wie den »Nachtmusiken« in der Pinakothek der Moderne.
Neben seinem Engagement im Münchner Jugend- und Sozialbereich ist das MKO u. a. auch mit der Münchener Biennale und dem BR-Chor langjährig verbunden. Mit letzterem hat es seit 1971 und vor allem in jüngerer Zeit regelmäßig Werke etwa von Mozart, Bruckner und Fauré aufgeführt und auf Tonträger eingespielt. International ist das MKO auf zahlreichen wichtigen Konzertpodien zu erleben. In seiner Münchner Abonnementreihe setzt es pro Spielzeit mit einem spezifischen Thema programmatische Akzente. Demnächst gestalten MKO und BR-Chor ein Komponistenporträt-Konzert mit Musik von Anna Thorvaldsdóttir.
Yuval Weinberg studierte Orchesterdirigieren und Gesang an der Buchmann-Mehta School of Music in Tel Aviv, wo er mit einem Exzellenzstipendium gefördert wurde. Darüber hinaus vertiefte er seine Kenntnisse in Chordirigieren bei Grete Pedersen an der Norwegischen Musikhochschule, wo er sein Studium im Sommer 2016 mit einem Master abgeschlossen hat. Zuvor war er Schüler von Jörg-Peter Weigle an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Als Stipendiat des Dirigentenforums des Deutschen Musikrats und des europäischen Kammerchor-Netzwerks Tenso arbeitete er u. a. mit der Cappella Amsterdam, dem Chor der Deutschen Oper Berlin, mit mehreren deutschen Rundfunkchören, dem Nederlands Kamerkoor und dem Schwedischen Rundfunkchor zusammen. Daneben übernahm er Einstudierungen für Bernard Haitink, Herbert Blomstedt, und Tõnu Kaljuste.
2017 verlieh man Yuval Weinberg den Ersten Preis beim Kammerchorwettbewerb Marktoberdorf. Zuvor wurde er als Gewinner des Gary-Bertini-Preises gefördert und mit dem Ersten Preis beim Internationalen Chordirigierwettbewerb in Wrocław sowie dem Jury-Sonderpreis beim Internationalen Wettbewerb für junge Chordirigenten in St. Petersburg geehrt.
Einen Teil seiner Arbeit widmet Yuval Weinberg jungen Sängern, so leitet er den Norwegischen Jugendchor und ab 2019 den EuroChoir. Ferner gibt er Dirigierkurse und Workshops bei den Festivals Europa Cantat und Choralies. Yuval Weinberg arbeitet regelmäßig mit Ensembles wie Det Norske Solistkor und dem SWR Vokalensemble zusammen. Beim BR-Chor trat er schon mehrfach in Erscheinung, so etwa 2017 mit dem Programm »Friede auf Erden« und erst jüngst mit »Loreleys Schwestern« im Jüdischen Gemeindezentrum in München.