Sir Simon Rattle dirigiert Bachs Matthäus-Passion
Freitag, 19.11.2021
München, Herkulessaal der Residenz, 18 Uhr
Wichtiger Hinweis
Im Kreis der Mitwirkenden für die heute Abend im Herkulessaal angesetzte „Matthäus-Passion“ von Johann Sebastian Bach unter der Leitung von Sir Simon Rattle wurde ein Ensemble-Mitglied positiv auf das Corona-Virus getestet. Mit Blick auf den Schutz seines Publikums hat sich der Bayerische Rundfunk als Veranstalter entschlossen, die öffentliche Veranstaltung kurzfristig abzusagen. Das Konzert findet ohne Publikum in geänderter Aufstellung und mit reduzierter Besetzung statt, damit ist es wie geplant im Hörfunk und im Video-Livestream zu erleben. Die Inhaber von Karten erhalten den Wert des ausgefallenen Konzerts zurück und werden darüber so bald wie möglich informiert.
Johann Sebastian Bach
Matthäus-Passion
BWV 244
Erster Teil (Nr. 1–29) – Pause – Zweiter Teil (Nr. 30–68)
Camilla Tilling Sopran
Magdalena Kožená Mezzosopran
Mark Padmore Tenor/Evangelist
Andrew Staples Tenor
Georg Nigl Bariton (Jesus)
Roderick Williams Bariton
Chor des Bayerischen Rundfunks
Howard Arman Einstudierung
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Sir Simon Rattle
Leitung
Den „Mount Everest der Musik“ nannte der amerikanische Regisseur Peter Sellars Bachs „Matthäus-Passion“ einmal. Nun erklimmt Simon Rattle diesen Gipfel der abendländischen Musik mit seinen beiden künftigen Münchner Ensembles, dem BRSO und dem BR-Chor. Auch die erlesene Riege der Gesangssolisten lässt die Erwartung steigen. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Evangelisten zu, der das Passionsgeschehen nicht nur erzählt, sondern als Zeuge innerlich selbst beteiligt und berührt ist. Mit dem britischen Tenor Mark Padmore übernimmt den Part einer der charismatischsten Evangelisten unserer Tage.
Soliloquenten
Simona Brüninghaus, Diana Fischer | Sopran (Magd I, II)
Barbara Fleckenstein | Sopran (Pilati Weib)
Mareike Braun | Alt (Zeuge I)
Moon Yung Oh | Tenor (Zeuge II)
Christof Hartkopf | Bass (Petrus)
Andreas Burkhart | Bass (Judas)
Timo Janzen, Werner Rollenmüller | Bass (Hohepriester I, II)
Orchester I
Anton Barakhovsky, Michael Friedrich, Marije Grevink, Nicola Birkhan | Violine I
Jehye Lee, Valérie Gillard, Celina Bäumer | Violine II
Hermann Menninghaus, Giovanni Menna | Viola
Lionel Cottet, Stefan Trauer | Violoncello
Heinrich Braun | Kontrabass
Henrik Wiese, Natalie Schwaabe | Flöte
Stefan Schilli, Emma Schied | Oboe/Oboe d’amore/ Oboe da caccia
Rie Koyama | Fagott
Peter Kofler | Orgel
Orchester II
Thomas Reif, Julita Smoleń, Andrea Karpinski, Daniela Jung | Violine I
Key-Thomas Märkl, David van Dijk, Amelie Böckheler | Violine II
Christiane Hörr-Kalmer, Anja Kreynacke | Viola
Hanno Simons, Frederike Jehkul-Sadler | Violoncello
Philipp Stubenrauch | Kontrabass
Ivanna Ternay, Ronja Macholdt | Flöte
Tobias Vogelmann, Jesús Pinillos Rivera | Oboe
Marco Postinghel | Fagott
Lukas Maria Kuen | Orgel
Jacopo Sabina | Theorbe
Christopher Urbanetz | Viola da gamba
Sir Simon Rattle Bezwingendes Charisma, Experimentierfreude, Einsatz für die zeitgenössische Musik, großes soziales und pädagogisches Engagement sowie uneingeschränkter künstlerischer Ernst – all dies macht den gebürtigen Liverpooler Simon Rattle zu einer der faszinierendsten Dirigentenpersönlichkeiten unserer Zeit. Im Januar 2021 unterzeichnete der britische Dirigent seinen Vertrag beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: Ab der Saison 2023/2024 wird er als Nachfolger von Mariss Jansons neuer Chefdirigent von BR-Chor und BRSO sein. Sein internationales Renommee erwarb sich Simon Rattle während seiner Zeit beim City of Birmingham Symphony Orchestra (1980–1998), das er zu Weltruhm führte. Von 2002 bis 2018 war er Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, aus dieser Zusammenarbeit gingen zahlreiche CD-Einspielungen sowie Uraufführungen u. a. von Werken von Adès, Berio, Gubaidulina, Boulez, Grisey, Lindberg und Turnage hervor. Derzeit hat Simon Rattle als Chefdirigent die Leitung des London Symphony Orchestra (LSO) bis Ende der Spielzeit 2022/2023 inne. Er ist u. a. auch den Wiener Philharmonikern, mit denen er sämtliche Symphonien und Klavierkonzerte von Beethoven (mit Alfred Brendel) eingespielt hat, und als „Principal Artist“ dem Orchestra of the Age of Enlightenment eng verbunden. An allen bedeutenden Opernhäusern ist Simon Rattle begehrter Gast: am Royal Opera House Covent Garden in London, an der Staatsoper Berlin, an der Wiener Staatsoper, an der er 2015 Wagners „Ring“-Tetralogie dirigierte, und an der New Yorker Metropolitan Opera, wo er u. a. mit „Tristan und Isolde“ und „Der Rosenkavalier“ zu erleben war. Bei den Salzburger Festspielen leitete Simon Rattle die Berliner Philharmoniker in szenischen Aufführungen von „Fidelio“, „Così fan tutte”, „Peter Grimes”, „Pelléas et Mélisande“, „Salome“ und „Carmen“. Ebenfalls mit den „Berlinern“ realisierte er Wagners „Ring“ beim Festival d’Aix-en-Provence und bei den Salzburger Osterfestspielen sowie Bachs „Johannes-Passion“, „Der Rosenkavalier“, „La damnation de Faust“, „Tristan und Isolde“ und „Parsifal“ bei den Osterfestspielen in Baden-Baden. Zuletzt feierte Simon Rattle mit Jenůfa an der Berliner Staatsoper sowie mit „Tristan und Isolde“ mit dem LSO in Aix-en-Provence große Erfolge. Für seine bisher mehr als 70 Plattenaufnahmen erhielt der Dirigent höchste Ehrungen. Hervorgehoben sei auch sein Engagement für das Education-Programm Zukunft @BPhil der Berliner Philharmoniker, für das er ebenfalls mehrfach ausgezeichnet wurde. Mit dem BRSO brachte Simon Rattle u. a. Schumanns „Das Paradies und die Peri“, Haydns „Die Jahreszeiten“, Wagners „Das Rheingold“ und „Die Walküre“ sowie Mahlers „Das Lied von der Erde“ zur Aufführung. Auf CD sind bisher „Das Rheingold“, „Die Walküre“ und „Das Lied von der Erde“ erschienen.
Der britische Tenor Mark Padmore gilt als einer der charismatischsten Evangelisten unserer Zeit. Große Anerkennung fand er mit dieser Rolle in den Aufführungen der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle in der „Ritualisierung“ von Peter Sellars. Beim BRSO war Mark Padmore – im Rahmen seiner Residenz 2016/2017 – in der „Johannes-Passion“ unter Herbert Blomstedt zu erleben. Der Tenor ist aber ebenso im modernen und zeitgenössischen Repertoire verankert. Komponisten wie Thomas Larcher, Mark-Anthony Turnage und Hans Zender schrieben Werke für ihn. Auf der Opernbühne verkörpert er u. a. Rollen von Birtwistle und Britten, zuletzt Gustav von Aschenbach in Brittens „Death in Venice“ in London. Als Liedsänger wurde Mark Padmore für seine Schubert-Aufnahmen mit dem Gramophone Solo Vocal Award geehrt. Mit dem BR-Chor und dem BRSO veröffentlichte er Brittens „War Requiem“ unter Mariss Jansons, Beethovens „Missa solemnis“ und Haydns „Schöpfung“ unter Bernard Haitink. Zuletzt gastierte er beim BR 2019 mit Beethovens Neunter unter Bernard Haitink.
Camilla Tilling Mit ihrer hellen, klaren Stimme und ihrer enormen musikalischen Vielseitigkeit steht die schwedische Sopranistin Camilla Tilling seit über zwei Jahrzehnten auf den führenden Opern- und Konzertbühnen weltweit. Daneben hat sie eine beeindruckende Diskographie aufgebaut. Zu ihren neuesten Veröffentlichungen zählen das Album „Jugendstil. Songs 1898–1916“, Arien von Mozart und Gluck, Haydns „Schöpfung“ mit Chor und Symphonieorchester des BR unter Bernard Haitink sowie Schumanns „Myrthen“ mit Christian Gerhaher und Gerold Huber. Camilla Tilling wirkte an den vielbeachteten Aufführungen der Bach’schen Passionen durch die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle in der „Ritualisierung“ von Peter Sellars mit und sang u. a. die Partie der Tove in Schönbergs „Gurre-Liedern“, Bergs „Sieben frühe Lieder“, Beethovens „Missa solemnis“ sowie erst kürzlich Mahlers Vierte Symphonie mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter Gustavo Dudamel. Beim BRSO war Camilla Tilling zuletzt 2018 mit Brahms „ Deutschem Requiem“ unter Bernard Haitink zu Gast.
Magdalena Kožená wurde in Brno geboren und studierte am dortigen Konservatorium sowie bei Eva Bláhová in Bratislava. 1995 gewann sie den Internationalen Mozart-Wettbewerb in Salzburg. 2002 debütierte sie bei den Salzburger Festspielen als Zerlina, 2003 an der New Yorker Met als Cherubino. Weitere wichtige Rollen waren Mélisande, Carmen, Charpentiers Médée, Martinůs Juliette sowie in jüngerer Zeit Octavian an der Met, Idamante an der Staatsoper Berlin, die Kellnerin in der Uraufführung von Saariahos „Unschuld“ in Aix-en-Provence und Phèdre in Rameaus „Hippolyte et Aricie“ Anfang November in Berlin. Auch als Konzert- und Liedsängerin feiert Magdalena Kožená große Erfolge. Beim BRSO war sie zuletzt im vergangenen März in der Premiere von Ondřej Adámeks Liederzyklus „Where Are You?“ unter Simon Rattle zu erleben. Ihr breit gefächertes Repertoire von Monteverdi und Bach bis zur Moderne spiegelt sich auch in ihrer Diskographie wider. Auf ihrem neuesten Album „Nostalgia“ mit Yefim Bronfman singt sie Lieder von Brahms, Bartók und Mussorgsky.
Andrew Staples war Chorknabe an der St Paul’s Cathedral in London und studierte am King’s College in Cambridge, am Royal College of Music in London und an der Benjamin Britten International Opera School. 2007 debütierte er als Jaquino („Fidelio“) am Royal Opera House in London, an das der britische Tenor seitdem regelmäßig zurückkehrte, u. a. als Flamand („Capriccio“), Tamino („Die Zauberflöte”), Narraboth („Salome”), Tichon Kabanov („Kátja Kabanová“) und Froh („Das Rheingold“). Er verkörperte außerdem Don Ottavio („Don Giovanni“) bei den Salzburger Festspielen sowie Tamino beim Lucerne Festival, am Schlosstheater Drottningholm und an der Lyric Opera in Chicago. 2019/2020 stand er als Andres in „Wozzeck“ erstmals auf der Bühne der New Yorker Met. Auf dem Konzertpodium arbeitet Andrew Staples u. a. mit den Berliner und den Wiener Philharmonikern, dem London Symphony Orchestra, dem Philadelphia Orchestra und dem BRSO zusammen, bei dem er zuletzt im März 2017 in Bachs „Johannes-Passion“ unter Herbert Blomstedt zu erleben war.
Georg Nigl Seine enge Verbundenheit mit dem Sprechtheater, die besondere Gewichtung von Text und Rhetorik sowie seine herausragenden darstellerischen Fähigkeiten machen Georg Nigl zu einem der derzeit begehrtesten Baritone. Der gebürtige Wiener war Sopransolist der Wiener Sängerknaben und erhielt wichtige Impulse bei Kammersängerin Hilde Zadek. Für seine Interpretation von Rihms Jakob Lenz wurde er 2015 von der Zeitschrift „Opernwelt“ zum „Sänger des Jahres“ gekürt. Gefeiert wurde er auch für seinen Wozzeck an der Mailänder Scala, für den Pilatus in der „Johannes-Passion“ unter Simon Rattle in der „Ritualisierung“ von Peter Sellars, für den Grafen von Gloster in der Neuproduktion von Reimanns „Lear“ an der Bayerischen Staatsoper und die Titelpartie in Trojahns „Orest“ an der Wiener Staatsoper. Er ist Ideengeber für Komponisten wie Friedrich Cerha, Georg Friedrich Haas, Olga Neuwirth und Wolfgang Rihm und wirkte an zahlreichen Uraufführungen mit, z. B. in der Titelpartie von Pascal Dusapins „Macbeth Underworld“ 2019 in Brüssel oder Matthias Pintschers „Shirim“ 2020 mit dem BRSO in München.
Der britische Bariton Roderick Williams studierte an der Guildhall School of Music seiner Geburtsstadt London und ist seit langem ein begehrter Gast an allen führenden Opernhäusern Großbritanniens. Sein Repertoire umfasst Werke von Monteverdi bis zur zeitgenössischen Musik und Opernpremieren, etwa von David Sawer, Sally Beamish, Michel van der Aa, Robert Saxton und Alexander Knaifel. Höhepunkte seiner bisherigen Laufbahn waren u. a. Auftritte bei der „Last Night of the Proms“ 2014, als Christus in der inszenierten „Johannes-Passion“ unter Simon Rattle in Berlin und Baden-Baden 2015 sowie als Brittens Billy Budd beim Aldeburgh Festival 2017. Roderick Williams widmet sich auch intensiv dem Liedgesang. zusammen mit dem Pianisten Iain Burnside nahm er die drei Schubert-Zyklen auf und steuerte zahlreiche Lieder zur umfangreichen „English Song Collection“ bei. Derzeit ist er „Singer in Residence“ bei Music In The Road in Sheffield und „Artist in Residence“ des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra.
Die Augsburger Domsingknaben gehören zu den renommiertesten Knabenchören weltweit und sind einer der wichtigsten Botschafter des Bistums und der Stadt. Neben der Pflege der Musica Sacra in der Liturgie am Augsburger Dom treten sie auch international auf. Dabei arbeiten bzw. arbeiteten sie mit Dirigenten wie Thomas Hengelbrock, Kent Nagano, Mariss Jansons, Daniel Harding, Manfred Honeck, Bernard Haitink und Valery Gergiev. Knabensolisten singen regelmäßig bei renommierten Musikfestivals und werden u. a. an die Bayerische Staatsoper in München, die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf, die Opéra national du Rhin Strasbourg und an das Staatstheater ihrer Heimatstadt Augsburg engagiert. Der Kammerchor ist das musikalische Aushängeschild der Augsburger Domsingknaben. Neben der musikalischen Gestaltung der Liturgie im Dom zu Augsburg gehören die Aufführungen des „Weihnachtsoratoriums“ sowie im Wechsel der „Johannes-“ bzw. „Matthäus-Passion“ zu den jährlichen Terminen. Das Repertoire des Kammerchores reicht von gregorianischem Choral über Werke der Renaissance, der Wiener Klassik bis hin zu zeitgenössischen Messen. Alte Musik in historischer Aufführungspraxis bildet einen Schwerpunkt in der Arbeit ebenso wie in der Ausbildung durch den Domkapellmeister und Leiter des Kammerchores Stefan Steinemann. Der Kammerchor konzertiert in ganz Deutschland und Europa sowie in aller Welt und erhielt renommierte Auszeichnungen, wie den BBC Music Magazine Award 2018 für die Aufnahme von Mahlers Dritter Symphonie mit dem BRSO unter Bernard Haitink.
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Mit der Saison 2023/2024 wird das BRSO seinen neuen Chefdirigenten begrüßen können, der in der Zwischenzeit auch mehrfach am Pult stehen wird: Sir Simon Rattle. Er ist als sechster Chefdirigent in der Reihe bedeutender Orchesterleiter nach Eugen Jochum, Rafael Kubelík, Sir Colin Davis, Lorin Maazel und Mariss Jansons eine Dirigentenpersönlichkeit von großer Offenheit für neue künstlerische Wege. Das BRSO entwickelte sich schon bald nach seiner Gründung 1949 zu einem international renommierten Klangkörper. Neben dem klassisch-romantischen Repertoire gehört im Rahmen der 1945 von Karl Amadeus Hartmann gegründeten „musica viva“ die Pflege der zeitgenössischen Musik zu den zentralen Aufgaben des Orchesters. Viele namhafte Gastdirigenten wie Leonard Bernstein, Georg Solti, Carlo Maria Giulini und Wolfgang Sawallisch haben das Orchester geprägt. Heute sind Herbert Blomstedt, Franz Welser-Möst, Daniel Harding, Yannick Nézet-Séguin und Andris Nelsons wichtige Partner. Tourneen führen das Orchester durch Europa, nach Asien sowie nach Nord- und Südamerika. Von 2004 bis 2019 hatte das BRSO eine Residenz beim Lucerne Easter Festival. Zahlreiche Auszeichnungen dokumentieren den festen Platz des BRSO unter den internationalen Spitzenorchestern. Anfang 2019 wurden die Gastkonzerte in Japan unter der Leitung von Zubin Mehta von japanischen Musikkritikern auf Platz 1 der „10 Top-Konzerte 2018“ gewählt. 2020 setzte die Jury des Preises der deutschen Schallplattenkritik die CD mit Schostakowitschs Zehnter unter Mariss Jansons auf die Bestenliste 1/2020.
„Aus Liebe will mein Heiland sterben“
Gedanken zu Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion. Von Matthias Keller
Johann Sebastian Bach
21. März 1685 in Eisenach – 28. Juli 1750 in Leipzig
Matthäus-Passion
Entstehungszeit: vermutlich um 1727 (= BWV 244b) Dem heutigen Konzert liegt das um 1736 für weitere Aufführungen (1736, 1742) überarbeitete Material in der Handschrift des Komponisten zu Grunde (= BWV 244). Uraufführung: wahrscheinlich am Karfreitag, 11. April 1727. Gesicherte Aufführung am Karfreitag, 15. April 1729, in der Leipziger Thomaskirche
Felix Mendelssohn Bartholdys Wiederentdeckung und Wiederaufführung der Bach’schen „Matthäus-Passion“ im Jahr 1829 wird bis heute als musikhistorische Glanzleistung gewürdigt: als Verneigung nicht nur vor der Person des berühmten Thomaskantors, der zum damaligen Zeitpunkt weitgehend in Vergessenheit geraten war, sondern auch vor einer verloren gegangenen Ära kollektiver Frömmigkeit und intakten Kirchenlebens. Doch wird dabei gerne übersehen, dass die „Matthäus-Passion“, wenngleich wohl das bedeutendste und gewaltigste Werk Johann Sebastian Bachs, zu dessen Lebzeiten keineswegs sehr erfolgreich war, geschweige denn berühmt. Die Zahl ihrer Aufführungen unter Bach selbst beschränkt sich vielmehr auf drei beziehungsweise vier, je nachdem, ob man nun bereits das Jahr 1727 als Ursprungsjahr in Betracht zieht oder die bislang einzig belegbare Aufführung am Karfreitag 1729 in der Leipziger Thomaskirche. Eine weitere Darbietung erlebte das Stück 1736 und nochmals vermutlich 1742, wie bestimmte Änderungen und Ergänzungen des Notentextes von Bachs Hand nahe legen. Überhaupt liefern diese meist aufführungspraktischen Überarbeitungen heute die wichtigsten Anhaltspunkte zur Entstehungsgeschichte des Stückes. Denn die autographe Reinschrift der Partitur datiert erst aus dem Jahr 1736, was in etwa dem Endstadium ihrer Entwicklung entsprechen dürfte.
Für Bach selbst war die „Matthäus-Passion“ freilich von zentraler Wichtigkeit. Gerade deshalb stellt sich die Frage, weshalb ein Werk, welches mit dem Hauptereignis des Leipziger Kirchenjahres korrespondierte, so wenig zeitgenössisches Echo fand. Eine mögliche Antwort hierauf gibt der Blick in die spezifische Leipziger Tradition, wie Bach sie bei seinem Dienstantritt 1723 vorfand. Zwar war dort in der Neuen Kirche bereits 1717 Telemanns „Brockes-Passion“ (benannt nach dem Hamburger Ratsherren und Textdichter Barthold Hinrich Brockes) als Prototyp einer neuartigen „musizierten Passion“ aufgeführt worden, doch blieb dies ein singuläres Ereignis. Gemessen an Städten wie Hamburg, Lüneburg oder auch Weimar war Leipzig eher ein konservatives Terrain, wo man vor allem seitens des Klerus jener neu in Mode kommenden Gattung misstraute – insbesondere wegen ihres mitunter frei poetisierenden Textgehalts und ihrer üppig-konzertanten Ausstattung: „Behüte Gott ihr Kinder! Ist es doch, als ob man in einer Opera oder Comödie wäre.“
Demgegenüber versinnbildlicht die „Matthäus-Passion“ einmal mehr Bachs eigenes künstlerisches Ethos und die unbeugsame Haltung, mit der er an inhaltlichen Zielen festgehalten hat. Denn die jeweiligen Überarbeitungen der „Matthäus-Passion“ weisen nicht etwa aufführungspraktische Reduktionen auf, sondern – im Gegenteil – diverse Erweiterungen. Die bekannteste mag der hinzugefügte Choral „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ (Nr. 29) sein, jener ursprünglich zur „Johannes-Passion“ gehörende Satz, der hier nun zum großartigen Beschluss des Ersten Teils wird. Auch wiesen in der Frühfassung (1727 bzw. 1729) noch beide Chorhälften eine gemeinsame Continuo-Begleitung auf, und es waren außerdem im Eröffnungschor „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ Flöten und Oboen überwiegend unisono geführt. Der zweifache Basso continuo erforderte zur Verdeutlichung der insgesamt doppelchörigen Anlage zugleich eine weitere tragbare Orgel als Begleitinstrument. Diese wurde später (in der erwähnten nochmaligen Revision um 1742) durch ein Cembalo ersetzt, was allerdings gleichzeitig eine Verstärkung des Soprans in Chor II notwendig machte (Soprano in ripieno) und die Hinzufügung der Viola da gamba als zusätzlichem Continuo-Instrument in der Arie „Geduld! Wenn mich falsche Zungen stechen“ (Nr. 35) wie auch im vorangehenden Rezitativ „Mein Jesus schweigt“ zur Folge hatte. All das jedoch steht – wie gesagt – im Widerspruch zu den erwähnten Rahmenbedingungen, in denen sich der Thomaskantor Bach bewegte und welche ihn schon frühzeitig vom „Onus“ (Last, Bürde) solcher Geschäfte sprechen ließen. Die kompositorische Lust drohte demnach angesichts aufführungstechnischer Hindernisse oftmals zur Last zu werden und mündete schließlich in jene sogenannten Pasticcio-Aufführungen, bei denen Bach in seinen späteren Amtsjahren auf Versatzstücke von fremder Hand zurückgriff.
Was aber, so könnte die entscheidende Frage lauten, mag seinerzeit zu den angesprochenen Vorbehalten gegenüber einer „musizierten Passion“ geführt haben? War es womöglich jene angedeutete Angst vor Entfrommung und Säkularisierung? Spielte vielleicht auch jener seit Luther stets herrschende Zwist zwischen Klerus und Kirchenmusikern über die jeweilige Vorrangstellung mit hinein? Es kann zumindest kaum Zweifel darüber bestehen, dass Bachs „Matthäus-Passion“ weit mehr sein will als musikalisches Ornament zu liturgischem Ritus. Davon zeugt schon ihre doppelchörige Anlage, die ja nicht nur hinsichtlich der beiden Chöre überdimensional anmutet, sondern auch hinsichtlich der getrennt beziehungsweise dialogisch musizierenden Orchesterapparate. Dass hier programmatische Absichten zugrunde liegen, erfährt der Hörer gleich im Eingangschor der Passion, wo sich zum schleppenden jambischen Klagegesang beider Chöre und Orchester eine dritte Kraft hinzugesellt, nämlich der (im Autograph mit roter Tinte hervorgehobene) Cantus firmus „O Lamm Gottes, unschuldig“. Gerade durch diesen Choral, in der Thomaskirche von der zweiten Orgelempore aus gesungen – also von der Altarseite her – unterstreicht Bach sein Anliegen: Nicht länger soll sich das Passionsgeschehen in der Wortverkündigung erschöpfen, sondern es soll, durchaus im Sinne Luthers, als „mea res agitur“ wirksam werden: als meine persönliche Sache, die da verhandelt wird. Wobei gerade durch die räumliche Komponente ein „Hier und Jetzt“ erzielt wird, in dessen (akustischer) Mitte sich die Gemeinde selbst befindet. Diese Gemeinde emotional zu erreichen und zur Stellungnahme zu zwingen, gehört sicherlich zu den Zielen der „Matthäus-Passion“. Und wenngleich von ihrem personellen Aufgebot weitaus größer disponiert als die „Johannes-Passion“, ist doch ihr Gestus weniger „theatralisch“. Vielmehr zielt ihre Dramatik zutiefst nach innen. Deshalb scheint es auch wenig dienlich, die angesprochene doppelchörige Disposition in widerstreitende Parteien aufzuspalten, wie dies der Eingangschor „Kommt, ihr Töchter“ vielleicht zunächst nahe legt: hier der erste Chor, der den Klagegesang anstimmt und gewissermaßen das geistliche Zion repräsentiert, dort der zweite Chor, dessen Fragegestus („Wen?“ – „Wie?“ – „Wohin?“) die irdische Gemeinde verkörpert, die nach Orientierung suchende Schar der Gläubigen, und schließlich als Überbau und theologische Botschaft der Fernchor, dessen „O Lamm Gottes, unschuldig“ auf das himmlische Jerusalem verweist. Tatsächlich verschmelzen später beide Chöre zu einem interaktiven, polyphonen Geflecht, bei dem zwar weiterhin Chor I tendenziell der affirmative Part zufällt (Nr. 27b: „Sind Blitze, sind Donner“), während Chor II vorwiegend dem Fragegestus nahe steht, zersetzt von Zweifeln und Unverständnis (Nr. 27a: „Lasst ihn, haltet, bindet nicht!“). Vom Gesamtkonzept her gesehen ist Bachs Botschaft jedoch eine andere: Im Zentrum steht für ihn die Frage der Identifikation, des „Was geht es mich persönlich an?“. Hierauf zielen letztlich die vierstimmigen, von beiden Chören gesungenen Choräle ab. Sie holen das Geschehen zwischendurch immer wieder auf den Boden des Gemeindelebens zurück, repräsentieren sie doch das Vertraute und liturgisch Eingeübte. Gleichzeitig liefern sie aber auch den entscheidenden Querverweis auf die Aktualität des Passionsgeschehens, am deutlichsten nachvollziehbar vielleicht an jener Stelle, wo es choraliter heißt „Ich bin’s, ich sollte büßen“ (Nr. 10) – gewissermaßen als Antwort auf den vorausgehenden Chor der Apostel „Herr, bin ich’s?“. Dieser Part fällt hier Chor I zu, so wie an anderer Stelle Chor II in den vermeintlichen „Gegenpart“ mit einstimmt – eben entgegen dem theatralischen Prinzip („Sind Blitze, sind Donner“). Hier hat dann auch der bereits erwähnte, groß angelegte Choral „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ (Nr. 29) seinen überaus gewichtigen Platz – als Beschluss des Ersten Teils der Passion, dem bei den Leipziger Aufführungen jeweils die Predigt folgte. Erstmals sind hier beide Chöre und Orchester wieder vereinigt, wird also ein formaler Bogen zurück zum Eingangsstück geschlagen, in dessen Zentrum ja ebenfalls ein Gemeinde-choral (Soprano in ripieno) stand. In „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ ist die Melodie allerdings mit den anderen Teilen harmonisiert, befindet sich also in derselben Tonart E-Dur. Im Eingangschor dagegen steht dieser Cantus firmus mit seinem Verweis auf das unschuldige Gotteslamm in programmatischem Gegensatz: e-Moll, Bachs angestammte „Leidens-Tonart“, kontrastiert von einem basslos schwebenden G-Dur als sinnlich nachvollziehbarem Ausblick auf ein himmlisches Jenseits.
Den Verzicht auf den Bass setzt Bach in der „Matthäus-Passion“ mehrfach als Mittel zur Kennzeichnung irdischer Entrücktheit ein. Damit gehört er zu den vielen Korrespondenzen, die den Bauplan des Stückes prägen. Denn einer geradezu überbordenden Formenvielfalt – vom vierstimmigen Chorsatz über verschiedene Rezitativformen und Ariosi bis hin zu Arien, motettischen und madrigalistischen Sätzen, Turba-Chören und groß angelegten Choralbearbeitungen – steht hier eine äußerst konzentrierte Materialbegrenzung gegenüber. So schafft Bach etwa durch die fünfmalige Verwendung der Melodie des Kirchenlieds „Herzlich tut mich verlangen“ und die jeweils zweifache Benutzung von „Herzliebster Jesu“/“O Welt, sieh hier dein Leben“ eine subtile Ebene der Entsprechungen, die der dynamischen Entfaltung des Passionsberichtes sehr zugute kommt. Die vielleicht deutlichste Reduktion aber besteht in eben jenen continuofreien Passagen, die den Hörer – zumal den in barocker Generalbassästhetik geübten – plötzlich in eine andere Sphäre versetzen. Die Rede ist hier vor allem von der Duett-Arie „So ist mein Jesus nun gefangen“ (Nr. 27a) und der Sopranarie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ (Nr. 49): Beide sind im satztechnischen Sinne „bodenlos“ instrumentiert, also ohne Basso continuo, wobei die Duett-Arie noch dadurch dramatisch gesteigert wird, dass Solo-Sopran und -Alt von continuogestützten Choreinwürfen („Lasst ihn, haltet, bindet nicht!“) durch-
brochen werden. Weitere Bezüge stellt Bach durch das Weglassen bestimmter Elemente her, sei es der Verzicht auf ein einleitendes Arioso in den drei betrachtenden Arien (Nr. 8: „Blute nur, du liebes Herz!“ – Nr. 39: „Erbarme dich, mein Gott“ – Nr. 42: „Gebt mir meinen Jesum wieder!“), der Verzicht auf ein Dacapo und die dadurch erzielte Betonung des prozesshaften Charakters oder schließlich das Schweigen der Streicherstimmen, die bisher durchgängig die Jesus-Worte begleiteten, nicht aber im entscheidenden Satz „Eli, Eli, lama lama, asabthani?“ (Nr. 61a). Weshalb? Weil Jesus in diesem entscheidenden Moment den anderen Beteiligten gleichgestellt wird: als ein Mensch von Fleisch und Blut, ein Sterblicher wie du und ich, mit der allzu menschlichen Frage: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Über die Zusammenarbeit zwischen Bach und seinem Textdichter Christian Friedrich Henrici (1700–1764, genannt Picander) können kaum Zweifel bestehen, wobei es von den textlichen Vorentwürfen anno 1725 („Erbauliche Gedancken Auf den Grünen Donnerstag und Charfreytag über den Leidenden JESUM, In einem Oratorio Entworffen Von Picandern“) bis zur endgültigen zweichörigen Fassung noch ein weiter Weg war. Und wenn man heute, im Zeitalter mediengerechter Vermarktung, immer wieder darüber nachdenkt, wie man die „Matthäus-Passion“ publikumswirksam „aufbereiten“ könnte – von John Neumeiers Ballettidee über diverse Inszenierungsversuche bis hin zu anderen Verbeugungen vor der visualisierten Gesellschaft – so sollte man vielleicht bei Bach und Henrici selbst beginnen. Denn schon dort herrschte eine gewisse Uneinigkeit über die angemessene Umsetzung des Themas. Während Picanders Ansatz mehr auf eine Personifizierung der jeweiligen Parts abzielte, ging es Bach um theologisch hautnahe Vermittlung, um „aneignende Deutung“, wie es der Theologe Peter Kreyssig formulierte. Aneignung aber meint bei ihm Verinnerlichung statt äußeres Abbilden. Deshalb ist auch der Evangelist hier nicht einfach Erzähler oder Berichterstatter, sondern ein beteiligter Zeuge, so wie auch die Hörgemeinde nicht etwa eine Aufführung erleben, sondern existenziell mitten im Passionsgeschehen stecken soll.
Dies allerdings heute noch zu erreichen, erscheint schwierig: nicht nur, weil sich zeitgenössisches Konzertgeschehen längst vom Curriculum des Kirchenjahres abgekoppelt hat und es praktisch zu jeder (falschen) Jahreszeit und an jedem nur erdenklichen Ort möglich erscheint, die „Matthäus-Passion“ aufzuführen. Sondern insbesondere, weil es immer problematischer wird, einer konsumorientierten Gesellschaft den unbequemen Kern dieses Werkes näher zu bringen – „mea res agitur“ – und einen Gott, der offenbar nicht nur der „liebe Gott“ ist, sondern zugleich Dulder unendlicher Ungerechtigkeiten auf der Welt! Leiden, und wäre es nur das Absitzen der vierstündigen Passion auf harten Kirchenbänken, ist nicht mehr angesagt, die persönliche Identifikation ein Verstoß gegen moderne Verdrängung und Versachlichung. Insofern ist auch die Frage nach dem Schlussapplaus weniger eine ästhetische als eine inhaltliche, markiert sie doch die Trennlinie zwischen „Darstellern“ und Konsumenten.
Mit neueren Restaurierungstechniken trotzen Bachs Autographe den Jahrhunderten
Von Alexander Heinzel
Schwarze Tinte, einst bei Kerzenlicht mit dem Federkiel aufs raue Papier gekratzt: Linien, Balken, Notenköpfe und Verse wachsen schon beim ersten Betrachten zusammen zu einem filigranen Muster – Notenblätter von ganz spezieller optischer Harmonie, in der sich für jedermann sichtbar Kunst und Konstruktion, Kreativität und Intellekt durchdringen. Seiten, die dennoch kaum mehr als eine Ahnung davon vermitteln, welcher musikalische Kosmos sich im kalligraphischen Meisterwerk verbirgt. Bachs Notenhandschrift ist gezügelt schwungvoll, enorm verdichtet, aufs nötigste reduziert und dennoch vollendet eindeutig. Dass diese optische Harmonie wie so manch anderes Kleinod vom Zerfall bedroht ist, dieses Schicksal ereilte nicht wenige von Bachs Autographen – auch dasjenige der „Matthäus-Passion“. Wohl ist der gestrenge Thomaskantor als sparsamer Zeitgenosse einer minderwertigen Tinte aufgesessen (ohne zu ahnen, dass sie es sein würde), die bei etlichen seiner Notenhandschriften einen schleichenden und zunächst rätselhaften Prozess der Selbstzerstörung verursacht.
Dabei waren sich alle, die das kostbare Passions-Autograph ihr Eigen nannten, seines unermesslichen Wertes voll bewusst. Zunächst erbte die Handschrift Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel. Nach dessen Tod 1788 interessierte sich der erste Bach-Biograph Johann Nikolaus Forkel vor allem für die „Claviersachen“ aus dem Nachlass, die „Matthäus-Passion“ und andere Vokalwerke jedoch überging er achtlos. Nicht so der Musiker, Privatgelehrte und Musikaliensammler Georg Johann Poelchau (1773–1836), der über die Jahre die bedeutendste Kollektion an Bach-Autographen zusammentrug, die je ein Privatmann besessen hatte. Mit der Übersiedlung Poelchaus nach Berlin und seinem Wirken als Solist und Bibliothekar an der dortigen Sing-Akademie kam die „Matthäus-Passion“ dann in das Blickfeld des Zelter-Mendelssohn-Kreises. 1823 lag eine Abschrift der Passion unterm Weihnachtsbaum des kaum 15-jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy. Sie wurde später zur Grundlage für die legendäre erste Wiederaufführung der „Matthäus-Passion“. Poelchau indes versah das 83-seitige Autograph mit einem goldverzierten Ledereinband, der es wenigstens vor äußeren Einflüssen und mechanischer Zerstörung schützte. 1841, nach Poelchaus Tod, fuhr es dann schließlich in den vermeintlich sicheren Hafen institutioneller Obhut: das Musikalische Archiv der Königlichen Bibliothek zu Berlin.
Aber längst nahm das chemische Zersetzungswerk der minderwertigen Tinte seinen Lauf. Hässlich schlugen sich die Notenköpfe durch das empfindliche Material und ließen die Notenschrift der jeweiligen Rückseite unleserlich werden. Tintenfraß, so die dramatische Diagnose, drohte die Handschrift zu zerstören. Während in Berlin die ersten Bombennächte des Zweiten Weltkriegs die Bevölkerung in die Luftschutzkeller trieben, machte sich Hugo Ibscher, der Begründer der Papyrusrestaurierung und weltweit anerkannte Koryphäe auf seinem Gebiet („Papyrus-Doktor“), an eine waghalsige Rettungsaktion. Er rührte Reisstärke an und benutzte die klebrige Flüssigkeit, um die vom Zerfall bedrohten Seiten der Handschrift mit hauchfeiner, durchsichtiger Lyoner Chiffonseide zu überkleben und damit zu stabilisieren – was dem Papier Festigkeit gab, aber das ätzende Verhalten der Tinte nicht wesentlich beeinflusste. Als man sich 60 Jahre später in der Staatsbibliothek zu Berlin für eine grundlegende Restaurierung der Handschrift entschied, hatte man bereits ganz andere, noch stärker in die Substanz eingreifende Methoden an der Hand: Neben einer chemischen Neutralisierung der Tinte wurde die Technik des Papierspaltens entwickelt. Bevor man daranging, dem Tintenfraß damit zu Leibe zu rücken, mussten jedoch die alten Chiffonseiden wieder abgelöst werden. Dann wurden so genannte Trägerpapiere von außen aufgebracht, um in einem weiteren Arbeitsschritt das Papier wie ein Frühstücksbrötchen aufzuschneiden und die beiden Hälften ihrerseits wieder auf ein „Kernpapier“ aufzubringen. Löcher und Fehlstellen ergänzte man zusätzlich durch dünnes Zellulosepapier. In einem letzten Arbeitsgang wurden die provisorischen Trägerpapiere wieder entfernt. 2,5 Millionen D-Mark sammelte das Bach-Patronat des Vereins Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin bis 2003 ein, um neben der „Matthäus-Passion“ weiteren großen Bach-Autographen wie der h-Moll-Messe, den „Brandenburgischen Konzerten“ und dem „Weihnachtsoratorium“ zum Überleben zu verhelfen.