Werkeinführung
»Near Christmas«
Von Anna Vogt
Benjamin Britten
* 22. November 1913 in Lowestoft (England)
† 4. Dezember 1976 in Aldeburgh (England)
A Ceremony of Carols
Entstehung des Werks: 1942–1943
Uraufführung: Dezember 1942 in einer ersten,
kürzeren Fassung als Seven Christmas Carols;
Dezember 1943 in der vollständigen Fassung
unter dem Titel »A Ceremony of Carols« in der
Londoner Wigmore Hall mit dem Morriston Boys’ Choir und
Maria Korchinska (Harfe) unter der Leitung von Benjamin Britten
Men of Goodwill
Entstehung des Werks: 1947
Uraufführung bzw. Erstausstrahlung: Weihnachten 1947
in der BBC mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Walter Goehr
Weihnachtswerke auf einem Konzertprogramm im Februar zu finden, mag manch einen überraschen. Doch im christlichen Kalender erstreckt sich die Weihnachtszeit bis zum 2. Februar, wenn Mariä Lichtmess gefeiert wird. Mehr oder weniger eng mit dem eigentlichen Weihnachtsfest sind auch die beiden heute zu hörenden Kompositionen von Benjamin Britten verknüpft: Die »Ceremony of Carols« für Knaben- bzw. Frauenchor und Harfe ist eine Feier der Hoffnung und der fast kindlichen, vorweihnachtlichen Freude – oder, wie Britten in einem Interview in seiner typisch lapidaren Art bemerkte, »beinahe eine Weihnachtsmusik« (»a near Christmas piece of music«). Und der Variationenzyklus »Men of Goodwill« für Orchester basiert nicht nur auf einem bekannten englischen Christmas Carol, sondern wurde auch für ein Radio-Special zu Weihnachten 1947 komponiert.
In seiner Liedersammlung »A Ceremony of Carols« stellte Benjamin Britten eine ganz individuelle Weihnachtsgeschichte zusammen und verwendete dazu eine musikalische Sprache, die zwar aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stammt, aber mit deutlichen Rückbezügen zu vergangenen Epochen spielt. Entstanden waren die Lieder allerdings unter sehr unweihnachtlichen Umständen: Britten und sein Lebensgefährte Peter Pears entschlossen sich 1942 nach drei Jahren im freiwilligen Exil in den USA zur Rückkehr nach Großbritannien. Auf einem schwedischen Schiff, der Axel Johnson, traten sie im Mai 1942 den langen Weg über den Ozean an, die Reise dauerte immerhin fast einen Monat. Bei einem Zwischenhalt im kanadischen Halifax stieß Britten bei einem Buchhändler auf eine Sammlung von mittelalterlichen Gedichten mit dem Titel »The English Galaxy of Shorter Poems«, herausgegeben von Gerald Bullett. Auf der weiteren Fahrt machte sich Britten sogleich an die Vertonung von zunächst fünf dieser Gedichte (Nr. 3, 5, 6, 8 und 10) für Knabenchor und Harfe, hatte er doch auf dem Schiff eine Handharfe zur Verfügung – und reichlich Zeit. Dazu kamen noch die Nr. 4b (»Balulalow«) und »Hodie Christus natus est« (zunächst auf die Noten des späteren »Wolcum Yole!«). Britten bündelte die anfänglich einzeln konzipierten Lieder zu einer Sammlung und gab ihnen für die Uraufführung im Dezember 1942 den Titel Seven Christmas Carols. Ein Jahr später, vor der Drucklegung des Zyklus, ergänzte Britten zwei weitere Gesänge (Nr. 4a und 9) sowie ein ausgedehntes Harfen-Solo (Nr. 7) und entschied sich dafür, den Zyklus mit »Hodie Christus natus est« einzurahmen – nun aber basierend auf der Melodie des gleichnamigen gregorianischen Chorals (Nr. 1 und 11). Dem dadurch »freigewordenen« Liedsatz unterlegte Britten die Worte des »Wolcum Yole!«. Das vollständige Werk wurde am 4. Dezember 1943 unter der Leitung von Britten in der Londoner Wigmore Hall uraufgeführt und mit Begeisterung aufgenommen. Es trägt seitdem den Titel »A Ceremony of Carols« und hat sich längst einen festen Platz in Konzerten rund um das Weihnachtsfest sichern können.
Carols sind in englischsprachigen Ländern gemeinhin Lieder mit Bezug zu Weihnachten, meist religiösen Ursprungs, aber nicht unbedingt für den Gebrauch in der Kirche gedacht – vergleichbar also mit unseren Weihnachtsliedern. Sie haben oft einen fröhlichen, beschwingten Charakter und sind bei den singfreudigen Engländern äußerst beliebt. Die Texte der meisten Carols in Brittens Sammlung sind in Mittelenglisch verfasst, das man zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert auf den britischen Inseln gesprochen hat. Sie beziehen sich fast alle auf die Weihnachtsgeschichte, abgesehen von einigen Ausnahmen wie dem »Spring Carol«(Nr. 9), einem Lied über den Frühling.
Die Gesänge sind in zwei Gruppen unterteilt, die von einem ausgedehnten Harfen-Zwischenspiel voneinander getrennt und von einem gregorianischen Choral umrahmt werden. Innerhalb dieses Rahmens präsentiert Britten verschiedene Liedtypen und Kompositionsformen wie das sanft verfremdete Wiegenlied (Nr. 4), Imitationspassagen oder den Wechselgesang liturgischen Ursprungs. Immer wieder treten dabei Stimmgruppen oder einzelne Stimmen solistisch hervor. Kennzeichnend sind zudem das bewusste Auskosten von Klängen, der behutsame Umgang mit Konsonanz und Dissonanz sowie der Rückbezug auf kirchenmusikalische Formen vergangener Jahrhunderte. Zugleich aber sind seine Carols Ausdruck einer ganz eigenen emotionalen Welt, die energiegeladen, verspielt und klangprächtig ist. Eine besondere Bedeutung kommt der Harfe zu: Sie ist ein ungewöhnliches Begleitinstrument, scheint aber zugleich mit ihren positiven Konnotationen an Himmels- und Engelsmusik, die seit Jahrhunderten mit ihrem Klang verbunden werden, der ideale Partner für einen Chorsatz zu sein, der ja ursprünglich für Knabenstimmen geschrieben wurde – den Inbegriff an vokaler Reinheit.
Auch für »Men of Goodwill« griff Britten auf ein bekanntes Christmas Carol zurück, das er instrumental verarbeitete: »God Rest Ye Merry, Gentlemen«. Dieses traditionelle englische Weihnachtslied stammt vermutlich aus dem mittleren 18. Jahrhundert und kreist um die Geburt und das Leben von Jesus Christus. Das Lied ist einfach und volkstümlich und hat, obwohl es in Moll gesetzt ist, doch einen heiteren, beschwingten Charakter, aber auch einen kirchlichen Ernst. Es findet sich schon in wichtigen Sammlungen im frühen 19. Jahrhundert und verbreitete sich schnell, wurde unter anderem von Charles Dickens in seiner 1843 veröffentlichten Geistererzählung A Christmas Carol zitiert. In Brittens Komposition stellen die Blechbläser am Anfang die Originalmelodie prunkvoll vor, bevor sie von den Holzbläsern leise und in einer ganz anderen Klangfarbe noch einmal wiederholt wird. In den folgenden fünf Variationen wird das Thema zum Akteur einer kurzweiligen musikalischen Bildergeschichte, in der es in immer neuen Gestalten und Kontexten auftaucht: etwa in einem rasanten Allegro molto, in einem weichen, mit Dämpfer gespielten Andantino mit Harfenbegleitung oder auch in einer Art Marsch mit charakteristischen Trommelrhythmen.
Britten komponierte diesen Orchesterzyklus für ein BBC-Special, das am Weihnachtstag 1947 ausgestrahlt wurde. Unter dem Motto »A Christmas Journey Across the World« wurden verschiedene persönliche Nachrichten von Berühmtheiten aus Europa und dem ganzen Commonwealth im Radio gesendet, die sich mit den Variationen von Brittens Komposition abwechselten. Danach folgte die Weihnachtsrede von König George VI. Erst 1982 wurde Men of Goodwill veröffentlicht, und seitdem fand es allmählich seinen Weg auch aufs Konzertpodium. Das Lied, auf dem das Werk basiert, setzte dagegen seine Erfolgsgeschichte fort: »God Rest Ye Merry, Gentlemen« wurde im letzten Jahrhundert auch von der Unterhaltungsmusik entdeckt – und von Berühmtheiten wie Bing Crosby und Ella Fitzgerald verjazzt.
Der Raum der Kathedrale
Von Wolfgang Stähr
Ralph Vaughan Williams
* 12. Oktober 1872 in Down Ampney (Gloucestershire / England)
† 26. August 1958 in London
Fantasia on a Theme by Thomas Tallis
für zwei Streichorchester
Entstehung des Werks: 1910
Uraufführung: September 1910 mit dem London Symphony
Orchestra unter der Leitung des Komponisten in der Kathedrale von Gloucester.
Ein »Land ohne Musik«? Seit 1695, nach dem Tod von Henry Purcell, hatte Großbritannien für eine quälend lange Zeit keinen einzigen Komponisten von Weltgeltung hervorgebracht – und sah sich zunehmend dem Spott der zentraleuropäischen Nationen ausgesetzt, die in Sachen Tonkunst so ungleich produktiver waren. Nicht dass die Briten die Musik verschmähten, ganz im Gegenteil: Frenetisch feierten sie sogar ihre »Importe« vom Kontinent, die auf der Insel wirkten, ganz einerlei, ob es sich um Georg Friedrich Händel, Joseph Haydn oder Felix Mendelssohn Bartholdy handelte. Bis jedoch ein Landsmann international wieder für Furore sorgte, mussten sage und schreibe zweihundert Jahre vergehen. Edward Elgar hieß der Pionier, der das Vereinigte Königreich 1899 mit der Uraufführung der »Enigma Variations« wieder zurück in den Kreis der großen Musiknationen führte und sich danach mit zwei Symphonien, seinem Cellokonzert und natürlich auch dem unverwüstlichen »Pomp and Circumstance«-Marsch Nr. 1 fest im Repertoire verankerte.
Der Bann war damit gebrochen, aber der nachfolgenden Generation blieb es aufgetragen, die Renaissance der britischen Musik fortzuschreiben. Ralph Vaughan Williams, 1872 in der Grafschaft Gloucestershire geboren, zählte zu jener Riege, die in Elgars Fußstapfen treten wollte und sollte. Seine Voraussetzungen waren dabei nicht die schlechtesten: Vaughan Williams stammte aus einer bedeutenden Anwalts- und Gelehrtenfamilie (kein Geringerer als Charles Darwin war sein Großonkel), materielle Sorgen musste er nicht fürchten, und er genoss eine gründliche Ausbildung bei Hubert Parry in London, Max Bruch in Berlin und Maurice Ravel in Paris, der ihm den Grundsatz »komplex, aber nicht kompliziert« einschärfte. Obendrein sammelte er früh schon praktische Erfahrungen als Geiger und Bratschist, gründete einen Chor in Cambridge, wirkte als Organist an der Kirche St. Barnabas im Londoner Stadtteil South Lambeth und wurde sogar von der Church of England zum Herausgeber eines neuen Gesangbuchs berufen, »The English Hymnal«, das 1906 erscheinen konnte. Im Zuge dieser Arbeit vertiefte sich Vaughan Williams in die Geheimnisse der englischen Vokalpolyphonie aus der goldenen Tudor-Ära und stieß zwangsläufig auf Thomas Tallis, der mit seiner vierzigstimmigen Motette »Spem in alium« ein Gipfelwerk der Renaissancemusik geschaffen hatte.
Als Vaughan Williams wenig später gebeten wurde, ein neues Stück für die berühmte Kathedrale von Gloucester zu schreiben, das im Rahmen des Drei-Chöre-Festivals 1910 uraufgeführt werden sollte, muss ihm dieses Vorbild, ein Geniestreich raummusikalischer Gestaltung, sofort in den Sinn gekommen sein. Vaughan Williams kannte die im normannischen Stil errichtete Kathedrale, deren Baugeschichte bis ins 11. Jahrhundert zurückreicht, sehr gut; er wusste genau, wie sich ihre besonderen Proportionen auf die Resonanz auswirken oder welche akustischen Eigenheiten bei einer für diesen Raum bestimmten Partitur zu bedenken wären. Als Ausgangspunkt für seine Komposition schien ihm deshalb eine Melodie von Tallis besonders geeignet, die der Renaissancemeister zu den Anfangsworten des 2. Psalms (»Warum toben die Heiden«) für einen 1567 veröffentlichten Psalter des Erzbischofs von Canterbury, Matthew Parker, geschaffen hatte: in der alten phrygischen Kirchentonart, klagend im Charakter und sprachähnlich im Duktus, der ganz auf die Deklamation der biblischen Worte ausgerichtet ist.
»Fantasia on a Theme by Thomas Tallis« nannte Vaughan Williams sein Werk, das er für zwei Streichorchester und ein solistisch exponiertes Streichquartett erdachte. Das Originalthema von Tallis erklingt erstmals nach sechs mystisch wirkenden Einleitungsakkorden: Unter hohen Liegetönen der Violinen wird es zunächst von den Bratschen, Violoncelli und Kontrabässen leise, aber mit Nachdruck gezupft, um dann im Verlauf der Fantasie durch die verschiedenen Stimmen und Besetzungsformationen zu wandern, in wechselnder Artikulation, Klanglichkeit und dynamischer Abstufung. Freilich belässt es Vaughan Williams in seiner Tallis-Hommage nicht bei der Verwendung dieses Originalzitats – viel wichtiger noch ist seine Reverenz an die Mehrchörigkeit, die er schon durch die räumliche Trennung seiner drei Klangkörper, also der beiden unterschiedlich stark besetzten Streichorchester und des (eventuell höher postierten) Quartetts erzielt. Diese drei Gruppen agieren teilweise gemeinsam als großes Tutti, sie können aber auch in bis zu dreißig Stimmen aufgefächert werden; immer wieder treten sie dabei in ein antiphonales Wechselspiel, reagieren echoartig aufeinander oder setzen terrassendynamische Effekte um. Den Raum der Kathedrale habe Vaughan Williams »unmittelbar in die Struktur und Linienführung der Musik übertragen und eingewoben«, berichtete seine Gattin Ursula.
Mit der Wahl von Tallis rief Ralph Vaughan Williams die große Vergangenheit der britischen Musik in Erinnerung und schärfte sein Profil durch eine Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln. Trotz der archaisch wirkenden, modalen Harmonik präsentiert er sich aber zugleich auch als Meister der Gegenwart, denn er reizt die Klangfarben, die Mischung der instrumentalen Timbres, so raffiniert aus, wie man es sonst nur aus dem sogenannten musikalischen Impressionismus kennt. Die Uraufführung am 6. September 1910 mit dem London Symphony Orchestra geriet zu seinem ersten nachhaltigen Erfolg: »Von Anfang bis Ende ist man nie ganz sicher, ob man etwas ganz Altes oder etwas ganz Neues hört«, staunte die ehrwürdige Londoner Times. Dass dieses Werk später sogar in die Filmmusik und in die musikalischen Manipulationen der Werbeindustrie Eingang finden sollte, das allerdings hätte sich damals noch niemand träumen lassen.
»Eine Tortur für jeden aufrechten John Cager«
Von Nicole Restle
Leonard Bernstein
* 25. August 1918 in Lawrence (Massachusetts / USA)
† 14. Oktober 1990 in New York City
Chichester Psalms
Entstehung des Werks: 1965
Uraufführung: Juli 1965 in New York mit dem New York
Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Leonard Bernstein
Leonard Bernstein hatte hochfliegende künstlerische Pläne, als er sich 1964 ein – wie er es nannte – »sabbatical year« gönnte. Um endlich wieder Zeit zum Komponieren zu haben, ließ er sich für fünfzehn Monate von seinen Verpflichtungen als Chefdirigent des New York Philharmonic Orchestra, das er bereits seit sechs Spielzeiten geleitet hatte, beurlauben. Er beabsichtigte, in dieser Zeit ein neues Bühnenwerk zu schaffen, mit dem er an den Erfolg seines 1957 uraufgeführten Musicals »West Side Story« anknüpfen wollte. Als Vorlage hatte er sich »The Skin of Our Teeth« von Thornton Wilder ausgesucht. Doch trotz der Muße und Ruhe ging die Arbeit nicht so recht voran. Dem Trend der Zeit entsprechend übte er sich in der Zwölftonmusik und anderen atonalen Kompositionstechniken, musste aber bald erkennen: Diese Musiksprache war nicht die Seine. »Stundenlang brütete ich über Kunst, / Wie man Musik veredelt, verhunzt.« Bernstein trug es mit Humor und äußerte sich über die Irrungen und Wirrungen seines Sabbaticals in launigen Versen. Als Reaktion auf das eigene »Herumexperimentieren« entstanden die »Chichester Psalms«, die er in Reimform wie folgt beschrieb: »Diese Psalmen sind einfach: bescheidene Lieder, / Tonal und melodisch, beinahe bieder, / Für aufrechte John Cager garantierte Tortur, / Mit Tonika und Dreiklang in simplem Es-Dur [im engl. Original: B-Dur! Anm. d.A.]. / Aber da stehen sie nun als Endresultat / Meiner Forschungsreise durch die Avantgarde.« (deutsche Übertragung von Elly Weiser)
Kein großes Musiktheater also, sondern ein kleines, kirchenmusikalisches Werk – das war das künstlerische Ergebnis der kreativen Auszeit. Obwohl Bernstein das Projekt »The Skin of Our Teeth« beiseitelegte, warf er die bereits dafür geschriebene Musik nicht einfach in den Papierkorb – wie ein Brief des Komponisten vom Mai 1965 an die befreundete Katherine Raffy belegt: »Ich habe mein Werk für das Sommerfestival in Chichester beendet: die Vertonung verschiedener Psalmen in drei Sätzen und in hebräischer Sprache. Ich finde sie süß und rührend, und ich hoffe, die Briten tun dies auch. Ich habe dabei einen guten Teil des Materials von »Skin of Our Teeth« verwendet und es den hebräischen Worten angepasst – aber das bleibt unser Geheimnis!«
Das erwähnte Festival, das alljährlich in der Kathedrale der südenglischen Bischofsstadt Chichester stattfand und von den Chören von Chichester, Winchester und Salisbury gemeinsam veranstaltet wurde, zeichnete sich durch eine Besonderheit aus: Sein Schwerpunkt lag auf der Präsentation zeitgenössischer, geistlicher Chorwerke. Durch die Vermittlung seines Freundes Cyril Solomon erhielt Bernstein den Auftrag, für das Festival des Sommers 1965 eine neue Komposition beizusteuern. Walter Hussey, Dekan der Kathedrale von Chichester, klärte Bernstein genau über die vokalen und orchestralen Kapazitäten auf, die er zur Verfügung stellen konnte: »Als Streichorchester werden wahrscheinlich die Philomusica of London mitwirken, ein erstklassiges Ensemble. Zusätzlich könnten wir ein Klavier, eine Orgel, ein Cembalo und – falls gewünscht – ein Blechbläser-Consort (drei Trompeten, drei Posaunen) anbieten. Ein ganzes Symphonieorchester ist in Hinblick auf den Platz und die Kosten sowie angesichts der Tatsache, dass die Stärke der drei Kathedralchöre ungefähr 70 bis 75 Sänger (alles Knaben und Männer) beträgt, völlig unmöglich […]. Ich hoffe, Sie fühlen sich frei genug, das zu schreiben, was Sie wollen, und empfinden die Umstände nicht als Beschränkung. Ich denke, dass viele von uns sehr erfreut wären, wenn Ihre Musik eine Anspielung auf die West Side Story enthalten würde.«
Husseys Ausführungen machen deutlich: Verglichen mit der Größe des Chores war das vorgegebene Instrumentarium eher bescheiden. Bernstein fügte diesem zwar noch zwei Harfen und Percussion hinzu und verzichtete dafür auf die angebotenen Tasteninstrumente, was jedoch nichts am Gewicht der Gesangsstimmen ändern sollte. Dies spiegelt sich auch in der Kompositionsweise wider. Der Chor ist weitgehend Träger des musikalischen Geschehens, während die Instrumente vor allem dazu dienen, die Vokalstimmen zu begleiten, zu verstärken und rhythmische Akzente zu setzen.
Obwohl die »Chichester Psalms« für ein christliches Kirchenmusikfest geschrieben sind, bestand Bernstein darauf, dass die Psalmtexte in hebräischer Sprache gesungen werden. Als Sohn eines Rabbiners hatte er sich seit frühester Jugend mit dem jüdischen Ritus und seinen Gesängen auseinandergesetzt und − mehr noch – auch vollkommen damit identifiziert. »Ich glaube, ich hätte ein ganz annehmbarer Rabbi werden können. Doch davon konnte keine Rede sein, denn Musik war das einzige, was mich erfüllte.« Auch wenn er kein Geistlicher wurde, so nutzte Bernstein doch Zeit seines Lebens die Musik dazu, dem jüdischen Glauben als Künstler zu dienen – angefangen von seinem Opus 1, der Vertonung des 148. Psalms für Gesang und Klavier aus dem Jahr 1935, über die Symphonien Nr. 1 und 3 (»Jeremiah« und »Kaddish«) sowie das Chorwerk »Hashkiveinu« bis hin zu seinem Konzert für Orchester »Jubilee Games«, das er 1989 für das 50-jährige Bestehen des Israel Philharmonic Orchestra komponierte.
Seine »Chichester Psalms« gelten als Beitrag zur jüdisch-christlichen Ökumene, weil die Psalmtexte zu den bedeutendsten theologischen Schriften beider Religionen gehören. Die motivisch-melodische Gestaltung der Komposition entspringt allerdings eindeutig der Tradition des Synagogalgesangs. Die Art der Melodiebildung, die häufigen Seufzerfiguren und das Nebeneinander von Dur- und Mollklängen – all das verweist auf jüdische Wurzeln. Die musikalische Urzelle der Chichester Psalms, eine absteigende Quart-Sekund-Tonfolge, findet sich ebenfalls häufig in jüdischen Gesängen. In originaler oder variierter Form ist sie für alle drei Sätze konstitutiv. Auch das Anfangsthema mit seinen markanten Quart- und Septimintervallen, das in der langsamen Einleitung des ersten Satzes (Maestoso ma energico) auf die Worte »Wohlauf, Psalter und Harfen, ich will früh auf sein« (Psalm 108,2) erklingt und das Hauptmotiv des gesamten Werkes ist, leitet sich daraus ab. Gleichwohl hat Bernstein hier keine »rituelle« Musik geschrieben. Das wird in der Vertonung des 100. Psalms »Jauchzet dem Herrn alle Welt« (Allegro molto) deutlich, die sich jener aufrüttelnden Introduktion anschließt. Bernstein gestaltet diesen Psalm melodisch und rhythmisch so zündend, dass man sich an ein Stück aus einem Broadway-Musical erinnert fühlt.
Im zweiten Satz (Andante con moto, ma tranquillo) stimmt ein nur von den Harfen begleitetes Knabensolo in schlichter, liedhafter Weise den 23. Psalm »Der Herr ist mein Hirte« an. Diese pastoral anmutende Melodie wird später von den Sopran- und Altstimmen des Chores aufgegriffen und fortgeführt. Doch die musikalische Idylle bleibt nicht ungestört: Tenor und Bass bringen mit fanfarenartigen Dreiklangmotiven eine konträre musikalische Haltung ins Spiel, entsprechend der Textaussage der ersten vier Verse des 2. Psalms »Warum toben die Heiden« (Allegro feroce). Schließlich überlagern sich beide Ebenen, die beschauliche und die kriegerische. Die Dreiklangmotive verstummen selbst dann nicht ganz, wenn mit dem Knabensolo am Ende nochmals die musikalische Stimmung des Anfangs beschworen wird.
Ein instrumentales Prelude, das in dissonanter Verschärfung das Hauptmotiv des ersten Satzes aufgreift, leitet das Finale (Sostenuto molto – Adagio) ein. Doch die Dissonanzen sind nicht von Dauer, sondern lösen sich im weiteren Verlauf in strahlende Dur-Klänge auf, wenn tiefe und hohe Chorstimmen zunächst alternierend, später im Unisono vereint die Verse des 131. Psalms »Herr, mein Herz ist nicht hoffärtig« vortragen. Der Satz verklingt im dreifachen Pianissimo, zu dem nochmals verhalten und geheimnisvoll das Hauptthema zu den Anfangsworten des 133. Psalms zitiert wird.
Auch wenn Bernstein dieses Werk für das Festival in Chichester komponiert hat: Der Ort der Uraufführung war nicht die kleine englische Bischofsstadt, sondern die große Metropole New York City. Der Dekan Walter Hussey hatte sein Einverständnis gegeben, die »Chichester Psalms« in einem Konzert der New Yorker Philharmoniker am 15. Juli 1965 »auszutesten«. Die amerikanischen Kritiker reagierten enthusiastisch und lobten einhellig die Intensität, die Einfachheit und die Schönheit dieser Komposition. Die englische Presse hingegen äußerte sich nach der Aufführung in Chichester zwei Wochen später weniger freundlich. Sie tat das Werk als »seichtes Experiment« und »oberflächliches Berufsspielertum« ab.
Mitwirkende
Ivan Repušić
Der kroatische Dirigent Ivan Repušić wurde an der Musikakademie in Zagreb ausgebildet und verfolgte weitere Studien bei Jorma Panula und Gianluigi Gelmetti. Dazu kamen Assistenzen am Badischen Staatstheater Karlsruhe und bei Donald Runnicles an der Deutschen Oper Berlin. Seine Karriere startete Ivan Repušić am kroatischen Nationaltheater in Split, dessen Chefdirigent und Operndirektor er von 2006 bis 2008 war. Dort erarbeitete er sich insbesondere ein großes italienisches Repertoire, das ihn nach wie vor auszeichnet. Grundlegende Erfahrungen sammelte er auch bei den Sommerfestivals in Split und Dubrovnik. Eine lange Freundschaft verbindet ihn mit dem Zadar Chamber Orchestra, dessen Chef er immer noch ist. Überdies unterrichtete Ivan Repušić als Lehrbeauftragter an der Akademie der Schönen Künste der Universität in Split. Von 2010 bis 2013 war er Erster Kapellmeister an der Staatsoper Hannover. Seit der Spielzeit 2016/17 ist er am selben Haus Generalmusikdirektor und dirigierte in dieser Funktion Manon Lescaut, den Fliegenden Holländer und Salome.
2011 gab Ivan Repušić mit Puccinis La bohème sein Debüt an der Deutschen Oper Berlin, wo er nachfolgend als Erster ständiger Gastdirigent u. a. Die Zauberflöte, Tosca und La traviata präsentierte; aktuell ist er mit einer Neuproduktion von Carmen zu erleben. Ivan Repušić war des Weiteren beispielsweise an der Hamburgischen Staatsoper, der Semperoper Dresden und der Komischen Oper Berlin sowie beim Orchestra sinfonica di Milano Giuseppe Verdi, beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, bei den Prager Symphonikern und der Slowenischen Philharmonie eingeladen. Zu Beginn dieser Spielzeit übernahm Ivan Repušić das Amt als Chefdirigent des Münchner Rundfunkorchesters, mit dem er z. B. schon Puccinis La rondine und Verdis Luisa Miller in konzertanter Aufführung sowie zwei Silvestergalas gestaltet hat.
Max Krause Rezitation
Max Krause, geboren 1993 in Ratingen, wuchs in Düsseldorf auf, wo er am dortigen Schauspielhaus erste Erfahrungen im Theaterbereich sammelte − u. a. in Ödön von Horváths Kasimir und Karoline in der Inszenierung von Nurkan Erpulat und im Rahmen des internationalen Jugendtheaterprojekts Take Your Stage. Seit 2014 studiert Max Krause an der Otto-Falckenberg-Schule in München Schauspiel und wirkte bereits in verschieden Produktionen am Residenztheater und an den Münchner Kammerspielen mit. Momentan ist er in dem Tanzstück Juliet & Romeo nach Shakespeare und in América nach dem gleichnamigen Roman von T.C. Boyle an den Kammerspielen zu sehen; auch bei Klein Zaches, mein Zinnober nach E.T.A. Hoffmann war er dabei. Für Film und Fernsehen hat Max Krause ebenfalls schon gearbeitet. So übernahm er in Ioana (2015) in der Regie von Simon Pfister die Hauptrolle des Adrian; diese Produktion war zu den Internationalen Hofer Filmtagen eingeladen.
Uta Jungwirth Harfe
Im Alter von acht Jahren begann Uta Jungwirth mit dem Harfenspiel. Später studierte sie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg bei Maria Graf. Wichtige Erfahrungen sammelte sie an der Hamburgischen Staatsoper und im Philharmonischen Orchester Kiel. 1995, noch vor dem Ende ihrer Ausbildung, wurde sie Soloharfenistin beim Münchner Rundfunkorchester. Auch vertiefte sie ihre Kammermusiktätigkeit und trat z. B. mit der Harfenistin Mojca Zlobko Vajgl als Duo auf. Zusammen mit Henrik Wiese und Nimrod Guez nahm sie das Trio für Flöte, Viola und Harfe von Mieczysław Weinberg auf CD auf. Gemeinsam mit Kiko Pedrozo und dem Münchner Rundfunkorchester brachte sie Christian Elsässers Komposition 87 Saiten zur Uraufführung. Besonders am Herzen liegen Uta Jungwirth zudem die Kammerkonzerte des Freundeskreises des Münchner Rundfunkorchesters. Brittens Ceremony of Carols führte sie bereits 2013 in einem Konzert des BR-Chores auf.