Werkeinführungen
Eine Seele voller Trauer – wird das »Stabat mater« von Domenico Scarlatti seinem Sujet gerecht?
Von Judith Kaufmann
Domenico Scarlatti
* 26. Oktober 1685 in Neapel
† 23. Juli 1757 in Madrid
»Stabat mater« für Soli, Chor und Basso continuo
Entstehungszeit: vermutlich um 1715 bis 1719
Uraufführung: nicht bekannt
Maria, die gebenedeite Mutter Gottes, muss eine Extremsituation menschlicher Existenz durchleiden: ohnmächtig die grausame Hinrichtung, das qualvolle Sterben des geliebten Kindes zu erleben. Das lateinische Stabat mater dichtet die paradigmatische Bibelgeschichte nach, es schildert die Szene der weinenden Maria unter dem Kreuz, erhebt die Klage des mit-leidenden Betenden und mündet in bange Bitten an die Jungfrau der Jungfrauen für das eigene Seelenheil. Starke Worte von Schmerz und Trauer werden vom mittelalterlichen Dichter in wohlklingende Reime und ebenmäßige Strophen gekleidet – so schön, dass die kunstvolle Form den erschütternden Inhalt zu verharmlosen droht.
Als Sequenz hat das Stabat mater eine wechselvolle Geschichte hinter sich, wurde im 16. Jahrhundert vom Konzil von Trient verboten, um 1727 für das Fest der Sieben Schmerzen Mariens rehabilitiert zu werden. Heute, nach dem Zweiten Vatikanum, ist es nur noch fakultativer Bestandteil der Messe am 15. September und begegnet uns häufiger im Radio oder Konzertsaal als in der Kirche. Denn ungeachtet seiner liturgischen Bedeutung haben das Stabat mater und seine ergreifende Thematik zu allen Zeiten die Komponisten fasziniert: Eine »Ultimate Stabat Mater Site« kennt 250 Vertonungen, dabei beginnt die Liste der (nicht anonym) überlieferten Werke 1480 mit Josquin Desprez und endet vorläufig mit einem Beitrag von James MacMillan aus dem Jahr 2016.
Etwa in der Mitte zwischen diesen Eckpunkten steht das »Stabat mater« von Domenico Scarlatti. Dessen Wirken ist zunächst stark durch den ehrgeizigen Vater Alessandro – selbst ein angesehener Komponist und Kapellmeister – bestimmt, der den Sohn in verschiedene Positionen vermittelt. Als Organist, Komponist und Maestro di cappella taucht Domenico in Neapel, Venedig und Rom auf, bis er 1719 zum Mestre der Kapelle von Johann V. von Portugal ernannt wird. Bis zum Todesjahr des Vaters 1725 schreibt er vor allem Vokalwerke: Opern, Kammerkantaten und Kirchenmusik. In Lissabon bietet sich für Scarlatti jedoch die Gelegenheit, als Lehrer der königlichen Familie Klavierstücke für die Infantin Maria Barbara aufzusetzen. Als die Prinzessin 1729 mit dem späteren spanischen König Ferdinand VI. vermählt wird, folgt Scarlatti seiner musikalischen Schülerin nach Madrid und widmet sich fortan der Komposition von über 500 Cembalosonaten. Mit den originellen und innovativen Beiträgen auf diesem Gebiet tritt er endgültig aus dem Schatten des Vaters und sichert sich einen prominenten Platz in der Geschichte der Musik für Tasteninstrumente.
Zu Scarlattis »Stabat mater« für zehn Singstimmen und Basso continuo sind weder ein Autograph noch Berichte über eine Aufführung erhalten. Man kann daher nur vermuten, dass es in den Jahren 1715 bis 1719 entstand, als der gut Dreißigjährige die Cappella Giulia an der Peterskirche in Rom leitete. Die 60 Verse der Sequenz werden in eine weit ausgreifende Architektur gefasst, die durch Kadenzen, Takt- und Tempowechsel klar gegliedert ist. Den vollen zehnstimmigen Vokalsatz behält der Komponist inhaltlichen Höhepunkten vor. Über weite Strecken spielt er mit verschiedenartigen Stimmkombinationen und variiert gekonnt Klangfarbe und Textur, von komplizierter Polyphonie über homophone Ruhepunkte bis zu arienartig gestalteten oder ansatzweise konzertanten Passagen. Die strukturelle Vielfalt und eine ungeheure Fülle an immer wieder neuen rhythmisch-melodischen Gesten sorgen dafür, dass trotz der einförmigen Strophenform der Dichtung keine Monotonie aufkommt. Häufig prägt ein Detail des Textes die Faktur, wenn etwa ein Sextsprung aufwärts den Blick Mariens hinauf zum Kreuz abbildet (»vidit Jesum in tormentis«) oder beim Tod Jesu die Bewegung über mehrere Takte in einem einzigen Klang einfriert (»dum emisit spiritum«). Dem düsteren Sujet angemessen ist der durchgängig ernste Tonfall der Musik – fast durchgängig, denn an den Abschnittsenden wird das zugrunde liegende Moll regelmäßig durch die »picardische Terz«, also durch den gemäß damaliger Konvention verwendeten Dur-Schlussklang aufgehellt.
Unverkennbar beginnt das Stück in der Tradition der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts, Passagen wie das »Fac me vere / tecum flere« huldigen dem Stile antico mit ruhig fließenden Themen und dem altmodischen Vier-Halbe-Takt. Nach und nach nehmen jedoch typisch barocke Elemente zu, die Harmonik wird mit Sekundreibungen, verminderten Akkorden und Chromatik geschärft. Wenn in der drittletzten Gedichtstrophe Höllenfeuer und Jüngstes Gericht in den Blick kommen, gibt sich die Musik mit langen Koloraturen (»inflammatus«) und abrupten Szenenwechseln (»in die judicii«) geradezu theatralisch. Eine rasante Doppelfuge, in der alle Stimmen virtuos durcheinanderwirbeln, steigert die Spannung bis zum finalen Amen. In einem modernen und munteren Drei-Achtel- Takt, mit Dreiklangsbrechungen und dem effektvollen Kontrast von perlenden Sechzehntelgirlanden und knackigen Akkordblöcken gestaltet Scarlatti einen mitreißenden Schluss.
Lassen wir uns von der Geschichte der Mater dolorosa, der Schmerzensmutter, heute noch berühren? Weder das klassisch-schöne lateinische Gedicht noch seine gefälligen deutschen Nachdichtungen scheinen geeignet, spirituelle Bedürfnisse unserer Tage zu erfüllen. Musik hingegen hat die Macht, die Fremdheit jahrhundertealter Formulierungen durch Klänge zu überbrücken und mit ihrer Deutung unmittelbar ins Herz zu treffen. Als Opernkomponist versteht Domenico Scarlatti das Handwerk, die Affekte eines Textes in Töne zu übersetzen. In seinem »Stabat mater« kommt er freilich über das Konventionelle nur stellenweise hinaus. Ähnlich wie der Text mit seiner formalen Brillanz neigt die Komposition dazu, durch Gestaltungsfreude und Farbigkeit die Kernaussage von bitterstem menschlichen Leid zu übertönen. So kann auch Scarlattis Komposition dem heutigen Hörer kaum zu einer vertieften geistlichen Auseinandersetzung mit dem Geschehen unter Christi Kreuz verhelfen. In musikalischer Hinsicht jedoch besticht sie durch den souveränen Umgang mit Polyphonie, ein feines Gespür für Spannung und Dramatik und den enormen Reichtum an immer neuen Motiven.
Wie bereits angedeutet, kennen wir das Werk nur aus späteren Abschriften. Weil diese allerdings bei Tempoangaben und Besetzung voneinander abweichen, bleiben einige für die Wirkung der Musik erhebliche Fragen offen: Gestaltung von Tempo und Dynamik, Besetzung des Basso continuo und Charakterisierung einzelner Passagen durch die Auswahl verschiedener Instrumente (zum Beispiel Orgel oder Laute) und vor allem die Entscheidung, ob und wo der Vokalsatz gegebenenfalls solistisch gesungen werden soll. Lassen wir uns überraschen, wie Florian Helgath den bei Domenico Scarlattis »Stabat mater« ungewöhnlich breiten Spielraum der Interpretation nutzt, um persönliche Akzente zu setzen!
Architektur und Predigt: »Jesu, meine Freude« – Bachs monumentalste Motette
Von Jörg Handstein
Johann Sebastian Bach
* 21. März 1685 in Eisenach
+ 28. Juli 1750 in Leipzig
»Jesu, meine Freude«, BWV 227
Entstehungszeit: zwischen 1723 und 1735
Uraufführung: möglicherweise zur Begräbnisfeier von
Johanna Maria Kees, Oberpostmeisterwitwe, am 18. Juli 1723
Als Thomaskantor war Johann Sebastian Bach ab 1723 selbstverständlich für Kirchenmusik zuständig. Doch da es ihm »anfänglich gar nicht anständig seyn wolte, aus einem Capellmeister ein Cantor zu werden«, besetzte er dann doch eine führende Position im gesamten Leipziger Musikleben – und sprengte mit seinen Werken den Rahmen der üblichen Kantoratsmusik. Nicht für die reguläre Kirchenliturgie bestimmt waren seine Motetten: Sie entstanden für private Auftraggeber, zum Großteil bei Todesfällen, gesungen vor dem Trauerhaus, am Grab oder in Gedenkgottesdiensten. Im Gegensatz zu den »modernen« Kantaten sind die Motetten eher konservativ angelegt: im Gefolge der Vokalpolyphonie, ohne obligates Orchester. Dieses ersetzt Bach allerdings durch besonders vielschichtige vokale Satzweisen, die bisweilen quasi »instrumentale« Strukturen bilden. So gelangen Bach auch in dieser altehrwürdigen Gattung komplexe, einzigartige Werke, die an Kunstfertigkeit und Ausdruckskraft alle barocken Vorgänger und Zeitgenossen übertreffen.
Traditionell besteht eine Motette aus aneinandergereihten Abschnitten. Bach arbeitete jedoch mit einer neuartigen, ausgefeilten Architektur, die vor allem in »Jesu, meine Freude«, seinem monumentalsten Werk der Gattung, eine tragende Rolle spielt: Zwei identische Choralsätze bilden den Rahmen für einen vollkommen symmetrischen Aufbau. Der zweite und vorletzte Satz sind klassische Motetten und beruhen musikalisch auf demselben Material. Dazwischen stehen zwei Choralbearbeitungen, die jeweils ein Terzett umrahmen. Die Symmetrieachse bildet eine gewichtige Fuge. Es stellt sich die Frage: Wer hat ein solch exzeptionelles Werk bestellt? Hat Bach es nach den Wünschen (und den finanziellen Möglichkeiten) des Auftraggebers so mächtig gebaut oder aus eigenem Antrieb? Einem Forscher zufolge soll »Jesu, meine Freude« für das Begräbnis der Oberpostmeisterwitwe Johanna Maria Kees im Juli 1723 komponiert worden sein, doch das bleibt bloße Spekulation. Weitgehend sicher ist nur, dass die Motette zwischen 1723 und 1735 entstand. Die Fünfstimmigkeit mit zwei Sopranen erinnert an das »Magnificat«, mit dem sich Bach erstmals glanzvoll als Thomaskantor präsentierte.
Bereits der Text ist sehr artifiziell und theologisch ambitioniert gebaut: Regelmäßig und sinnhaft verknüpft wechseln die Choralstrophen mit Sprüchen aus Paulus’ Römerbrief. Neben der Symmetrie fällt Bachs stark rhetorische Vertonung auf – als ob ein Prediger seine Botschaft möglichst bildhaft und packend vermitteln will. Da gibt es eindringliche Pausen und Ausrufe, da wird gedonnert und geflüstert, da werden Wörter wie »Trotz«, »toben«, und »Abgrund« plakativ hervorgehoben. Der für den Text zentrale Gegensatz von »geistig« und »fleischlich« setzt auch die Musik unter Spannung, und die dramatischen Bilder dynamisieren die eigentlich statische Form der Architektur. Exakt in deren Mittelpunkt, sozusagen unter der Kuppel des symmetrischen Zentralbaus, rückt die Fuge die zentrale Botschaft über den »Geist« glanzvoll ins Licht. Man beachte auch, wie dynamisch der Satz vorwärts drängt, nicht nur angetrieben von den motorisch-virtuosen Sechzehntelpassagen des ersten Themas, sondern auch durch die kontrapunktische Verdichtung: So erklingt das zweite Thema (über »Gottes Geist«) gleich in sogenannter Engführung. Im weiteren Verlauf des Stückes stoßen beide Themen dann simultan aufeinander. Die Musik selbst verkörpert den Geist. Ein weiterer Höhepunkt des Werkes ist die zarte, subtile Choralbearbeitung »Gute Nacht, o Wesen«. Geradezu einlullend werden die melodischen Motive fortgesponnen, und die beiden Soprane und der Tenor wie in einer weltlichen Triosonate behandelt. Dorthinein webt der Alt die ursprüngliche Melodie des Kirchenliedes, die im geistlichen Idiom formulierte Absage an alles weltliche Wesen. Bach belässt es weder bei der monumentalen Architektur noch der eindringlichen Predigt, sondern erschafft dazu Musik voller Leben, Wärme und Sinnlichkeit, die einfach Freude macht.
»Eine Angelegenheit zwischen Gott und mir«
Frank Martins Messe für Doppelchor wurde erst 40 Jahre nach ihrer Komposition uraufgeführt. Von Susanne Schmerda
Frank Martin
* 15. September 1890 in Genf
+ 21. November 1974 in Naarden bei Amsterdam
Messe für Doppelchor
Entstehungszeit: 1922 bis 1924, bzw. 1926 (Agnus Dei)
Uraufführung: 23. November 1963 in Hamburg mit der
Bugenhagen-Kantorei unter der Leitung von Franz-Wilhelm Brunnert
Eine der Grundkonstanten in Frank Martins Leben war seine tiefe, immer wie- der in zahlreichen Äußerungen und Kommentaren reflektierte Gläubigkeit. Am 15. September 1890 als zehntes und jüngstes Kind des evangelisch-kalvinistisch reformierten Pfarrers Charles Martin und seiner Frau Pauline Duval in Genf geboren, wuchs der junge Frank Martin in einem protestantischen Elternhaus auf, das einerseits eng mit dem kirchlichen Leben verbunden war und andererseits großen Wert auf häusliches Musizieren legte. Von klein auf war Martin vertraut mit Psalmen und anderen Bibelsprüchen; einige seiner Geschwister sangen in der Société du chant sacré, ansonsten spielten alle neun Brüder und Schwestern ein Instrument, sodass der angehende Komponist schon früh erste Werke für den Hausgebrauch schrieb. Mit zwölf Jahren wohnte Frank Martin einer Aufführung von Johann Sebastian Bachs »Matthäus-Passion« in Genf bei, ein für ihn prägendes musikalisches und religiöses Erlebnis, das ihn in seinem Entschluss bestärkte, die Musik zum Beruf zu machen.
Etwa 130 Werke umfasst das Schaffen Frank Martins, der neben Arthur Honegger als bedeutendster Schweizer Komponist des vergangenen Jahrhunderts gilt. Dazu gehören eine Reihe großangelegter sakraler Kompositionen wie die Oratorien »In terra pax« und »Golgotha«, die Kantaten »Le mystère de la Nativité« und »Pilate« sowie ein Requiem. Ein sehr frühes Werk ist die 1922 während eines Rom-Aufenthaltes begonnene Messe für Doppelchor, das einzige liturgische Werk Martins für Chor a cappella. Vorausgegangen waren das Chorwerk »Les dithyrambes«, mit dem er 1918 in Lausanne die Bewunderung des Dirigenten Ernest Ansermets erregte, daneben die Vokalstücke »Trois poèmes païens« und einige Orchesterwerke (u. a. »Symphonie burlesque« und »Esquisse«).
Mit welcher Ernsthaftigkeit Martin seinem ersten geistlichen Werk begegnete, zeigt die Tatsache, dass er den ersten vier in Rom vollendeten Teilen »Kyrie, Gloria, Credo« und dem einsätzigen »Sanctus/Benedictus« erst 1926 das »Agnus Dei« folgen ließ. Entstanden ist die Messe ohne einen äußeren Auftrag oder konkreten Anlass. Ausschlaggebend war allein der innere Antrieb, wie Frank Martin noch 1970 in einem Programmtext betonte: »Es war eine völlig freie, nicht zweckgebundene Arbeit, zumal mir damals kein Chorleiter bekannt war, den sie interessiert hätte. […] Auf eine Aufführung legte ich keinen Wert, da ich befürchtete, das Werk würde nur nach ästhetischen Gesichtspunkten beurteilt werden. Für mich war es eine Angelegenheit zwischen Gott und mir.«
In diesen Worten zeigt sich exemplarisch Frank Martins Scheu vor der Veröffentlichung religiöser Kompositionen, zumal in einer Welt, die schon lange ohne religiösen Konsens auskommen musste. Der zutiefst gläubige Komponist war der Auffassung, »der Ausdruck religiöser Gefühle müsse verborgen bleiben und habe nichts mit der öffentlichen Meinung zu tun. So ist also die Partitur 40 Jahre lang in einer Schublade liegen geblieben, wenn sie auch der Ordnung halber in die Liste meiner Werke aufgenommen wurde.« Dort, im Werkkatalog, wurde die Messe zum Glück 1962 von dem Hamburger Kantor Franz-Wilhelm Brunnert entdeckt. Er bat Frank Martin um Einsichtnahme in die Partitur und war von der Musik so beeindruckt, dass er das Werk – mit Einverständnis des Komponisten – am 23. November 1963 mit seiner Bugenhagen-Kantorei in Hamburg zur Uraufführung brachte, also bevor das Werk überhaupt im Druck erschienen war.
Martin begegnete dem traditionellen, unzählige Male vertonten liturgischen Text des katholischen Messordinariums mit einer unverbrauchten und subjektiven Tonsprache: streng textbezogen, wobei die abwechslungsreiche Rhythmik aufs engste dem natürlichen Sprachfluss folgt. Der Schwerpunkt liegt auf der Syllabik (ein Ton pro Silbe); Melismen (mehrere Töne pro Silbe) sind selten und bleiben der Betonung herausragender Textworte vorbehalten, so etwa die Ausrufe »Kyrie eleison«, »Sanctus« und »Hosanna«. Die oft ausladende Melodik erinnert an die mittelalterlichen Gesänge der Gregorianik, vorherrschend sind pentatonische Melodiebildungen, die nur aus fünf Tönen bestehen. Die Harmonik ist reich an kirchentonalen Wendungen, weite Teile sind rein modal gehalten, wobei sich Martin auf klare Grundtonbezüge und Terzschichtungen beschränkt. Im »Gloria« gibt es kein virtuoses Jubilieren, stattdessen farbige Klangentfaltung, und im »Kyrie« sanfte, eindringliche Akzente für die Bitte um Erbarmen. Der Satz, ohnehin komplex gewebt und akkordisch geprägt, wird durch die barocke Technik der Stimmimitation noch zusätzlich verdichtet, daneben finden sich als weitere Satztechniken der Fauxbourdon des 15. Jahrhunderts (im »Benedictus«) sowie gehaltene oder rhythmisierte Orgelpunkte. Insgesamt zieht Martins Partitur den Hörer mit ihrer ganz individuellen Kombination von traditionellen Stilmitteln und avancierten harmonischen Elementen wie beispielsweise Cluster, Polyrhythmik oder Bitonalität in ihren Bann.
Es mag ungewöhnlich erscheinen, dass der Protestant Martin für sein erstes großes religiöses Werk ausgerechnet den zentralen Text der katholischen Liturgie wählte. Hatte sich der Pastorensohn hier von seinen evangelisch-calvinistischen Wurzeln gelöst und zu einem überkonfessionellen Christentum gefunden? Text und Form des lateinischen Messordinariums jedenfalls bewunderte er »sowohl ästhetisch als auch psychologisch«, wie Martin in einem 1975 veröffentlichten Interview erläuterte. Und dass der Komponist nach 41 Jahren Dornröschenschlaf seiner Messe endlich einer Aufführung zustimmte, mag zwar ebenfalls verwundern, lässt sich aber mit der nun gewonnenen Erfahrung aus Komposition und Aufführung weiterer bekenntnishafter Sakralwerke erklären. Oder, wie Regina Brandt in ihrer grundlegenden Arbeit »Religiöse Grundzüge im Werk von Frank Martin« treffend erkannte: »Die religiösen Grundzüge der Messe, die Demut bei der Bitte um Sündenvergebung im »Kyrie«, das Staunen über die Menschwerdung, das Leiden am Sterben des Erlösers und der Jubel über seine Auferstehung (»Credo«) sowie die drängende Bitte um Frieden (»Agnus Dei«), haben zu dem Zeitpunkt, als die Messe uraufgeführt wird, längst in anderen religiösen Werken Martins ihren Niederschlag gefunden.« Heute ist die Messe wohl Frank Martins beliebtestes Werk und gehört zum Repertoire vieler Chöre auf der ganzen Welt.
Der Zeit enthoben – musikalischer Historismus in Ildebrando Pizzettis Messa di Requiem
Von Anna Vogt
Ildebrando Pizzetti
* 20. September 1880 in Parma
+ 13. Februar 1968 in Rom
Messa di Requiem
für 12-stimmigen Chor a cappella
Entstehungszeit: 1. November 1922 bis
2. Januar 1923 als Auftragswerk
der Accademia Filarmonica Bologna
Uraufführung: 14. März 1924 im Pantheon
in Rom unter der Leitung von Alessandro Bustini bei einem
Privatkonzert zum Gedenken an König Umberto.
Erste öffentliche Aufführung am 25. März 1924
in der Carnegie Hall in New York mit der
Schola Cantorum unter Kurt Schindler.
Renaissance und Romantik, vereint in einem Werk des frühen 20. Jahrhunderts: Ildebrando Pizzetti komponierte das Requiem für 12-stimmigen Chor a cappella im Winter 1922/23 für ein Konzert am 14. März 1924 im Pantheon in Rom. Mit der Aufführung wurde der Geburtstag des italienischen Königs Umberto I. gewürdigt, der 1900 ermordet worden war. Dort, im Herzen der Ewigen Stadt, hatte Umberto seine letzte Ruhestätte gefunden. Als Pizzetti den Auftrag erhielt, war er in Italien als Komponist und Pädagoge bereits sehr angesehen. Nach einem Kompositionsstudium bei Giovanni Tebaldini am Konservatorium in Parma hatte er später wichtige Hochschulposten inne: zunächst als Kompositionslehrer am Konservatorium von Florenz, dessen Leitung er 1917 übernahm. Ab 1924 stand er dem Mailänder Konservatorium vor und ab 1936 lehrte er Komposition an der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom.
Pizzetti gilt als wichtiger Vertreter der »Generazione dell’ottanta«, einer Gruppe von italienischen Komponisten, die alle um 1880 geboren waren. Ihr gehörten auch Ottorino Respighi, Gian Francesco Malipiero und Alfredo Casella an. Er verfasste zudem mehrere Bücher, schrieb Kritiken für den »Corriere della Sera« und gründete die Zeitschrift »Dissonanza«, die sich der modernen Musik widmete. Seine Rolle im italienischen Faschismus, den er etwa durch eine Filmmusik für den Propagandafilm »Scipione d’Africa« und die Unterzeichnung des »Manifesto degli intellettuali fascisti« 1925 unterstützte, überschattet heute sein internationales Renommee. Sie ist vermutlich ein Grund dafür, dass Pizzettis Werke – darunter 14 Opern, eine Symphonie, Kammermusik und einige Chorkompositionen – nur selten aufgeführt werden.
Die Orientierung an der Vergangenheit, wie sie in seinem Requiem unüberhörbar ist, prägte Pizzettis gesamtes Œuvre. Die meisten seiner Opern kreisen um archaische oder biblische Geschichten. Bei Tebaldini hatte Pizzetti die Vokalpolyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts kennengelernt, darunter die Motetten und Madrigale von Lasso, Monteverdi und Palestrina. Dieser Einfluss spiegelt sich vor allem in seinen Chorwerken wider, für die er ein besonderes Talent besaß. Aus der Mode seiner Zeit machte er sich dagegen wenig, und für Komponisten wie Schönberg oder Strawinsky fand Pizzetti scharfe Worte der Kritik. Stattdessen war er auf der Suche nach einer zeitlosen Schönheit in der Musik, nach archaischem Ausdruck und puren Emotionen. Damit sah er seine künstlerische Heimat im Kreis des Neoklassizismus und der Neorenaissance.
In seinem Requiem deutet Pizzetti den liturgischen Text sinnlich und zugleich subtil aus. Diese von der Musikhistorikerin Fiamma Nicolodi als »Neomadrigalismo« bezeichnete Stilistik ist den großen Vorbildern der Renaissance verpflichtet. Durch harmonische Spannung und Entspannung, durch gezielte dynamische und agogische Kontraste, aber auch durch den Wechsel der Stimmregister und der Stimmkombinationen entsteht eine kunstvolle Architektur des Ausdrucks: schlicht und doch abwechslungsreich. Einstimmige Choräle stehen neben homophonen, blockhaften Chorpassagen sowie Kanon- und Fugen-Abschnitten. Dabei wechselt die Tonalität zwischen alten Kirchentonarten und romantisch gefärbten Harmonien und schafft so eine eigentümliche Spannung. Für Schlusskadenzen oder auch als Begleitung nutzt Pizzetti immer wie- der leere Quinten oder Einklänge, die besonders altertümlich anmuten, wie etwa im abschließenden »Libera me«.
Während im »Dies irae« ein traditioneller gregorianischer Choral zitiert wird, sind die anderen Gesänge – teilweise nach gregorianischem Vorbild – neu komponiert. So singen zu Beginn des »Requiem« die Bässe eine einfache, einstimmige Choralzeile, wenig später aber weitet sich die Musik zu »et lux perpetua luceat eis« (»und das ewige Licht leuchte ihnen«) in einen strahlenden, fünfstimmigen Satz mit zwei Bassstimmen. Im »Dies irae«, dem mit Abstand längsten der Sätze, stimmen die Bässe und Altstimmen die traditionelle gregorianische Formel als eine Art Trauermarsch an, während sie von Sopranen und Tenören mit wortlosen Melismen begleitet werden. Bei »Quid sum miser tunc dicturus« (»Weh! Was werd ich Armer sagen?«) findet die Musik zu einer dichteren, achtstimmigen Polyphonie, bevor sich alle Stimmen zu »Salva me« (»… lass Gnade walten!«) in einem emotionalen Ausruf vereinen.
Das »Sanctus« setzt wie ein überirdischer Engelsgesang an: rein und schlicht. Hier teilen sich die Stimmen in drei Chöre auf – ein Mittel, das vermutlich der venezianischen Kirchenmusik der Renaissance oder des frühen Barock nach- empfunden ist. Ein erster Höhepunkt dieses Gesangs ist das vielstimmige, blockhafte »Hosanna«, aus dem sich ein kontrapunktisch ausgearbeitetes »Benedictus« entspinnt, bevor noch einmal das »Hosanna« erklingt. Im »Agnus Dei« singt nur der halbe Chor, ruhig und in sich versunken, wie im Gebet. Das abschließende »Libera me« beginnt rastlos und bewegt, es soll »aus tiefster Inbrunst« (»con fervore profondo«) gesungen werden. Hier wird die Hoffnung auf Erlösung mit der Schreckensvision des Jüngsten Gerichts konfrontiert. Doch das Werk endet überraschend nicht mit der friedvollen Vision der »ewigen Ruhe«, des »Requiem aeternam«, sondern mit den Zeilen »da du kommst, die Welt durch Feuer zu richten«.
Die Archaik dieser Totenmesse, so vermutet Timothy Westerhaus in einem großen Beitrag über das Pizzetti-Requiem, mag dem Zeitgeist der 1920er-Jahre geschuldet sein, eine Reaktion auf die politischen Umwälzungen und existenziellen Unsicherheiten in der Phase zwischen den Weltkriegen. Womöglich sei es kein Zufall, dass fast zeitgleich mit Pizzetti, wenn auch wohl unbeeinflusst voneinander, Ralph Vaughan Williams in England mit seiner Messe in g-Moll und Frank Martin in der Schweiz mit der Messe für Doppelchor ebenfalls einen Blick zurück warfen und Techniken der venezianischen Mehrchörigkeit mit Stilmitteln der Moderne verbanden. Wohl schenkte die längst versunkene, »unschuldige« Vergangenheit in diesen Zeiten der Ungewissheit und Angst ein wenig Trost und Frieden.
Mitwirkende
Seit 2011 ist Florian Helgath Künstlerischer Leiter von ChorWerk Ruhr. Mit diesem Ensemble erarbeitet er bei höchsten Ansprüchen Chormusik aller Epochen. Daneben hat er erst jüngst dieselbe Position bei der Zürcher Sing- Akademie übernommen. Von 2009 bis 2015 wirkte Florian Helgath als Dirigent des Dänischen Rundfunkchores und von 2008 bis 2016 als Künstlerischer Leiter des via-nova-chores München, mit denen er zahlreiche hochgelobte Uraufführungen präsentierte. Florian Helgath ist regelmäßig zu Gast beim SWR Vokalensemble, RIAS Kammerchor, MDR Rundfunkchor, BR-Chor sowie beim Chœur de Radio France und arbeitet mit dem Münchner Rundfunkorchester, dem Danish Chamber Orchestra, der Akademie für Alte Musik Berlin sowie mit Concerto Köln und dem Ensemble Resonanz zusammen. Auftritte führten ihn zu den Berliner Festspielen, den Audi Sommerkonzerten, zum Eclat Festival Neue Musik Stuttgart und zur Ruhrtriennale, wo er zahlreiche zeitgenössische Musiktheaterproduktionen gestaltete. In der laufenden Saison steht er erstmals am Pult des Odense Symphony Orchestra und des Chores der Warschauer Nationalphilharmonie.
Für seine CDs erhielt Florian Helgath mehrfach renommierte Preise, darunter den ICMA Award 2017 und den ECHO Klassik 2017. Einstudierungen und Assistenzen übernahm er u. a. für Herbert Blomstedt, Kent Nagano, Rafael Frühbeck de Burgos und Christian Thielemann. Erste musikalische Erfahrungen sammelte Florian Helgath in seiner Heimatstadt bei den Regensburger Domspatzen. Später studierte er an der Hochschule für Musik und Theater in München. Zu seinen wichtigsten Lehrern zählen Michael Gläser, Stefan Parkman und Dan Olof Stenlund, die ihn in seiner Entwicklung als Dirigent entscheidend prägten. Als Finalist und Preisträger bei Wettbewerben wie dem Eric Ericson Award 2006 sowie bei der Competition For Young Choral Conductors 2007 in Budapest machte er international auf sich aufmerksam. Außerdem nahm Florian Helgath 2007 am Dirigierforum des Chores des Bayerischen Rundfunks teil.