Brahms – Ein deutsches Requiem
BRSO, 6. Abo A
Konzerteinführung: 18.45 Uhr
BRSO, 6. Abo A
Konzerteinführung: 18.45 Uhr
Programm
- Selig sind, die da Leid tragen. Ziemlich langsam und mit Ausdruck
- Denn alles Fleisch, es ist wie Gras. Langsam, marschmäßig
- Herr, lehre doch mich. Andante moderato
- Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth. Mäßig bewegt
- Ihr habt nun Traurigkeit. Langsam
- Denn wir haben hie keine bleibende Statt. Andante
- Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben. Feierlich
Mitwirkende
Konzertvideo
Werkeinführung
»Wärme und Tiefe des Gemüts bei vollendeter technischer Meisterschaft«
Von Susanne Schmerda
Johannes Brahms
7. Mai 1833 in Hamburg – 3. April 1897 in Wien
Ein deutsches Requiem
Entstehungszeit: 1854 –1868
Uraufführung: 10. April 1868 im Bremer Dom
unter der Leitung des Komponisten (sechssätzige Fassung)
18. Februar 1869 in einem Leipziger Gewandhauskonzert
unter Carl Reinecke (siebensätzige Endfassung)
Im Mittelpunkt seines Requiems, in dem uns der 33-jährige Brahms tief in seine Seele schauen lässt, stehen nicht die Toten, nicht das Gedenken und die Bitte um die ewige Ruhe, vielmehr strebte er nach einer »Trauermusik als Seeligpreisung der Leidtragenden«. So beschrieb er es Carl Reinthaler, dem befreundeten Organisten am Bremer Dom, wo am Karfreitag 1868 Brahms’ bedeutendstes und wohl bekanntestes Werk, »Ein deutsches Requiem«, seine Erstaufführung in der ursprünglichen Fassung mit sechs Sätzen unter der Leitung des Komponisten erlebte. Die Uraufführung der endgültigen siebensätzigen Fassung, ergänzt um den V. Satz (»Ihr habt nun Traurigkeit«), leitete am 18. Februar 1869 in Leipzig Carl Reinecke. Brahms, der in der Hamburger Michaelis-Kirche lutherisch getauft worden war, wollte in seinem Requiem nicht den lateinischen Text der katholischen Liturgie verwenden, sondern seine eigene Auswahl treffen »nach Worten der heiligen Schrift«. Er selbst war zwar ein profunder Kenner der Bibel, wahrte aber Distanz zur Kirche und aller Dogmatik – »ein so großer Mann, eine so große Seele, doch er glaubt an nichts«, urteilte Antonín Dvořák einst über seinen Komponistenfreund. Clara Simrock dagegen, die Frau von Brahms’ Verleger, berichtete: »Brahms war kein Kirchgänger und doch war er eine tiefreligiöse Natur. Das Neue Testament hatte er stets in der Tasche.« Und Brahms selbst bekannte 1882 in einem Brief: »Den Theologen aber kann ich nicht los werden!« Tatsächlich kannte er die Bibel sehr genau, sein eigenes Exemplar, eine Luther-Bibel aus seinem Geburtsjahr 1833, zeigt Spuren intensiven Gebrauchs, »sowohl Altes als auch Neues Testament sind durchfurcht von fast unzähligen Anstreichungen in rot, blau, Bleistift und Tinte«, zudem führte er ein »Notizbuch mit Bibelstellen«, so Jan Brachmann in seiner Studie »Kunst – Religion – Krise. Der Fall Brahms« von 2003. Brahms’ Bibelfestigkeit, mit der er jedem Theologen das Wasser reichen konnte, fand ihren Niederschlag in seinen Werken – kein Komponist seines Ranges hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts derart viele Bibeltexte vertont wie er.
Die Uraufführung des Requiems bedeutete für Brahms den endgültigen Durchbruch als Komponist: »Seit Bachs h-Moll-Messe und Beethovens »Missa solemnis« ist nichts geschrieben worden, was auf diesem Gebiete sich neben Brahms’ ›deutsches Requiem‹ zu stellen vermag«, urteilte Eduard Hanslick. Der angesehene Wiener Kritiker, dessen Wort als maßgeblich galt, nahm den Komponisten damit in die Reihe der beiden Giganten der Musikgeschichte auf. Mit seiner chorsymphonischen Klangmacht, seiner gewaltigen Konzeption und kompositorischen Treffsicherheit, die den Dramatiker Brahms erkennen lassen, hat diese Trauermusik für Soli, Chor und Orchester weltweit einen bis heute anhaltenden Siegeszug angetreten. Vor allem aber der innige, zu Herzen gehende Ton, mit dem Brahms Trost und Zuversicht spendet, hat erheblich zum Ruhm des Werks beigetragen und ein Publikum vom einfachen Hörer bis zum Musikkenner erreicht. Auf unnachahmliche Weise mischt sich dabei die persönliche Ansprache mit der monumentalen, diffizil ausgeklügelten Architektur des Werks, das von letzten Dingen ebenso kündet wie von Hoffnung. Individuelle Ergriffenheit und allgemeines Frömmigkeitsgefühl gehen einen engen und einzigartigen Verbund ein. Davon legt besonders der 1868 nachkomponierte V. Satz Zeugnis ab (»Ihr habt nun Traurigkeit«), der unter dem Eindruck des Todes seiner geliebten Mutter Christina drei Jahre zuvor entstanden war.
Zugleich ist das Werk auch ein Befreiungsschlag für Brahms gewesen: Der Tod seines Mentors und Förderers Robert Schumann 1856 dürfte in ihm nachgewirkt haben, außerdem die nie eingelöste Liebe zu Clara Schumann und nicht zuletzt seine Zweifel an den eigenen kompositorischen Fähigkeiten, denn noch immer rang er mit der Komposition einer Ersten Symphonie. Schon 1860 sollen erste Vorarbeiten zum Requiem abgeschlossen gewesen sein, im Sommer 1866 nahm Brahms die Arbeit in Lichtenthal bei Baden-Baden wieder auf.
Leid und Trost, Leben und Tod, Vergänglichkeit und Ewigkeit – zwischen diesen Polen, die Brahms als Einheit begreift, bewegt sich seine Musik. »Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden«, ist vielleicht der zentrale Gedanke im Requiem. In Brahms’ sorgfältiger Textauswahl steigen die Bibeltexte aus der Einsamkeit der Verzweiflung über die Vergänglichkeit alles Fleischlichen bis hin zur Sphäre der Jenseitshoffnung und Heilsgewissheit stufenweise empor: »Selig sind, die da Leid tragen« (I. Satz, Chor) – »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras« (II. Satz, Chor) – »Herr, lehre doch mich« (III. Satz, Bariton-Solo und Chor) – »Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth« (IV. Satz, Chor) – »Ihr habt nun Traurigkeit« (V. Satz, Sopran-Solo und Chor) – »Denn wir haben hie keine bleibende Statt« (VI. Satz, Chor und Bariton-Solo) – »Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben« (VII. Satz, Chor).
Brahms offenbart dabei eine überkonfessionelle, subjektive Religionssicht. Christus, der Erlöser, hat hier keinen Platz, die Sünde ist ausgeklammert, der Mensch ohne Schuld. Der nüchterne Protestant findet zu einer tröstlichen Botschaft an die Hinterbliebenen und vollendet seine Trauermusik im letzten Satz mit einem hoffnungsvollen Ausblick durch die Seligpreisung der Leidtragenden. Dabei schlägt er den Bogen zurück zum Anfangssatz, so dass das Requiem zyklisch geschlossen ist – »Selig sind die Toten«, lässt er den Chor im letzten Satz auf das Thema des ersten Satzes singen: »Selig sind, die da Leid tragen«. Auch mit der gemeinsamen Tonart F-Dur ist harmonisch ein Rahmen gegeben.
Jeder der sieben achsensymmetrisch angelegten Sätze hat einen eigenen Charakter, überrascht mit einer individuellen Satzform und instrumentatorischen Feinheiten. Formal sind die Sätze zweigeteilt und folgen inhaltlich einem Gegensatzpaar (Trauer/Freude, irdisches Jammertal/himmlische Freude etc.). Ein volksliedhafter Tonfall und ein klar strukturierter Satzbau stehen neben streng gearbeiteten Sätzen, die einer dichten musikalischen Rhetorik im Stile eines Heinrich Schütz folgen. Unüberhörbar hat sich hier Brahms’ Beschäftigung mit der Vokalpolyphonie des 16. bis 18. Jahrhunderts und mit der oratorischen Chortechnik niedergeschlagen. Alte Satzformen wie die barocke Chorfuge etwa beschließen die Sätze III und VI. In ihnen zeigt sich die an Händel und Bach geschulte polyphone Meisterschaft des großen Fugen-Architekten Brahms. Die Sätze II und VI sind die komplexesten des Werks und stehen beide in Moll, die drei Mittelsätze sind als lyrische Intermezzi gehalten.
Im ersten Satz findet sich gleich zu Beginn, exponiert vom Chor-Sopran, mit dem Terz-Sekund-Motiv f-a-b (»Selig sind«) die Keimzelle der Komposition. Sie erklingt am Anfang von Satz II dann in ihrer Umkehrung (ges-f-des). Auffallend ist generell die Dreiklangsstruktur, auf der viele Themen basieren – möglicherweise ein Rückgriff von Brahms auf das archaische Symbol für die Dreifaltigkeit in der Musik. Die Intervallfolge f-a-b ist von entscheidender Bedeutung für die Gesamtform: »Auf noch höherer Ebene hat die Intervallkonfiguration große Terz – kleine Sekunde Konsequenzen: nämlich für den Zusammenhang der Tonarten aller sieben Sätze, d. h. für ein wesentliches Moment der Gliederung des ganzen Stückes«, so der Brahms-Forscher Christian Martin Schmidt. F – B – D – Es – G – C – F liegen den sieben Sätzen als Tonarten zugrunde, eine Tonartendisposition, die »zwei ineinander verschränkte, abwärts gerichtete Quintfolgen erkennen« lässt, so C. M. Schmidt weiter: »Die eine geht von F aus: F – B – Es, die andere zielt auf F: D – G – C. An den Nahtstellen der beiden ineinander verschränkten Quintfolgen finden sich ausschließlich Varianten jener Intervallfolge aus großer Terz und kleiner Sekunde.« Eine gedämpfte Instrumentierung – neben den Violinen sind im ersten Satz auch Klarinetten, Trompeten und Piccolo-Flöte ausgespart – liefert auf dem Orgelpunkt F eine dunkel-grundierte Klangfärbung, über der die Chorstimmen aufblühen und den Kontrast von Trauer und Trost thematisieren.
Der zweite Satz, in dem Alt, Tenor und Bass gespenstisch-fahl von der Sterblichkeit des Menschen künden, »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras«, bildet die älteste Schicht und klangliche Urzelle des Werks. Er geht zu-rück auf das »langsame Scherzo« der Sonate für zwei Klaviere von 1854, aus der später das Erste Klavierkonzert wurde. Im Requiem nun ist dieser Satz ein düster dahinschreitender Trauermarsch über unerbittlichen Paukenschlägen, der sich erst zu den Worten »Freude und Wonne« lichtet. Auf das Solo des Baritons mit seinem energischen »Herr, lehre doch mich«, antwortet der Chor psalmodierend, bevor eine mächtige, kunstvolle Fuge den dritten Satz beschließt: »Der gerechten Seelen sind in Gottes Hand«. Völlig gewandelt, entrückt und überirdisch erscheint dieses Fugenthema nun im zentralen vierten Satz, »Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth«, Brahms’ Vision vom Paradies in zarten Orchesterfarben.
Eine Idylle jenseits aller Erdenschwere entwirft auch der nachkomponierte fünfte Satz mit einem der schönsten Sopran-Soli von Brahms überhaupt: »Ihr habt nun Traurigkeit«, das über dem beschwichtigenden Chor-Wiegenlied »Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet« angestimmt wird. In diesem Satz mit seinen reichen subtilen Motivverflechtungen und seinem ergreifenden Solo-Lied manifestiert sich eine Grundhaltung von Brahms’ Schaffen, die man deuten könnte »als lebenslange Meditation über die Möglichkeit, ein Wiegenlied zu schreiben« (Gustav Falke). Hier, in dieser Idee eines Wiegenliedes, so deutet es Jan Brachmann, »bündeln sich verschiedene Motivationen des Komponierens, die für Brahms zentral gewesen sind: das Heimweh, die Sehnsucht nach der Kindheit und das Spenden von Trost«.
Von dieser entrückten Sphäre hebt sich – nach einem Abschnitt der unruhigen Suche einer zwischen Dur und Moll pendelnden Tonalität (»Denn wir haben hie keine bleibende Statt«) – umso wirkungsvoller die Vorstellung des Jüngsten Gerichts in Satz VI ab. Allerdings fehlen in dieser Vision vom Tod, »verschlungen in den Sieg«, alle apokalyptischen Schrecken. Zumal Brahms die Frage »Hölle, wo ist dein Sieg?« in eine C-Dur-Kadenz von grandioser Helligkeit und Kraft münden lässt, bevor eine Doppelfuge folgt: »Herr, Du bist würdig zu nehmen Preis und Ehre und Kraft.«
Der Schlusssatz mit seiner zweiten Seligpreisung verspricht ewiges Leben und schließt musikalisch und textlich an den Eröffnungssatz an. Feierlich heißt es: »Selig sind die Toten«. Die Auferstehung und Wende zum Licht, die aus der Dunkelheit führen soll, geben dem Menschen Zuversicht, die Schrecken des Jüngsten Gerichts bleiben unerwähnt.
Brahms’ »Deutsches Requiem« ist »ein Werk von hohem Seelenadel, eine Totengedenkfeier voller Hoffnung« (Heinz Becker). Dass Brahms in ihm einen derart innigen Ton traf, macht das Werk so persönlich und glaubwürdig. Wenn er den Chor klagen lässt »Denn wir haben hie keine bleibende Statt« (Nr. VI), der zuvor verklärend singt »Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth« (Nr. IV), dann geschieht hier »eine emphatische Beschwörung von Heimat« aus dem »Wissen um die eigene Heimatlosigkeit heraus« (Jan Brachmann). Brahms war selbst einer, der Trost suchte, der unbehaust und lebenslang von Heimweh geplagt war. Als er sein Requiem schrieb, lebte er nicht mehr in seiner Geburtsstadt Hamburg, wo man ihm die erhoffte Anstellung als Musikdirektor verwehrt hatte. Und in Wien, wo er später, obgleich wohlhabend, lebenslang zur Untermiete wohnte, hatte er nie recht Fuß gefasst. »Ich bin kein Kosmopolit, sondern hänge, wie an einer Mutter, an meiner Vaterstadt«, schilderte er Clara Schumann seine Seelennot, »wie selten findet sich für unsereinen eine bleibende Stätte.«
Auf Brahms’ Zeitgenossen hat sein Requiem tiefen Eindruck gemacht und war außerordentlich erfolgreich, in dutzenden Aufführungen erklang es in Konzertsaal und Kirche, einstudiert von Profis wie Laien. Für die Jahre zwischen 1869 und 1876 lassen sich nicht weniger als 97 Aufführungen in ganz Europa nachweisen. Auch in einer eigens von Brahms eingerichteten Bearbeitung für Vokalstimmen und zwei Klaviere fand das Werk im kleinen Rahmen zunehmende Verbreitung – eine Popularität, die der Komponist offenbar vorausgeahnt hatte, denn er teilte seinem Verleger Fritz Simrock ironisch mit: »Ich habe mich der edlen Beschäftigung hingegeben, mein unsterbliches Werk auch für die vierhändige Seele genießbar zu machen. Jetzt kann’s nicht mehr untergehen.« Dies hatte schon Eduard Hanslick in Wien erkannt, als er 1875 den singulären Rang dieser grandiosen Trauermusik mit folgenden Worten auf den Punkt brachte: »In Brahms’ Requiem sehen wir mit den reinsten Kunstmitteln das höchste Ziel erreicht. Wärme und Tiefe des Gemüts bei vollendeter technischer Meisterschaft, nichts sinnlich blendend und doch alles ergreifend; keine neuen Orchester-Effekte, aber neue, große Gedanken und bei allem Reichtum, aller Originalität die edelste Natürlichkeit und Einfachheit.«