Werkeinführungen
Die »Marienvesper« ‒ ein Rätsel
Zu Claudio Monteverdis Sakralwerk von 1610. Von Renate Ulm
Weshalb schreibt ein Komponist ein gewichtiges Werk ohne speziellen Auftrag? Nur aus eigenem Antrieb? Oder gab es doch einen triftigen Grund dafür? Bis heute weiß man wenig über den Anlass der »Marienvesper« von Monteverdi, aber es gibt verschiedene Vermutungen, die viel diskutiert, verworfen und dann wieder aufgegriffen wurden …
Claudio Monteverdi, am Hof der Gonzagas in Mantua als Kapellmeister tätig, hätte zufrieden sein können in diesem hochqualifizierten, künstlerischen Umfeld mit einer der bedeutendsten Kapellen Europas und berühmten Vokalisten, zu denen auch er zählte. Aber er war alles andere als glücklich. Der Herzog warf sein Geld für Prunk und politische Aktivitäten mit vollen Händen hinaus und hatte dann für seinen Kapellmeister, den er aber über Gebühr in Anspruch nahm, kaum mehr etwas übrig. Die Zahlungen kamen schleppend, wurden vergessen oder mit anderen Dingen aufgerechnet. Es war ein ärgerliches Dauerthema für den Künstler. In einigen Briefen beklagte Monteverdi seine missliche, wirtschaftliche Lage und man spürt hinter all den vorsichtig formulierten Forderungen die große Enttäuschung. In Mantua komponierte Monteverdi vor allem Musik für die Festlichkeiten am Hof der Gonzagas, dazu gehörte auch seine erste Oper »L’Orfeo«. Geistliche Werke hatte er schon länger nicht mehr geschrieben. Daher ist es umso verwunderlicher, dass gerade 1610 die Parodie-Messe »In illo tempore« nach einer Motette des franko-flämischen Komponisten Nicolas Gombert und die »Marienvesper« bei dem venezianischen Verleger Ricciardo Amadino in unerhört kurzer Zeit und daher mit zahlreichen Fehlern herausgegeben wurden. Denn im Juli 1610 ist vom bevorstehenden Druck beider Werke in einem Brief eines Kollegen Monteverdis die Rede, im September waren die Stimmen bereits gestochen. Offensichtlich hatte es Monteverdi mit der Veröffentlichung eilig. Das in lateinischer Sprache gehaltene und für mehrere Singstimmen und verschiedene Instrumente vorgesehene Werk überrascht in seiner interessanten Verquickung von altem und neuem Stil, mit der Monteverdi bewusst spielte.
Möglicherweise benötigte Monteverdi die geistlichen Werke, um sich für eine ganz neue Aufgabe zu bewerben, für eine Kapellmeisterstelle an einer großen Kathedrale oder einem Dom. Dafür spräche, dass er die Ausgabe mit den beiden wichtigsten Gattungen der Sakralmusik dem damals amtierenden Papst Paul V. widmete. Das Konvolut der »Marienvesper«, eine Sammlung von verschiedenen, möglicherweise voneinander unabhängigen Stücken marianischen Inhalts, könnte eine Art Bewerbung gewesen sein, mit der sich Monteverdi in Rom an höchster Stelle empfehlen wollte. 1607 war Giovanni Maria Nanino gestorben, der Kapellmeister an Santa Maria Maggiore, der ältesten Marienkirche Roms. Hatte Monteverdi die »Marienvesper« hierfür komponiert? Ob sie vielleicht schon mit Blick auf San Marco in Venedig gedacht war, muss ebenfalls Spekulation bleiben. Tatsache aber ist, dass Monteverdi drei Jahre später eine der bedeutendsten Kapellmeisterstellen der damaligen westlichen Welt erhielt: »Maestro di Cappella della Ducale di San Marco« in Venedig.
Monteverdi lebte in einer Zeit des Umbruchs zwischen Renaissance und Barock, und dies spiegelt die »Marienvesper«. Mit einer ausgeklügelten Mischung aus altem und neuem Stil wollte der Komponist vermutlich belegen, dass er die Kunst der Vokalpolyphonie (Prima pratica) mit Einbindung des Gregorianischen Chorals auf höchstem Niveau beherrschte, aber auch innovativ war und die neue Richtung des monodischen Stils mit feiner Textausdeutung und neuartiger Verwendung der Dissonanzen höchst kunstvoll einzuflechten wusste. Diese neue Kompositionsrichtung bezeichnete er als Seconda pratica, als modernen Musikstil.
So beginnt das Werk mit dem Invitatorium »Deus in adiutorium«/«Domine ad adiuvandum me festina«, auf das fünf Psalmvertonungen folgen, zwischen denen sogenannte Concerti eingefügt sind. Nach der fünften Psalmvertonung schließt sich anstelle des Concerto eine »Sonata sopra ›Sancta Maria‹« an, gefolgt vom Hymnus und dem abschließenden »Magnificat«. Im Druck finden sich zwei »Magnificat«-Versionen, ein siebenstimmiges und ein sechsstimmiges. Die Forschung geht heute davon aus, dass Monteverdi die »Marienvesper« als ein Werk in zwei Varianten geplant hatte: Einmal, um sie für die hohen Marienfesttage mit zahlreichen Instrumenten, die colla parte geführt wurden, zu bereichern, dann eine abgespeckte, hauptsächlich vokale Fassung für kleinere Marienfeiern (im Konzert erklingt das siebenstimmige »Magnificat«).
Der erste Vers aus Psalm 69 »Deus in adiutorium meum intende« (»Gott, eile zu meiner Hilfe herbei«) bildet mit der flehentlichen Bitte um Unterstützung die Ausgangsbasis für die »Marienvesper«. Die Dringlichkeit der Anrufung wird mit dem zweiten Psalmvers »Domine ad adiuvandum me festina« (»Herr, eile mir zu Hilfe«) weiter intensiviert, an den die Doxologie anschließt. Den beschwörend rezitierenden Chorgesang verbindet Monteverdi mit der instrumentalen Toccata aus »L’Orfeo«. Die Monteverdi-Spezialistin Silke Leopold vermutet, dass die Toccata eine Art Auftrittsmusik der Gonzagas war, die gleich einer Signatur immer zu Beginn eines Werkes erklang. Interessant sind die geschmeidigen Wechsel vom geradtaktigen Vokalabschnitt zum beschwingten instrumentalen Dreiertakt, der am Ende sogar in die Alleluja-Freude des Chores hineinwirkt.
Der Psalm 110 »Dixit Dominus« spricht davon, dass Gott die Feinde und Heiden zu Fußschemeln der Gläubigen erniedrigt oder – noch schlimmer – deren Häupter zerschmettert und ergänzt inhaltlich den Hilferuf des Responsoriums. Monteverdi gliedert den Psalm in jeweils zwei Verspaare: einem polyphonen Abschnitt und zwei Falsobordone-Passagen mit einem abschließenden Melisma, das in ein instrumentales Ritornell und am Ende in die Doxologie mündet. Die musikalischen Satztechniken, die Monteverdi facettenreich auf engstem Raum darstellt, sind vom Textinhalt inspiriert. So beginnt das Stück mit dem polyphon spannungsvoll angelegten »Dixit Dominus Domino meo« (»Der Herr spricht zu meinem Herrn«), um dann in einfacher, dabei klar verständlicher Deklamation genau das hervorzuheben, was gesagt wurde: »Sede a dextris meis« (»Setze dich zu meiner Rechten«). Die tänzerischen Melismen nach den Rezitationsabschnitten geben den Psalmvertonungen jene freudige Ausgelassenheit, die wohl die Gläubigen über die göttliche Macht empfinden sollen. In den Ritornelli, die in der vereinfachten Fassung der »Vesper« auch weggelassen werden können, wird wie ein Nachhall der letzte Soggetto aufgegriffen und instrumental weiterentwickelt. Die Doxologie anstelle des abschließenden Ritornells setzt Monteverdi tonal vom Vorangegangenen ab: Um einen Ganzton abgesenkt, bekommt das Tenorsolo im rituellen Schlussgedanken raunenden Charakter, der mit dem Chor dann in einen strahlenden Lobgesang übergeht.
Eine musikalische Kostbarkeit ist »Nigra sum« über einige Verse aus dem Hohenlied für Tenor und Generalbass als »Motetto ad una voce« im monodischen Stil. Der Text, eigentlich von Shulamith gesprochen, die wiederum die Worte Salomos zitiert, wird von einem Tenor gesungen. Das befremdet zunächst, doch der größere Teil dieses Frühlings- und Liebesliedes wird dadurch zur wörtlichen Rede des Königs. Wie Monteverdi mit der Sprachvertonung umgeht, sei hier an zwei Beispielen dargelegt: Zu den Worten »Nigra sum« (»Schwarz bin ich«) muss der Tenor die tiefsten, die dunkelsten Töne seiner Partie singen. Zur Aufforderung »Surge« (»erhebe dich«) erklingt eine stetige Aufwärtsbewegung, auch im Bass, als würde Shulamith von ihrem Lager hochgezogen. Am Ende dieser Miniatur schreitet der Bass Stufe um Stufe wieder hinab. Hier zeichnet Monteverdi tonmalerisch, ohne dass dies im Text auch nur angedeutet würde, wie das Paar wieder auf das Bett niederzusinken scheint.
Ein achtstimmiger Chor mit Instrumentalbegleitung setzt nun zu einem prächtigen Hymnus an: »Laudate, pueri, Dominum«, dem Psalm 113. Den Jubelgesang überträgt Monteverdi in immer neue Stimmkombinationen: polyphon-imitatorisch, deklamierend, in weiten Melismen mit dem Cantus firmus oder syllabisch ‒ prachtvoll ergänzt von den Instrumenten. Dazu deutet er den Text aus wie zu »qui in altis habitat« (»der auf der Höhe wohnt«) und lässt den Bass weit hinauf in die Höhe aufsteigen. Das Amen-Melisma erklingt erst in einem punktierten Satzgewebe aus Sopran-, Alt- und Bassstimmen, wird dann nur noch von den Tenorstimmen zu Ende geführt wie in einem komponierten Decrescendo, einem sich Entfernen und Nachhallen.
Für zwei hohe Stimmen und Generalbass ist das Concerto »Pulchra es amica mia« (»Du bist schön, meine Freundin«) geschrieben. Wie »Nigra sum« stammen die Verse aus dem Hohenlied und wurden, wenn man sie nicht als Liebeslyrik direkt ansehen wollte, zum Synonym für die Liebe zum himmlischen Jerusalem. Mit dem Vers »Averte oculos tuos« (»Wende deine Augen ab«) springt die Gesangslinie ein großes Intervall nach unten, als würde die Schöne ihre Augenlider anmutig senken, um ihr Gegenüber nicht noch mehr zu verwirren und in die Flucht zu schlagen (»avolare«). Diese Flucht wird eher zu einem anmutigen Fangen, das freudig ausgekostet wird. Die Doppeldeutigkeit der Worte ‒ zwischen Glaubensfestigkeit und Liebeslyrik ‒ drückt Monteverdi dabei höchst sensibel aus.
Auch die Vertonung des Wallfahrtspalms 122 »Laetatus sum« (»Ich freute mich«) ergänzt die Betrachtungen der vorangegangenen Motette zu Jerusalem, der mächtigen Stadt mit dem Tempel des Herrn. Auffallend an diesem Stück ist der schon zu Beginn vorandrängende Bass zu den Worten »in domum Domini ibimus« (»Wir werden zum Hause des Herren gehen«). Die Monteverdi-Forscherin Silke Leopold nennt ihn einen »Walking Bass« des 17. Jahrhunderts, der gerade mit Blick auf die Wallfahrer einen ungeheuren Bewegungsimpuls in sich trägt, anfangs in großen Sprüngen, später linear voranstrebt und sofort zu den Worten »stantes erant« (»sie standen«) abbricht. An mehreren Stellen des Psalms wiederholt und steigert sich diese fröhlich-eilende Bewegung. Der »Walking Bass« erklingt auch beim Bestreben, Frieden zu schließen, und unterstreicht zuletzt die eifrige Suche nach dem Guten (»quaesivi bona«).
Nach dem fröhlichen »Laetatus sum« folgt ein zwei- bzw. dreistimmiger Sologesang. Die Verse des Concerto »Duo Seraphim« sind aus »Jesajas Berufung zum Propheten« entnommen: Zwei Engel mit jeweils sechs Flügeln rufen einander zu und singen ein Sanctus. Darauf folgt ein Vers aus dem 1. Johannesbrief an: »Tres sunt qui« (»Es sind drei, die Zeugnis geben im Himmel«). Monteverdi lässt daher zunächst zwei Tenöre als Seraphim im Wechselgesang miteinander konzertieren und das Sanctus singen, zu denen dann ein dritter Tenor (oder Engel) hinzutritt, um die Dreieinigkeit zu bezeugen. Den Vers »et hi tres unum sunt« (»und diese drei sind eins«) deklamieren die drei Sänger im Unisono, wie aus einem Munde, und runden auch diesen Teil mit dem auf drei Stimmen erweiterten Sanctus ab. Die Bibelstellen sind keine marianischen Texte, sondern beschreiben Visionäres, Mystisches. Daher komponierte Monteverdi eine überirdisch schöne, hochvirtuose Musik mit weiten, imitatorisch ausgeführten Melismen und reichen Verzierungen wie dem sogenannten Trillo, einem Vibrieren der Stimme.
Die Vertonung des Psalms 127 »Nisi Dominus« beendet den Ausflug in die Seconda pratica zugunsten einer kunstvoll verflochtenen Vokalpolyphonie mit einem zehnstimmigen Chor bzw. mit zwei Chören und zwei Cantus-firmus-Stimmen. Durch die Doppelchörigkeit ergibt sich ein sphärischer Raumklang parallel zur Auslegung des euphorisch-hymnischen Psalmtextes. Die Vergeblichkeit allen Handelns (»in vanum«), wenn es nicht im Namen des Herren geschieht, setzte Monteverdi in einer wirkungsvoll kreisenden Musik um, die zu diesen Worten einfach nicht vorankommt. Entsprechend betont Monteverdi auch das Wort »frustra« (ebenfalls »vergeblich«) und hebt die Vergeblichkeit durch gedehnte Notenwerte besonders hervor.
Zwischen die biblischen Texte ist das religiös-pastorale Mariengedicht eines anonymen Lyrikers eingestreut, in dem das Echo als übernatürliche Stimme Marias auf die Bitten des Gläubigen zu antworten scheint, wobei der erste Konsonant des Wortes in der Echo-Wiederholung wegfällt und dennoch ein sinnvolles Wort im religiösen Kontext ergibt: »gaudio« (»mit Freude«) ‒ »audio« (»ich höre«). Monteverdi gestaltet das Concerto mit zwei Tenören, die beim Echo-Reim ‒ entsprechend dem Naturphänomen ‒ imitatorisch einsetzen. Überraschend mündet der solistische Abschnitt in einen Chor. Auslöser dafür ist das Wort »omnes« (»Lasst uns alle folgen«). Die direkte Aufforderung des Sängers ermuntert sein Auditorium, nun gemeinsam (als Chor) um die Gnade Marias zu bitten.
Mit dem Psalm 147 »Lauda Jerusalem« schließt sich abermals ein heiterer, vielstimmiger Lobgesang an, in dem der Tenor den Cantus firmus singt und die anderen Chorstimmen mit ihm in einen lebhaften Dialog treten. Dazu gibt es wechselnde Stimm- und Instrumenten-Kombinationen. Monteverdi legt ‒ wie schon zuvor ‒ das Bibelwort musikalisch aus, beschreitet dabei aber überraschende musikalische Wege und erreicht damit, dass er überwältigt und nie langweilt.
Folgte zuvor auf den Psalm jeweils ein vokales Concerto, so schließt die letzte Psalmvertonung mit der »Sonata sopra Sancta Maria«. Gemeint ist die Fürbitte »Sancta Maria, ora pro nobis«, die Monteverdi in einem hauptsächlich instrumentalen Kontext als Variationen über einem Bassmodell aufbaut. Sein Orchester besteht aus acht Instrumenten ‒ zwei Violinen, zwei Zinken, drei Posaunen, und einer Viola, wobei eine der Posaunen auch von einer weiteren Viola übernommen werden kann. Dieses quirlige Musikstück ist wie ein Abbild der turbulenten Welt. In dieses instrumentale Treiben sind elf fast statische Marienbitten eingebaut, die in ihrer meditativen Ruhe einen spirituellen Gegenpol bilden. Dabei werden die Bitten variiert: einmal deklamiert, dann gedehnt oder mit Pausen durchsetzt, einmal im Vierer-, dann im Dreiertakt. Am modernsten klingt die neunte Anrufung, die sich in ihre einzelnen Silben aufzulösen scheint: stockend und seufzend.
Der Hymnus »Ave maris stella« aus dem 8. oder 9. Jahrhundert ist mit seinen sieben Strophen wesentlicher Bestandteil der »Marienvesper«. Anfangs- und Schlussstrophe sind im kunstvollen achtstimmigen Satz für Chor geschrieben, während die fünf mittleren Strophen kleiner besetzt und variiert sind mit meist nachfolgendem Ritornell.
Den krönenden Abschluss der »Marienvesper« bildet das »Magnificat«. Der Text ist dem Lukas-Evangelium entnommen: Maria ist zu Besuch bei Elisabeth und beginnt mit der Lobpreisung des Herrn, nachdem Elisabeth ausgerufen hat: »Gebenedeit bist du unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes!« Die zehn Verse sowie die zwei Verse der Doxologie überträgt Monteverdi in zwölf kleinere Nummern. Diese Miniaturen breiten noch einmal das gesamte Spektrum von Monteverdis Können und die Summe seines fantasievollen Umgangs mit dem Text aus: Mit einem prachtvollen polyphonen Eingangssatz für sieben Stimmen und Zinken, Violinen sowie Generalbass beginnt das »Magnificat«. In jedem weiteren kleinen Satz entfaltet er eine neue Kombination aus Singstimmen und Instrumenten, die immer nah an der Textausdeutung die Freude über Gottes Gnade, die eigene Demut und Zuversicht ausdrücken. Der letzte Satz »Sicut erat« wird effektvoll von allen Instrumenten und Stimmen als klangvoller Schlussgedanke ausgeführt.
Die »Marienvesper« zeigt sich in ihrer starken Diversität als farbenreiches, musikalisches Kaleidoskop, das all die kompositorischen Mittel und Möglichkeiten ihrer Zeit auf höchstem Niveau präsentiert. Ihre Vielfalt und ihre hohe Kunstfertigkeit lassen tatsächlich die Vermutung zu, es sei ein Empfehlungswerk mit Blick auf eine neue Wirkungsstätte gewesen. Doch Monteverdi hatte in Rom kein Glück, möglicherweise wurde seine Musik dort für zu modern empfunden. Doch plötzlich interessierte sich San Marco in Venedig für den Komponisten ‒ die vielen Bitten und Gebete an die Muttergottes in der »Marienvesper« scheinen doch ihre Wirkung gezeigt zu haben.
Musikalischer Neuerer
Zu Claudio Monteverdi. Von Renate Ulm
Als der ehemalige Kapuziner und spätere Weltpriester Bernardo Strozzi (1581‒1644) ab 1630 in Venedig als Porträtmaler wirkte, verewigte er viele seiner venezianischen Zeitgenossen, so auch den Komponisten und Musiker Claudio Monteverdi, seit 1613 Kapellmeister am Markusdom. Monteverdi, der eine der wichtigsten musikalisch-künstlerischen Positionen der damaligen westlichen Welt innehatte, war bereits über 60 Jahre alt und weit über Venedig hinaus berühmt für seine beeindruckende Kompositionskunst, als er von Strozzi porträtiert wurde. Selbstbewusst, aufmerksam, aber auch etwas skeptisch blickt er den Betrachter mit seinen dunklen, klugen Augen an. Charakteristisch sind sein volles noch sehr schwarzes Haar und der gepflegte, fein ausrasierte, graumelierte Bart, dessen Schnurrbartspitzen in die Höhe gezwirbelt sind. Möglicherweise war der Komponist nicht ganz uneitel. Die hohe, klare Stirn verrät den Intellektuellen und die etwas eingefallenen Wangen zeigen ihn eher als Asketen, denn als Genussmenschen. Auf seinen späteren Priesterstand könnten das schlichte weiße Hemd und der schwarze, seidige Mantel hinweisen. Seine Hände, deren Finger wie Wellen über ein Notenbuch zu fließen scheinen, sollen wohl die Geschmeidigkeit seiner Musikerhände darstellen. Sie liegen vielleicht auf einem seiner Madrigalbücher, die seine vollkommene Tonkunst repräsentieren.
Der Komponist, Gambist und Sänger Claudio Monteverdi wurde 1567 in Cremona geboren. Sein Vater Baldassare Monteverdi führte den Beruf des Baders aus. Er sorgte als Arzt wie als Barbier für den Lebensunterhalt seiner Familie. Trotz dieser bescheidenen Verhältnisse setzte sich Baldassare Monteverdi sehr für eine umfassende Bildung und einen fundierten musikalischen Unterricht seiner Söhne am Dom von Cremona ein: Gesang, Instrumentalspiel und Komposition. Der dortige Kapellmeister Marc’Antonio Ingegneri förderte den begabten Jungen, der schon mit 15 Jahren eine erste Werksammlung ‒ »Sacrae cantiunculae« (1582) ‒ veröffentlichte, die freilich noch sehr von der Handschrift seines Lehrers Ingegneri geprägt war. Nach den Anfängen mit geistlicher Musik gab Monteverdi fünf Jahre später sein erstes Madrigalbuch mit weltlichen Gesängen heraus.
Haben seine komponierenden Zeitgenossen wie der jüngere Heinrich Schütz damals auf weiten Reisen durch Europa ihre Eindrücke und musikalischen Kenntnisse vertieft, verließ Claudio Monteverdi nur selten das Gebiet der Lombardei um Cremona und Mantua und das Veneto mit seiner Hauptstadt Venedig. Das mag daran gelegen haben, dass er nach seinen Jugendjahren in Cremona gleich eine erste Anstellung als Instrumentalist auf der Viola im benachbarten Mantua (1590/91) am Hofe des Herzogs Vincenzo I. Gonzaga erhielt. Vincenzo I. war ein Renaissancefürst, der dem kulturellen Leben in Mantua zur außerordentlichen Blüte verhalf und dieses schnell wachsende Kulturzentrum sogar mit einem eigenen Theater für 1000 Zuschauer ausstattete. Als Mitglied der Hofkapelle stieg Monteverdi allmählich vom Musiker zum Sänger und schließlich zum Kapellmeister auf, nachdem er an den Herzog im November 1601 ein Bewerbungsschreiben gerichtet hatte: »Ich bitte flehentlich darum, mir die Stelle eines Meisters der Kirchenmusik und Kammermusik zu gewähren, die ich, wenn mich Eure Güte und Gunst damit würdigen werden, mit der Demut antreten werde, die einem bescheidenen Diener zukommt.«
Am Hofe der Gonzagas hatte er die Sängerin Claudia Cattaneo kennengelernt, die er 1599 heiratete. 1601 wurde ihr Sohn Francesco geboren, 1603 die früh verstorbene Tochter Leonora und 1604 der zweite Sohn Massimiliano. Die größer werdende Familie, zu der auch Vater Baldassare gehörte, benötigte stetig mehr Geld, doch der Herzog war wie immer säumig mit seinen Zahlungen. So war Monteverdi gezwungen, ihn im Herbst 1604 eindringlich um seine seit Monaten ausstehenden Gehälter zu bitten: Sein Brief sei keine »Dreistigkeit«, sondern seiner »großen Notlage« geschuldet. Ohne die Zahlungen sei seine »ganze Arbeit hinfällig und zugrunde gerichtet«, weil ihm »Tag für Tag Widrigkeiten zustoßen«, die zu beheben er keine Mittel habe.
Die finanziellen Nöte wurden zwar hin und wieder behoben, die schleppenden und vergessenen Zahlungen durch den Sekretär des Herzogs blieben aber ein existenzbedrohendes Dauerärgernis für Monteverdi, der zeitweise geradezu mittellos war und alles versuchte, um seine Familie über Wasser zu halten. Damals reiste er im Gefolge des Herzogs mit dem Orchester nach Flandern und lernte dort die berühmte franko-flämische Vokalpolyphonie kennen, die sein kompositorisches Schaffen gerade in den frühen Madrigalen prägte.
In seine Mantuanische Zeit fällt auch eine langjährige Kontroverse mit dem konservativen Musiktheoretiker Giovanni Artusi, einem Verfechter der strengen Kontrapunktregeln und striktem Wahrer der Tradition (Prima pratica), der die musikalischen Neuerungen Monteverdis, beispielsweise seine Dissonanzbehandlung, aufs heftigste attackierte und sie als fehlerhaft anprangerte. Monteverdi ließ sich dadurch in seinem Schaffen nicht beeinflussen, er führte den von ihm entwickelten Stil konsequent weiter (Seconda pratica, der neue, moderne Kompositionsstil, im Vergleich zur Prima pratica, also der »alten« Kompositionsweise). Viele Jahrzehnte inspirierte sein Stil die nachfolgenden Komponisten. Monteverdis Madrigalbücher gelten bis heute als höchste Kunst, in denen die Textausdeutung, das Lautmalerische und die Emotion kongenial miteinander verbunden wurden, und seine Opern legten den musikalischen Grundstein für die jahrhundertelange Entwicklung des Musikdramas.
Das Interesse an der neuartigen Oper aus dem Geist der griechischen Tragödie war in Mantua so groß, dass der Herzog seinen Komponisten Monteverdi beauftragte, ein solches Werk zu komponieren. Nach seinen Kenntnissen der ersten Opernversuche von Jacopo Peri und ihrer schwierigen Umsetzung legte Monteverdi das Augenmerk auf große Sprachverständlichkeit, auf die Charakterisierung der Protagonisten durch besondere Instrumente und auf die instrumentale Ausdeutung der Szene, immer aber unter dem Aspekt der Oper als Wiederentdeckung der antiken Tragödie. Ihm gelang eine der ersten genialen Umsetzungen des Orpheus-Sujets, die fortan Maßstab für alle weiteren Opernkompositionen setzte.
Am 24. Februar 1607 wurde »L’Orfeo« erstmals in Mantua aufgeführt. Orpheus als mythischer Sänger war die ideale Person, mit der die Gattung Oper ihren Einstand geben konnte: Während der Hochzeitsfeierlichkeiten wird Orpheus’ Gattin Eurydike von einer giftigen Schlange gebissen und stirbt. Aus großer Liebe zu ihr wagt es Orpheus, in die Unterwelt hinabzusteigen. Er bewegt mit seinem Gesang Pluto und Proserpina, das Herrscherpaar über die Toten, so dass ihm erlaubt wird, Eurydike wieder mit ins Reich der Lebenden zu nehmen. Er bekommt nur eine Auflage: Er darf sich auf dem Rückweg nicht nach ihr umdrehen. Orpheus jedoch, unsicher, ob seine Frau ihm folgen kann, dreht sich dennoch um – und verliert sie für immer. Da er sich nicht mehr für andere Frauen interessiert, wird er von den wütenden, verschmähten thrakischen Frauen ermordet.
Wie bitter muss es für Monteverdi gewesen sein, dass er ausgerechnet in dem Jahr, in dem »L’Orfeo« erstmals auf die Bühne kam und die große Liebe beschwor, privat Ähnliches durchleiden musste: Seine Frau erkrankte an Schwindsucht und starb. Möglicherweise fand seine Trauer im »Lamento d’Arianna« aus der gleichnamigen, bis auf dieses Stück verschollenen Oper ihren Ausdruck ‒ auch wenn Monteverdi seine Klage um den Verlust des Partners einer Frau in den Mund legte. Dieses »Lamento« bewegt bis heute die musikalische Welt und war zugleich Ausgangswerk für die Gattung des Lamento. Monteverdi veröffentlichte dieses Stück später als fünfstimmige Version in seinem Sechsten Madrigalbuch (1614). Und auch dies verbindet ihn mit Orpheus: Monteverdi heiratete nach dem Tod seiner Frau nicht mehr. Er zog die beiden Söhne alleine auf und ließ sich später sogar zum Priester weihen, so begab er sich aus der weltlichen Sphäre in die geistliche Abgeschiedenheit.
Die persönlichen Schicksalsschläge lassen sich in dem ernsten Gesicht auf Strozzis Porträt ebenfalls herauslesen. Das ist kein Mann, dem alles Glück immer zufloss, sondern einer, der um alles hart ringen musste, gerade am Hof zu Mantua. Natürlich waren die Voraussetzungen für einen Komponisten mit einem außerordentlich guten Orchester und berühmten Sängern und Sängerinnen großartig. Aber Monteverdi fühlte sich am Hofe nicht genügend anerkannt, man nutzte zwar sein Können, zog ihn bis zur körperlichen und geistigen Erschöpfung für Festlichkeiten heran, zahlte aber nach wie vor nur unregelmäßig bis schlecht. Der Herzog gab sein Geld lieber für Prunk und unrealistische politische Ziele aus, was Mantua schließlich in den finanziellen Ruin trieb. Dieser mangelnde Respekt seinem herausragenden Kapellmeister gegenüber ‒ Monteverdi wusste genau, was er wert war ‒, verbitterte ihn fast. Deutliche, erschütternde Worte schrieb er im Dezember 1608 an den Sekretär Annibale Chieppio: Mit den Hochzeitsfeierlichkeiten in Mantua »ließ man mich eine nahezu unmögliche Arbeit ausführen […], und außerdem musste ich unter Kälte, fehlender Kleidung, Knechtschaft und beinahe unter dem Mangel an Lebensmitteln leiden (bedingt durch den Verlust der Unterstützung für meine Frau Claudia und durch den Ausbruch ihrer schweren Krankheit), ohne dass ich von Seiner Hoheit in irgendeiner Weise in der Öffentlichkeit eine Unterstützung erfahren hätte […]. Ich erhielt von Seiner Hoheit eine Pension von 100 Scudi […] nach der Hochzeit waren es […] nur noch 70 (dazu der Verlust meiner zusätzlichen Bezahlung und der Verlust des Geldes für die vergangenen Monate) […] Wenn ich also […] den Schluss aus dem Gesagten zu ziehen habe, so will ich sagen, dass ich in Mantua niemals Gunst und Wohlwollen empfangen habe, sondern vielmehr von meinem widrigen Schicksal den letzten Stoß zu erwarten habe.« Und weiter heißt es in dem langen Brief: »Weil Ihr wisst, dass ich in Mantua krank und unglücklich bin, bitte ich Euch […], mir aus Liebe zu Gott eine ehrenhafte Entlassung aus dem Dienst Seiner Hoheit zu gewähren, weil ich weiß, dass ich daraus mein ganzes Glück gewinnen werde. […] Und was kann mir im schlimmsten Fall anderes passieren, als dass ich arm bleibe, wie ich es schon bin?«
In diesen letzten Mantuanischen Jahren schrieb Monteverdi trotz oder möglicherweise wegen dieser Ungerechtigkeiten sein rätselhaftestes Werk: die »Marienvesper« (»Vespro della Beata Vergine«) aus dem Jahr 1610. Sie gibt sich wie ein überlanges, groß angelegtes Gebet an die Jungfrau Maria mit wiederholten Bitten um Hilfe. Zunächst ergaben Monteverdis Bittgebete nichts, der Herzog entließ ihn nicht: Erst als Vincenzo I. Gonzaga starb (1612), wurden Monteverdi und viele weitere Künstler von seinem Nachfolger Francesco II. entlassen, der die Staatsfinanzen sanieren und die Ausgaben minimieren musste. Monteverdi kehrte zwangsläufig wieder in seine Vaterstadt Cremona zurück.
Doch schon ein Jahr später ‒ 1613 ‒ wurden seine Bitten nach einer besseren Anstellung erhört: Monteverdi erhielt den Ruf an den Markusdom nach Venedig, ein Glücksfall in seinem Leben. Der inzwischen 46-jährige Komponist nahm sofort voller Elan die neue Herausforderung an, gestaltete sein Amt nach seinen Vorstellungen und bewirkte, dass sich die Kirchenmusik in San Marco wieder zu einer weit beachteten Kunst entwickelte. Es folgten seine produktivsten Jahre. Trotz seiner Verpflichtung für die Sakralmusik, komponierte er nach wie vor weltliche Madrigale, die in weiteren Ausgaben erschienen. An diesen Werken lässt sich nachverfolgen, wie sich sein Stil von den Anfängen bis in seine letzten Lebensjahre entwickelte und veränderte. Monteverdi, der sich jahrelang mit Musiktheorie und auch mit den antiken Philosophen zur Musik auseinandersetzte, wollte ursprünglich eine Abhandlung über die »seconda pratica ovvero perfettione della moderna musica«, also »über die Vollkommenheit der modernen Musik« schreiben, doch vermutlich wurde dieses Projekt nie verwirklicht. Wahrscheinlich flossen seine Vorstellungen von einer »neuen« Musik in die Vorworte der Madrigalbücher mit ein, die uns einige Kenntnisse über seine Musikphilosophie überliefern.
Das nächste einschneidende Erlebnis im Leben Monteverdis war die große Pestepidemie in Venedig, die zahlreichen Venezianern den Tod brachte. Eine Folge davon soll seine Entscheidung gewesen sein, sich vom weltlichen Leben zu verabschieden und Priester zu werden. Erstaunlicherweise hinderte es ihn nicht daran, weiterhin weltliche Madrigale und Opern zu komponieren. Auch der Bau des ersten öffentlichen Opernhauses in Venedig (1637) regte seine Beschäftigung mit der noch jungen Gattung erneut an. Viele Opern Monteverdis aus der Zeit in Mantua, für den Hof in Parma und für Venedig sind leider verschollen. Heute werden nach »L’Orfeo« und dem »Lamento« aus der ansonsten verschollenen Oper »L’Arianna« nur noch »Il ritorno d’Ulisse in patria« (1640) und »L’incoronazione di Poppea« (1642) aufgeführt, die seit dem 20. Jahrhundert wieder große Aufmerksamkeit erhalten haben.
In seinem letzten Lebensjahr reiste Monteverdi nochmals nach Cremona und Mantua, um wieder einmal die Pensionszahlungen, die nach Gutdünken geleistet wurden, nun regelmäßig einzufordern. Die Reise und die Verhandlungen müssen ihn zu sehr angestrengt haben, denn als er nach Venedig zurückgekehrt war, raffte ihn eine fiebrige Krankheit dahin. Der 76-jährige Monteverdi starb am 29. November 1643 in Venedig und wurde in Santa Maria Gloriosa dei Frari beigesetzt, der prächtigen Kirche für die glorreiche Muttergottes. An sie hatte sich Monteverdi 1610 in seiner schwierigen Lebenslage mit der »Vespero della Beata Vergine«, seiner »Marienvesper«, gerichtet. Da sich seine Karriere drei Jahre später mit dem Kapellmeisteramt an San Marco wesentlich verbessert hatte und sein Leben in viel glücklicheren Bahnen verlief, war die heilige Maria für ihn wohl seine besondere Schutzpatronin. Möglicherweise war es sogar sein letzter Wunsch, seiner Fürsprecherin in dieser Kirche bis in die Ewigkeit nahe zu bleiben.
Mitwirkende
Das Repertoire der blinden, aus Nürnberg stammenden Sopranistin Gerlinde Sämann erstreckt sich vom Mittelalter bis hin zur Avantgarde und schließt Lieder, Oratorien und Opernpartien ein. Den Schwerpunkt auf Epochen vor der Klassik zeigt ihre Diskographie u. a. mit Aufnahmen zahlreicher Solokantaten, der »Johannes-Passion«, der »Matthäus-Passion« und der h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach, die sie mit dem Ensemble La Petite Bande unter Sigiswald Kuijken einspielte. In Konzerten tritt sie mit Ensembles wie dem Dresdner Kammerchor und der Akademie für Alte Musik Berlin sowie mit Dirigenten wie Ton Koopman und Howard Arman auf. Außerdem war sie bei vielen der bekannten Festivals und auf bedeutenden Konzertpodien in Europa und darüber hinaus zu Gast. Als Solistin fasziniert sie ihr Publikum seit 1991 mit ihrer flexiblen und feinsinnigen Musikalität und ihren sensiblen Interpretationen, die sich vielleicht gerade wegen ihres fehlenden Augenlichts durch eine außergewöhnliche Palette an Klangnuancen auszeichnen. Gerlinde Sämann studierte am Richard-Strauss-Konservatorium in München Gesang und Klavier und ist ausgebildete Atemtherapeutin.
Die Ausbildung der tschechischen Sopranistin Barbora Kabátková ist besonders breit gefächert. Sie studierte zuerst Chorleitung und Kirchenmusik an der Karls-Universität in Prag, wo sie anschließend ihre Studien im Rahmen einer musikwissenschaftlichen Promotion über den Gregorianischen Choral bei David Eben vertiefte. Ab 2009 unterrichtete sie an derselben Universität Gregorianik und erforscht u. a. am Prager Konvent St. Georg die tschechische Choraltradition. Parallel zu ihrer Promotion ließ sie sich von Ivan Kusnjer, Jana Jonášová und Eliška Toperczerová zur Sängerin ausbilden und wird als solche besonders im Bereich der Alten Musik, aber auch in der zeitgenössischen Musik sehr geschätzt. Sie arbeitet mit Ensembles wie dem Collegium Vocale Gent und der Musica Florea zusammen und nimmt an bedeutenden Festivals, darunter der Prager Frühling und die Dresdner Festspiele, teil. Barbora Kabátková ist nicht nur Musikerin und Musikwissenschaftlerin, sondern auch künstlerische Leiterin und Dramaturgin des Mittelalterensembles Tiburtina, mit dem sie auch als Solistin auftritt.
Jan Van Elsacker ist an der Musikhochschule Trossingen wie bei Meisterkursen in Europa ein gefragter Lehrer. Vor allem aber ist er für seine Auftritte in Johann Sebastian Bachs Passionen bekannt. Der leicht geführte Tenor des Flamen, der sein Studium am Royal Flemish Conservatory in Brüssel mit Bravour absolvierte, eignet sich sehr gut für die Aufführung italienischer Monodien des frühen 17. Jahrhunderts. So sang er von 1987 bis 1991 in Ensembles, die sich mit barocker Musik befasst und sich auf das 17. Jahrhundert spezialisiert haben, so etwa das Collegium Vocale Gent, die Chapelle Royale, La Petite Bande und Anima Eterna. Mit dem Ensemble Currende Consort arbeitete er in verschiedenen Projekten zusammen, bei dem er u. a. an den Aufnahmen der Reihe »Flämische Polyphonie« beteiligt ist. Außerhalb von Belgien ist er regelmäßig mit den Ensembles Akademia – Ensemble Vocal Régional de Champagne Ardenne, L’Arpeggiata, Poème Harmonique und Weser-Renaissance zu hören. Außerdem tourte er durch die Vereinigten Staaten, Italien, Frankreich, Deutschland und die Niederlande und trat bei vielen großen Musikfestivals auf.
Der in Amerika geborene Schweizer Sänger David Munderloh studierte drei Jahre lang historische Aufführungspraxis als Fulbright-Stipendiat an der Schola Cantorum Basiliensis. Der Tenor wird regelmäßig für Solopartien in Kantaten und Oratorien, insbesondere von Georg Friedrich Händel und von Johann Sebastian Bach, engagiert. Bei solchen Projekten kooperiert er mit Ensembles wie Le Concert des Nations, Collegium Vocale Gent und dem Kammerchor Stuttgart sowie mit Dirigenten wie Jordi Savall und Frieder Bernius. Im Rahmen seiner langjährigen Mitgliedschaft beim amerikanischen Ensemble Chanticleer arbeitete er mit renommierten Orchestern wie etwa der New York Philharmonic zusammen. Darüber hinaus singt er in verschiedenen weiteren Vokalensembles. Auch als Opernsänger erntet er mit Rollen wie der Titelpartie in Rameaus »Pygmalion« oder Don Ottavio (»Don Giovanni«) viel Lob. Außerdem setzt er sich mit dem Lied auseinander; so hat er zwei Solo-Recitals mit englischen Lautenliedern auf CD veröffentlicht. Für die nächsten Jahre plant er eine Tournee mit romantischen Kunstliedern – begleiten wird ihn dabei Joshua Rifkin.
Der aus Wilmington, Delaware (USA), stammende Tenor Andrew Lepri Meyer tritt auf Opern- und Konzertpodien in den USA und Europa auf. Sein erstes größeres Engagement hatte er als Dr. Cajus in Verdis »Falstaff« am Tanglewood Music Center unter Seiji Ozawa. Seinen Master of Music erhielt er 2002 an der University of Southern California. Seit 2004 lebt Andrew Lepri Meyer in München. Im Wiener Musikverein war er etwa als Hervey in Donizettis »Anna Bolena« an der Seite von Edita Gruberová zu hören und trat in der Münchner Philharmonie als Normanno in Donizettis »Lucia di Lammermoor« zusammen mit Diana Damrau und Joseph Calleja auf. Seit 2006 ist er festes Ensemblemitglied im BR-Chor, was ihm die Möglichkeit eröffnete, mit führenden Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt, Riccardo Muti oder Mariss Jansons auch als Solist zusammenzuarbeiten. Andrew Lepri Meyer kann darüber hinaus auf große Erfolge als Oratoriensänger verweisen. So sang er den Evangelisten und die Arien in der Eröffnungssaison der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles in Bachs »Weihnachtsoratorium«.
Concerto Palatino wurde 1987 vom Posaunisten Charles Toet und dem Zinkenisten Bruce Dickey gegründet, die ihr Können auch an viele junge Instrumentalisten ihres Fachs weitergegeben haben – Musiker, von denen nicht wenige auch regelmäßig mit Concerto Palatino auftreten. Den Namen Concerto Palatino wählte das Ensemble nach einer Gruppe, die vor über 200 Jahren unter dem Namen Il concerto palatino della Signoria di Bologna auftrat. In den Fußspuren dieser früheren Virtuosen möchte Concerto Palatino heute seinen Instrumenten wieder zu einem aktiven und respektierten Platz im Konzertleben verhelfen.
Die Kernbesetzung des Ensembles besteht aus zwei Zinken und drei Posaunen, wird aber häufig durch weitere Blasinstrumente, Streicher oder auch Sänger ergänzt. Das Repertoire von Concerto Palatino umfasst Musik von der ersten Blütezeit der flämischen Polyphonie im frühen 16. Jahrhundert bis in die Zeit von Johann Sebastian Bach. Concerto Palatino trat bereits bei allen wichtigen Festivals in Erscheinung und ist auf zahlreichen bedeutenden Konzertpodien Europas, der USA und Japans vertreten. Zu den Partnerensembles, mit denen Concerto Palatino häufig zusammenarbeitet, gehören etwa Cantus Cölln, das Collegium Vocale Gent oder das Bach Collegium Japan unter Masaaki Suzuki.
Besetzung | Zink: Bruce Dickey, Doron Sherwin, Anna Schall | Posaune: Charles Toet, Claire McIntyre, Yosuke Kurihara | Block-/Traversflöte: Armin Köbler, Liane Ehlich | Violine: Veronika Skuplik, Catherine Aglibut | Viola: Florian Schulte, Lothar Haass | Violone in g / Lirone: Matthias Müller | Theorbe: Simon Linné. Orgel: Max Hanft
Interview mit Howard Arman
Very clever!
Howard Arman erklärt, warum Monteverdis »Marienvesper« genial komponiert und bis ins Detail durchdacht ist.
Die Fragen stellte Alexander Heinzel.
Herr Arman, aus welchen Gründen haben Sie sich entschieden, das Originalklangensemble Concerto Palatino dem BR-Chor beiseite zu stellen
Es gibt kein zweites Ensemble wie Concerto Palatino, das einerseits große Erfahrung mit der »Marienvesper« mitbringt, andererseits die Bereitschaft, sie immer wieder neu anzuschauen. Ich kenne Concerto Palatino schon seit unserer ersten Zusammenarbeit vor etwa dreißig Jahren. Daher fiel die Entscheidung nicht schwer: Für mich gibt es keine besseren, die sozusagen auf Augenhöhe mit unserem Chor musizieren.
Monteverdis »Marienvesper« war zu ihrer Entstehungszeit vor 400 Jahren avantgardistische Musik, heute ist es Alte Musik. Wie kann es gelingen, das Moderne, das vielleicht Exzentrische herauszuarbeiten?
Monteverdis »Marienvesper« von 1610 steht mit einem Fuß im alten Jahrhundert und mit einem Fuß im neuen. Das ist symbolisch für das, was in diesem Stück passiert. Für das alte Jahrhundert stehen die traditionellen Elemente wie Falsobordone-Rezitation, Cantus-firmus-Technik, motettischer Satz und rhythmischen Proportionen. Zukunftsweisend sind die harmonischen und rhythmischen Kühnheiten wie vor allem die Monodie mit Basso continuo. Allein diese Kontraste bieten ein großes Spannungsfeld.
Außerdem gibt es kaum einen Vers in der »Marienvesper«, der nicht musikalisch ausgedeutet wird. Monteverdis zum Teil dramatische Auffassungen der Texte bieten wichtige Impulse für das Musizieren. Nach den Madrigalsammlungen, die Monteverdi zuvor veröffentlicht hat, verwendete er den Begriff »seconda pratica« um die neue, monodische Musik zu beschreiben.
Dass sich seine Neuerungen aus dem Bestehenden entwickelten, wollte er mit dem neuen Begriff zum Ausdruck bringen. Als Antwort auf die Angriffe von konservativen Musikern wie Giovanni Artusi war das very clever! Für Monteverdi bedeutete es regelrecht einen Ansporn: Wie kann ich diese alten Elemente in die Musik der neuen Zeit hereinbringen.
Also: Die »Marienvesper« ist dann verständlich, wenn wir ihre stilistische Bandbreite verstehen, und es eben nicht exzentrisch musizieren.
Tatsächlich probiert Monteverdi in jedem Teil wieder neue Modelle und neue Kombinationen aus …
… richtig, etwa die Psalmen der »Marienvesper«, die sind für uns wie fünf vollkommen unterschiedliche Welten. Vielleicht so ähnlich wie bei einem Händel-Oratorium, in dem man altenglische Kirchenmusik, italienische Moderne, französische Hofmusik und volkstümliche Weisen finden kann. Ebenso wie bei Händel wird das Publikum der Monteverdi-»Marienvesper« damals all diese Verknüpfungen von Alt und Neu mit Genuss als Abwechslung wahrgenommen haben.
Die »Marienvesper« ist zunächst liturgische Musik, aber schon im Erstdruck finden sich aufführungspraktische Hinweise für unterschiedliche Aufführungssituationen und Besetzungsgrößen. Ist ihr Weg in den Konzertsaal schon in der Komposition angelegt?
Zu dieser Frage gehört eine andere: Sollen diese Stücke überhaupt alle hintereinander gespielt werden? Handelt es sich um ein Gesamtwerk? Die Antwort ist gleichermaßen ja und nein, sowohl als auch. Der Druck beinhaltet Psalmen und Concerti für Solostimmen. Im Gegensatz zu vielen anderen Komponisten hat Monteverdi die Concerti bewusst zwischen die Psalmen gesetzt, sodass der Druck zweifelsohne als Anthologie zu sehen war. Hier konnte ein Kapellmeister einzelne Stücke nach Bedarf herausnehmen. Sehen wir die »Marienvesper« als Gesamtwerk, dann ersetzen Monteverdis Concerti die Antiphonen, die nach jedem Psalm gesungen werden – eine belegte Praxis aus der Zeit.
Gregorianische Choräle sind unerlässliche Bestandteile einer Vesper. Sie vervollständigen die Architektur eines komplexen Werkes wie der »Marienvesper«, so dass es für mich selbstverständlich erschien, Choräle für unsere Aufführung zusammenzustellen. Ich habe Choräle aus einem italienischen Antiphonale von 1607 gewählt. Monteverdi wird diese oder Ähnliche gekannt haben.
In der Konzertsituation bedeuten die Antiphonen keine Liturgie, aber sie geben dem Werk seine Form, lassen es atmen und seinen eigenen Binnenrhythmus in der Abfolge von Choral, Motette und Concerto finden.
Was bedeutet das für die Gesamtarchitektur der »Marienvesper«?
Psalmen sind wie Gebäude. Wenn ich nicht ein paar Schritte zurücktreten kann, gelingt es nicht, das Gebäude als Ganzes zu sehen. Und genau diesen Abstand schaffen die Antiphonen bei der Vesper.
Zur Gregorianik gehören etwa auch Lesungen und Segnungsgebete. Die wirken sich ebenso auf die gesamte Statik der »Marienvesper« aus. Lassen wir das Werk mit dem Magnificat verklingen, ist es ein »Hurra!«-Schluss. Wenn dann aber noch Choral folgt, die Oratio, das Benedicamus, das Gebet für die Verstorbenen, dann ist man auf einer anderen Wahrnehmungsebene. Dann schließt das Werk extrem zurückgenommen und führt wieder zurück zum Wort – mit dem die Vesper begonnen hat.
Ist die Marienvesper überhaupt ein Werk für Chor?
Auch hier: ja und nein. Monteverdi stellt in seiner Musik so etwas wie gedankliche Strukturen her, natürlich verbunden mit Klangidealen, aber noch nicht definiert durch sie. Das ist ein erheblicher Unterschied! Selbstverständlich klingt die »Marienvesper« mit nur einem Sänger pro Stimme großartig. Meine Herangehensweise ist eine andere: Oft gelingt es mit Chor nicht zufriedenstellend, weil man beispielsweise Transparenz verliert. Auch suggerieren die heutigen Notenausgaben, dass man einen gemischten Chor zur Ausführung braucht, also mit Sopran, Alt, Tenor, Bass. Monteverdi hatte das nicht. Er hatte hohe und tiefe Tenöre, keine Altistinnen, dafür falsettierende Männerstimmen. Wenn heute also Alt- und Tenorstimmen im gleichen Tonhöhenbereich singen, entsteht ein klangliches Ungleichgewicht. Deshalb habe ich öfters Stimmen anders aufgeteilt, damit alle in ihrer optimalen Stimmlage singen. Dabei werden beispielsweise Passagen nur von Männern gesungen. An anderer Stelle besetze ich dann nur drei Sängerinnen oder Sänger pro Stimme. Oder es singen nur Soprane mit den Männerstimmen.
Es gibt keinen »Normalfall«, jede musikalische Situation ist individuell. Dadurch bekommt dieses Werk eine Dreidimensionalität, einen Glanz, eine Unmittelbarkeit. Ich hatte ja darauf hingewiesen, wie unterschiedlich im Charakter die Psalmen der Marienvesper sind! Auf diese Weise kann ich die Unterschiede noch klarer herausarbeiten …
… also eine komplett andere Vorbereitung und Probenarbeit als etwa bei einer Haydn-»Schöpfung«?
Ganz richtig, vollkommen anders! Etwa die Frage, an welchen Stellen welches Instrument eine Vokalstimme mitspielt, wo Instrumente vielleicht anders artikulieren als die Sänger. Hinzu kommen Fragen der Stimmhöhe und des Stimmsystems. Wir musizieren auf dem A-Stimmton 465 Hz und in einer mitteltönigen Stimmung, also nicht wie eine moderne, »temperierte« Klavierstimmung. Aus all diesen Elementen entsteht ein neues, ganz individuelles Gesamtkonzept.
Herr Arman, vielen Dank für dieses Gespräch.