Friede auf Erden

5. Chor-Abonnementkonzert
Samstag
13
Mai 2023
20.00 Uhr
München, Prinzregententheater

Konzerteinführung: 19.00 Uhr
mit Peter Dijkstra und Christof Hartkopf
Moderation: Jörg Handstein

Chor-Abonnement

Programm

Antoine Brumel
Missa »Et ecce terrae motus«
für zwölfstimmigen Chor a cappella

Kyrie eleison – Christe eleison – Kyrie eleison

Nana Forte
Miserere mei
für gemischten Chor a cappella

Uraufführung, Kompositionsauftrag des Chores des Bayerischen Rundfunks

Ned Rorem
In Time of Pestilence
Sechs kurze Madrigale auf Verse von Thomas Nashe
für gemischten Chor a cappella

I. Adieu, farewell earth’s bliss!
II. Rich men, trust not in wealth
III. Beauty is but a flower
IV. Strength stoops unto the grave
V. Wit with his wantonness
VI. Haste therefore each degree

Hubert Parry
Lord, Let Me Know Mine End
Motette aus den »Songs of Farewell«
für zwei gemischte Chöre a cappella
Pause
Jan Pieterszoon Sweelinck
De profundis
Motette für fünf Stimmen
Leonard Bernstein
Chichester Psalms
Fassung für Chor, Knabenstimme, Orgel, Harfe und Schlagwerk

I. Wohlauf, Psalter und Harfen
II. Der Herr ist mein Hirte
III. Herr, mein Herz ist nicht hoffärtig

Carl Fischer | Knabenstimme
Julia Duscher | Sopran
Veronika Sammer | Mezzosopran
Q-Won Han | Tenor
Andreas Burkhart | Bariton

Arnold Schönberg
Friede auf Erden
für gemischten Chor a cappella, op. 13

Mitwirkende

Carl Fischer Solist des Tölzer Knabenchors
Uta Jungwirth Harfe
Andreas Moser Schlagwerk
Max Hanft Orgel
Chor des Bayerischen Rundfunks
Peter Dijkstra Leitung

Konzertaudio

(verfügbar bis 14. Juni 2023)

Chor des Bayerischen Rundfunks © Astrid Ackermann
Kurzinfo zum Konzert
Interpreten
Gesangstexte

Interview mit Nana Forte

Nana Forte (Foto M. M. Hochstätter)

Nana Forte
* 1981 in Zagorje ob Savi, Slowenien

Miserere mei für gemischten Chor a cappella
Entstehungszeit: 2022 als Auftragswerk des Chores des Bayerischen Rundfunks
Uraufführung: am 13. Mai 2023 im Münchner Prinzregententheater mit dem BR-Chor unter der Leitung von Peter Dijkstra

Nana Forte lebt und arbeitet in Slowenien. Komposition studierte sie an der Musikakademie in Ljubljana und anschließend an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden sowie an der Universität der Künste in Berlin. Mit ihren Kompositionen ist sie weltweit auf wichtigen Festivals und in zahlreichen Radiosendungen und Konzerten präsent. Neben Kammer- und Orchestermusik sowie Solo-Werken widmet sich Nana Forte auch dem Musiktheater, so etwa mit Paradies oder nach Eden, 2016 am Vorarlberger Landestheater in Bregenz uraufgeführt. Ein besonderes Anliegen ist ihr das Komponieren für Chor, so entstand bereits 2007 ein doppelchöriges Libera me, und Sancta Trinitas stand 2017 auf dem Programm der Konzertreise des World Youth Choir durch viele südosteuropäische Länder. Im selben Jahr war En ego campana beim Baltic Sea Festival mit dem Schwedischen Rundfunkchor unter Peter Dijkstra zu hören.

Was in unserer menschlichen Natur liegt
Uta Sailer im Gespräch mit der Komponistin Nana Forte

Nana Forte, woher rührt Ihre Liebe zum Chorgesang?

Slowenien hat eine große Chortradition. Es gibt schon in den Grundschulen Chöre, und natürlich auch an den Oberschulen und den Universitäten. Ich singe im Chor, seit ich sechs Jahre alt bin. Das ist ein sehr kostbarer Erfahrungsschatz für mich. Ich habe meistens in Laienchören gesungen, wo viele Leute gar keine Noten lesen konnten. Ich finde das beeindruckend, wie sie sehr schwierige Kompositionen trotzdem vom Herzen her, einfach nach dem Gehör, singen können. Ich habe dadurch ein Gefühl dafür entwickelt, was im Chor umsetzbar ist und was nicht.

Wann haben Sie begonnen, Chorstücke zu komponieren?

Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich mein erstes Chorstück geschrieben habe. Mein Lehrer an der Musikschule sagte zu uns: »Komponiert etwas! Ich werde euch helfen.« Also habe ich ein Stück geschrieben. So habe ich die Liebe zum Komponieren entdeckt. An der Musikschule hatten wir ja kaum zeitgenössische Musik gespielt, sondern nur Werke von toten Komponisten. Deshalb wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass man auch selbst Komponistin werden kann! Ich hatte damals noch keinen lebenden Komponisten gesehen – ich wurde ja in einer kleinen Stadt geboren, da gab es sowas nicht.

Ihre Komposition für den Chor des Bayerischen Rundfunks wird im Konzert unter dem Namen »Friede auf Erden« gesungen. Unsere Tage sind sehr herausfordernd mit dem Krieg in der Ukraine: Wie erleben Sie die Situation?

Ein Krieg ist schrecklich. Zu den Fakten zählt allerdings auch, dass ständig irgendwo auf der Welt Krieg ist. Aber wir sind uns dessen nicht so bewusst wie jetzt beim Ukrainekrieg, der so nah und auf europäischem Boden stattfindet. Europa hat sich wirklich bemüht, damit nie wieder Krieg ausbricht, aber ganz offensichtlich haben wir versagt. Ich denke oft an die leidenden Menschen in allen Kriegsregionen dieser Welt. Wir wissen, was passiert, wir sehen es in den Nachrichten. Ich frage mich selbst ganz aufrichtig: Was liegt in unserer menschlichen Natur, dass wir solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen? Wieder und wieder. Wir lernen nicht dazu. Wir müssen uns hin zu einem höheren Bewusstsein entwickeln und lernen, die Unterschiede zu lieben, Beziehungen schaffen zwischen Religionen und Kulturen, und nicht einfach ablehnen, was anders ist. Oder Angst davor haben.

Welche Rolle kann Musik in dieser bewegten Zeit spielen?

Musik kann trösten. Musik kann dir helfen, dich mit deinem Inneren zu verbinden und inneren Frieden zu finden – trotz allem. Musik kann deinen Geist erheben. Sie eröffnet andere Dimensionen jenseits der Worte, über das Spüren. Positive Musik kann Hoffnung geben.

Der Titel Ihrer Auftragskomposition lautet »Miserere mei«. Sie haben auch früher schon mehrere Stücke mit sakralen Titeln geschrieben, beispielsweise »Sancta Trinitas« oder »Te Deum laudamus«. Welche Rolle spielt der Glaube für Sie?

Ich bin in einer nicht religiösen Familie aufgewachsen, aber ich fühlte mich durch Musik immer sehr verbunden mit der spirituellen Welt. Außerdem haben mich die Erfahrungen, die ich im Leben gemacht habe, dazu gebracht, nach dem Sinn meiner Existenz zu fragen. Ich habe beide Eltern verloren. Wer das erlebt und die Trauer durchmacht, muss irgendwo Halt, Vertrauen und Glauben finden. Du suchst dann nach dem Sinn deines Lebens, nach dem Sinn dieser Ereignisse, des ganzen Lebenszyklus. Deshalb ist Spiritualität sehr wichtig für mich.

Warum haben Sie gerade den Psalm 51 ausgewählt für ihr Werk?

Dieser Text hat eine starke Botschaft, mit der jede und jeder etwas anfangen kann – gerade in unseren Zeiten. Der Psalm spricht darüber, dass demjenigen vergeben wird, der seine Sünden und Fehler erkennt und seine Wunden zeigt, und mit all dem zu Gott betet. Er wird geheilt. Wenn du deine Fehler anerkennst, dann kannst du dich weiterentwickeln, ein besserer Mensch werden.

Wie läuft der Kompositionsprozess ab? Schreiben Sie am Klavier oder experimentieren Sie mit der Stimme?

Zuerst analysiere ich den Text und spüre hin, welche Atmosphäre eine Passage braucht. Dann suche ich Melodien, Harmonien und ja, ich singe auch beim Komponieren. Das Wichtigste ist die Intuition. Wer nur mit dem Kopf arbeitet, ist limitiert: Du bleibst in deiner Welt, in deinen Vorstellungen gefangen. Aber wenn es dir gelingt, diesen Kanal zu öffnen, dann können wunderbare Ideen kommen, die dir im Kopf niemals einfallen würden. Wenn die Ideen dann da sind, kommt das musikalische Handwerk zum Einsatz, beispielsweise die Entwicklung des Materials oder der Aufbau von Strukturen.

Wo finden Sie Inspiration?

Vieles inspiriert mich: der charakteristische Klang eines Instrumentes oder ein bestimmter Chor, für den ich schreibe, Texte natürlich auch. Die größte Inspiration ist aber die Natur. Ich lebe oben auf einem Berg, umgeben von Wald und Wiesen mit herrlicher Aussicht. Ich baue auch mein eigenes Gemüse an. Jahr für Jahr lerne ich mehr über das Gärtnern, und das bereitet mir große Freude. Es ist ein wunderbares Gefühl, den Boden zu berühren und die Pflanzen wachsen zu sehen. Wir lernen, im Einklang mit der Natur zu leben, indem wir dabei zusehen, wie die Natur die verschiedenen Jahreszeiten durchläuft. Und es ist mir sehr wichtig, die Sterne sehen zu können.

»Miserere mei« ist ein Auftragswerk für den Chor des Bayerischen Rundfunks. Sitzen Sie in den Proben und geben Peter Dijkstra, dem Leiter des Chores, Tipps bei der Einstudierung?

Nein, ich vertraue Peter vollkommen bei seiner Interpretation. Er hat viele Stücke von mir aufgeführt und ich war immer sehr zufrieden. Er ist ein Genie im Chordirigieren. Er fühlt, was der Komponist sagen will und drückt es perfekt aus. Manchmal holt er sogar mehr raus, als ich mir selbst vorstellen kann. Das ist dann wie ein Upgrade. Ich bin sehr glücklich, mit ihm zusammenzuarbeiten.

Herzlichen Dank für das Gespräch und alles Gute für Sie!

Werkeinführungen

Arnold Schönberg (Foto: schoenberg.at)

Arnold Schönberg (Fotografie, um 1906)

Antoine Brumel
* um 1460 in der Diözese Laon (Nordfrankreich)
† nach 1513 in Italien
Missa »Et ecce terrae motus« zu zwölf Stimmen
Entstehungszeit: um 1497
Handschrift: 1568 zum Gebrauch in der Münchner Hofkapelle unter der Leitung von Orlando di Lasso ingrossiert in ein Chorbuch, das in der Bayerischen Staatsbibliothek zu München aufbewahrt wird.

Ned Rorem
* 23. Oktober 1923 in Richmond, Indiana
† 18. November 2022 in Manhattan, New York
In Time of Pestilence, sechs Madrigale für gemischten Chor a cappella
Entstehungszeit: August bis Dezember 1973 in New York als Auftragswerk des Kansas State University Concert Choir und dessen Leiter Rod Walker
Uraufführung: nicht bekannt

Hubert Parry
* 27. Februar 1848 in Bournemouth, Dorset
† 7. Oktober 1918 in Knight’s Croft, Rustington, Sussex
Lord, Let Me Know Mine End, Motette aus den »Songs of Farewell« für Doppelchor a cappella
Entstehungszeit: 1916 bis 1918
Uraufführung: am 23. Februar 1919 in der Kapelle des Exeter Colleges in Oxford

Jan Pieterszoon Sweelinck
* 1561 in Deventer
† 16. Oktober 1621 in Amsterdam
De profundis, Motette zu fünf Stimmen, SwWV 170
Erstdruck: »Cantiones sacrae cum basso continuo ad organum quinque vocum«, gedruckt in Antwerpen bei Pierre Phalèse, 1619
Widmung: Sweelincks Schüler und Freund Cornelis Plemp

Leonard Bernstein
* 25. August 1918 in Lawrence, Massachusetts
† 14. Oktober 1990 in New York City
Chichester Psalms
Entstehungszeit: am 7. Mai 1965 vollendet
Widmung: in Auftrag gegeben von Walter Hussey, dem Dekan der Chichester Cathedral, Cyril Solomon in Dankbarkeit zugeeignet
Uraufführung: 15. Juli 1965 in New York City mit den Camerata Singers und dem New York Philharmonic unter der Leitung von Leonard Bernstein

Arnold Schönberg
* 13. September 1874 in Wien
† 13. Juli 1951 in Los Angeles
Friede auf Erden
Entstehungszeit: 1906/07
Uraufführung: 9. Dezember 1911 im Großen Musikvereinssaal in Wien mit dem Philharmonischen Chor, dem Männerchor des Wiener Lehrergesangvereins und dem Wiener Tonkünstler-Orchester unter der Leitung von Franz Schreker

Eine umfassende Friedensvision

Notizen zu Chorwerken der menschlichen Nöte, Sehnsüchte und Hoffnungen. Von Jörg Handstein

Plötzlich hereinbrechende Naturgewalten haben die Menschen lange Zeit auf jenseitigen Einfluss zurückgeführt – sei es als Strafe Gottes, als Warnung oder auch als Zeichen. »Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab«, berichtet etwa der Evangelist Matthäus von der wundersamen Auferstehung des gekreuzigten Jesu. Versehen mit einem gregorianischen Choral, floss der Bibelvers (Mt. 28,2) ein in die Osterliturgie, und von dort aus in eine der spektakulärsten Musiken der Renaissance: die Missa »Et ecce terrae motus«. Antoine Brumel galt neben Josquin und Heinrich Isaac als herausragender Vertreter der kunstvollen Vokalpolyphonie seiner Epoche. Mehr als seine Kollegen experimentierte er mit ungewöhnlichen Satztechniken. Hier verdreifacht er die übliche Zahl der Stimmen auf zwölf. Wie lange Fäden ziehen sich die ersten Töne des Chorals durch die engmaschige Textur des »Kyrie«, kanonisch geführt und verwoben mit vielen kurzgliedrigen, teils repetitiven Figuren. Es entstehen faszinierende Muster von Klang und Rhythmus, die sich gegen Ende so energetisch verdichten, dass die ganze Architektur zu schwanken scheint.

Zu den existenziellen Erschütterungen gehörten in älteren Zeiten auch die wiederkehrenden Pest-Epidemien. Die ersten Wellen des Schwarzen Todes um 1350 hinterließen nicht nur entvölkerte Landstriche, sondern auch traumatische Schrecken: Unvermittelt stürzt alles ein, woran man sich auf Erden klammert. Im Sommer 1592 erreicht das Bakterium Yersinia pestis London und vermehrt sich prächtig. 20.000 Menschen bleibt nur noch zu beten: »I am sick, I must die. Lord, have mercy on us!« Der Dichter Thomas Nashe benutzt die Form der Litanei für sein eindringliches Gedicht In Time of Pestilence. Sechsmal prachtvoll ausgekleidete Bilder der Vergänglichkeit, sechsmal der nackte Ruf um Erbarmen.

»Ich kann alles in Musik setzen, auch die Enzyklopädie«, sagte Ned Rorem, der amerikanische Meister des Kunstliedes und der kleinen, gebündelten Form. Das in England um 1600 sehr beliebte Madrigal war ein solche Form, zugeschnitten auf die konzentrierte Vertonung kleiner Gedichte. So gibt Rorem den sechs gleichförmigen Strophen von Nashe einen je eigenen, präzis umrissenen musikalischen Charakter. Entstanden 1973, ist der kleine Madrigal-Zyklus In Time of Pestilence geprägt von einer sehr modern interpretierten, labilen und harmonisch gebrochenen Tonalität. Die existenzielle Notlage, die Angst, das haltlose Schwanken zwischen Leben und Tod werden eindringlich spürbar.

»Herr, lass mich erkennen mein Ende und die Zahl meiner Tage!« Auch der 39. Psalm zeigt den Menschen konfrontiert mit Not und Vergänglichkeit. Hubert Parry setzte ihn mit Bedacht ans Ende seines letzten großen Werkes. Als Direktor des Royal College of Music war er eine Instanz des englischen Musiklebens, typisch für die viktorianische Epoche hatte er viel Erfolg mit seinen großangelegten Chorwerken. Aber mit dem Ersten Weltkrieg brach für ihn eine Welt zusammen. Denn so sehr er sich mit Bach, Mendelssohn, Brahms, ja der ganzen deutschen Kultur verbunden fühlte, so sehr litt er an dem gegenseitigen Gemetzel, dem auch einige seiner Studenten zum Opfer fielen.

Die 1918 beendeten Songs of Farewell, sechs Motetten in der stilistischen Linie seiner Vorbilder, reflektieren diese Situation. Neben Momenten von Trauer, Schrecken und Finsternis überwiegen allerdings eine Grundstimmung von gelöster Serenität. Parry sucht Frieden in einer Sphäre, in der die krude Materialität des Krieges keine Rolle mehr spielt. Die monumentale, doppelchörige Psalm-Motette Lord, Let Me Know Mine End schildert in den grandiosen Farben von Parrys Harmonik eine letzte, große Aussprache mit Gott, getragen von höchster Kunstfertigkeit im Chorsatz und tiefer Sehnsucht nach Licht und Ruhe. Noch im selben Jahr sollte Parry wie Millionen anderer Menschen von der Spanischen Grippe hinweggerafft werden.

Leonard Bernsteins vorletztes religiöses Werk, die Symphonie Kaddish von 1963, war nichts weniger gewesen als eine Konfrontation mit einem Gott, der seine Schöpfung nach wie vor dem Unfrieden überlässt. Der Glaubenskrise folgte, vielleicht nicht zufällig, eine intensive Beschäftigung mit der Zwölftonmusik und anderen Modernismen. Doch das erwies sich dann doch nicht als Bernsteins Welt: »Als Resultat meines Meditierens, nach zwei Monaten Herumirrens in der Avantgarde, steht mein jüngstes Kind auf altmodisch süßen, eigenen zwei tonalen Füßen.« Dieses Kind verdankt sich dem Dekan der Kathedrale im englischen Chichester, der Bernstein um einen Beitrag zum Southern Cathedrals Festival gebeten hatte. Er hatte sogar die Bedingung akzeptiert, Psalmen im hebräischen Urtext singen zu lassen.

Allein schon deshalb ist Bernsteins Auskunft, die 1965 entstandenen Chichester Psalms seien »irgendwie gerade und normal«, nicht unbedingt wörtlich zu nehmen: Schon die markante Anfangs-Fanfare schrägt die Tonalität mit einer Septime an, und Konflikte mit harmoniefremden Tönen ziehen sich durch das ganze Werk. Der 7/4-Takt des ersten Satzes ist sogar betont ungerade. Der Bernstein-Biograf Peter Gradenwitz charakterisiert das Werk treffend »als Komposition einer komplizierten Simplizität«.

Der scheinbar leichte Tonfall lässt eine Nähe zum Broadway spüren, im zweiten Satz verarbeitet Bernstein sogar für Musicals bestimmtes Material. So war die mit trockener Aggressivität in die melodische Idylle des 23. Psalms einbrechende Musik zunächst für den Kampf zu Beginn der West Side Story vorgesehen. Genial überlagert Bernstein die an sich unvereinbaren Ebenen. Quälend ballen sich im Vorspiel des dritten Satzes die Dissonanzen, bis sich letztlich das ganze Werk, »peacefully flowing«, auflöst in eine umfassende Friedensvision. Die Botschaft prangt in einem G-Dur von entwaffnender Naivität. Ist sie vielleicht allzu simpel? Doch der stille Rückgriff auf die Eingangsfanfare ruft auch tiefere Gedanken wach …

Zu den am häufigsten komponierten Psalmen gehört die Nummer 130, auch einfach bekannt als das De Profundis. Der auf wenige Verse komprimierte Gegensatz von tiefster Gewissensqual und Erlösungshoffnung berührt eine menschliche Grunderfahrung und schreit geradezu nach emotional gespannter Musik. Jan Pieterszoon Sweelinck, der letzte Meister der niederländischen Vokalpolyphonie, vertont den Bußpsalm De profundis als klassische, fünfstimmige Motette von eher schlichter Haltung, aber teils doch sehr bildkräftig. So spannt sich gleich der erste Vers von äußerster Tiefe über drei Oktaven hinweg nach oben. Die Sünden (»iniquitates«) werden in engräumigen, kleinlaut wirkenden Tonschritten beklagt, die Hoffnung (»Speret Israel«) äußert sich in der rhythmischen und melodischen Belebung der Psalmrezitation. Mit seinen Harmonien und Stimmkombinationen schafft Sweelinck überhaupt viel Licht und Schatten.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bewaffneten sich die gegenseitig belauernden europäischen Nationen bis an die Zähne mit Kriegsgerät von immer größerer Zerstörungskraft. »Man sollte glauben, dieses Alles könnte einmal durch ein unberechenbares Versehen in die Luft fliegen« fürchtete nicht nur Richard Wagner. So erstarkte auch die junge Friedensbewegung, und Bertha von Suttners Antikriegs-Roman Die Waffen nieder! von 1889 wurde zum Bestseller. Von den Hoffnungen auf ein endgültiges Verschwinden der Kriege kündet auch Conrad Ferdinand Meyers Weihnachtsgedicht Friede auf Erden, mit dem Suttner 1891 ihre pazifistische Zeitschrift eröffnete, und das Arnold Schönberg 1906/07 vertonte. Später, vom Ersten Weltkrieg ernüchtert, bezeichnete er das Werk als »eine Illusion für gemischten Chor, eine Illusion, wie ich heute weiß, der ich 1906, als ich sie komponierte, diese reine Harmonie unter Menschen für denkbar hielt«.

Die Harmonik spielt in Schönbergs letztem tonal-spätromantischem Werk dann auch eine entscheidende Rolle. Das Hauptmotiv, eine klare Tonfolge über »Friede«, ruft geradezu nach »reinen« Klängen, aber Chromatik, gespreizte Intervalle und alterierte Akkorde verschleiern, unterlaufen und stören jede Konsonanz, sorgen für fast ständige Komplikationen im harmonischen Ablauf. Nach der Uraufführung im Dezember 1911 beschwerte sich ein Kritiker über diesen »wenig friedlichen, dissonanzfrohen Chor«, ein anderer empfahl: »Eine musikalische Baronin Suttner hätte diesem Werke dringend notgetan.« Dabei wollte Schönberg wohl nur ausdrücken, dass der Frieden in einer komplizierten, konfliktreichen Welt nicht so einfach zu haben ist.

Weitere Konzerte

Do. 30. Mai, 20.00 Uhr
München, Isarphilharmonie im Gasteig HP 8
Riccardo Muti (Foto: Todd Rosenberg, by courtesy of www.riccardomuti.com)
Riccardo Muti dirigiert Schubert, Haydn, Strauss
Abonnementkonzert des BRSO: Schubert – Messe Nr. 2 G-Dur u.a.
Sa. 15. Jun, 20.00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz
5. Chor-Abonnementkonzert 2023/24
Veni creator spiritus
Michael Hofstetter dirigiert Werke von Lasso, Praetorius, Schütz und Gabrieli sowie neue Chormusik von Richard van Schoor
Sa. 22. Mrz, 20.00 Uhr
München, Herkulessaal der Residenz
Chor-Abo plus 24/25 (Grafik: Klaus Fleckenstein)
Sir Simon Rattle – musica viva
Sir Simon Rattle präsentiert mit BR-Chor und BRSO Werke von Pierre Boulez, Luciano Berio und Helmut Lachenmann
×